Die Gewalt des Sommers

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11.

Vor dem Lager fing Ralle ihn ab. Der dicke Junge hampelte aufgeregt herum, seine Backen zitterten, er stotterte: „Mensch, Alter, wo warst du denn? Ali ist stinksauer. Du weißt doch, dass du aus diesem Knast nicht ohne Erlaubnis rauskommst.“

Boris nickte nur und ging zum Zelt. Ralle begleitete ihn schnaufend. Er blieb zurück, als Ali geradewegs auf Boris zukam.

„Müssen reden, jetzt.“

Boris zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Er bereute, dass er losgegangen war. Dass er dem Mädchen begegnet war. Dass er zu wenig an den Kampf gedacht hatte. Er bereute einfach alles, was Ali verärgerte. Wie er Ali so durch den Waldgürtel auf dem Fuß folgte, kam ihm das Bild eines Hundes in den Sinn.

Ali war am Klippenrand stehen geblieben. Er schwieg, sah aufs Meer, das von einer Brise aus West gekräuselt wurde. Der Himmel hellte innerhalb weniger Sekunden auf, ohne dass die Sonne zum Vorschein kam. Ali drehte sich abrupt um, sah Boris in die Augen, dass er den Blick senkte.

„Enttäuscht, bin ich. Dachte, hättest begriffen, dachte ich.“

Die Worte und auch ihr Klang erschienen Boris knapper und kantiger denn je. Er wollte sprechen, Besserung beteuern, eine Erklärung abgeben, aber die Scham über sein Versagen verschlug ihm die Sprache. Der Pionierleiter wusste ohnehin alles, er wusste über die Jungen und Mädchen besser Bescheid, als sie selbst. Boris musste eben auf das hören, was Ali sagte, seinem Gesicht und seinem Körper ansehen, was sie ausdrückten.

„Kann auch anders“, sagte Ali. „Mach doch, was du willst, los doch.“

„Nein!“

Boris spannte alle Muskeln gegen das Zittern in sich an. Was hatte Ralle ihm von Matuschke erzählt, der nicht mehr boxen wollte? Ali hatte vor ihm ausgespuckt und war auf seinem Rennrad davongefahren. Ali würde sich nie nach einem Verräter umschauen. Das durfte Boris nie passieren.

Er hob die rechte Hand wie zum Schwur und sagte: „Ich werde alles tun, Ali. Alles.“

„So.“ Der Pionierleiter sah ihn abschätzig an. „Nicht bei der Sache, bist nicht. Mal hü, mal hott, wie ein Weib, eben. Weißt nicht, was ist.“

„Doch, Ali, ich weiß es. Ich werde siegen. Ich haue Kalinke weg.“

Ali winkte verächtlich ab. „Geht nicht um Kalinke. Geht nicht um dich. Nicht um mich. Geht um die Sache, geht es. Um Leben oder Tod. Amboss oder Hammer sein. Mit dem Dickbauch in der Sonne pennen, ist nicht. Nicht rumziehen, mit Ulrike Blau, schon gar nicht.“

„Ich weiß“, beteuerte Boris. „Ich zieh nicht mit ihr herum. Sie war nur – plötzlich da.“

„Ist das Problem, ist es“, sagte Ali. „Frauen. Sind immer plötzlich da. Was dann, was?“

Ali trat dicht an Boris heran, ließ seinen Blick über ihn gehen, als suchte er etwas. Es hatte den Anschein, diesmal sei er um eine Antwort verlegen. Ja, er suchte selbst danach. Auch Boris wollte eine Antwort. Gerade jetzt brauchte er sie. Sekundenlang blickten sie einander fragend an.

Ein Ruck ging durch Alis Körper, er legte Boris eine Hand auf die Schulter. Für einen Moment war es, als wollte er ihn an sich ziehen. Doch dann wandte er sich ab. Sie gingen nebeneinander zum Zeltplatz zurück. Ali sprach, als hätte er etwas nachzuholen, vom bevorstehenden Boxkampf, fragte nach Boris´ Befinden und erklärte noch einmal die bevorzugte Schlagkombination. Er ermahnte ihn, seine längere Reichweite zu nutzen. Mit dem Jab sollte er Kalinke auf Distanz halten und Punkte sammeln. Auf einen Knock-out sollte er erst gar nicht hoffen, Kalinke könnte eine Menge einstecken. Boris müsste mit Herz, vor allem aber mit Köpfchen boxen.

„Die Bretter küssen, kann jeder mal“, sagte der Trainer. „Siegt, der Luft hat. Hast Puste, wie ein Pferd, hast du.“

„Ja“, sagte Boris inbrünstig. „Ja, Ali.“

Nun brannte er für den Kampf, endlich, er war bereit, alles zu geben, auch sein Leben. Im Grunde war alles kinderleicht: Er musste siegen. Ali war nicht nur sein Pionierleiter und Trainer, er war sein Freund, sein großer Bruder. Wenn Ali ihn nicht fallen ließ, war alles in Ordnung. Boris´ Pflicht war es, Alis ihm gestellte Aufgabe zu erfüllen.

„Du stehst doch auf meiner Seite, Ali?“

„Halte zu dir“, antwortete Ali fest. „Wie zu Kalinke. Trainiere euch, beide. Ist nur gerecht.“

„Geht das denn, Ali?“

„Muss.“

„Ich meine – soll man sich denn nicht entscheiden?“ Kaum hörbar fügte er hinzu: „Für jemand – einen Menschen, dem man alles gibt?“

Die Muskeln in Alis magerem Gesicht arbeiteten. Zwischen den schmalen Augenbrauen war eine Kerbe, die Boris noch nie gesehen hatte. Konnte es sein, dass Ali mit etwas nicht fertig wurde?

Boris kam außer Tritt, er atmete befreit auf, als der Trainer gewohnt sicher sagte: „Ganz ruhig. Keiner kommt zu kurz. Hab´s im Griff, hab ich.“

Zurück im Zeltlager sagte Ali: „Ordentlichen Schluck jetzt, trink mal. Hau dich aufs Ohr, ein Weilchen. Dann leichte Gymnastik. Nicht nervös werden, kein Grund.“

„Ja, Ali. Ja.“

Als Boris ins Zelt schlüpfen wollte, hielt der Trainer ihn zurück. Er deutete einen Leberhaken an und sagte freundschaftlich: „Kriegen wir hin.“ Rückhaltlos fügte er hinzu: „Heißt: Sauber bleiben. Verstehst.“

„Verstehe, Ali“, beeilte sich Boris zu versichern. „Du kannst dich auf mich verlassen. Mein Pionierehrenwort. Ich gelobe es.“

12.

Das Zelt war leer, es roch nach abgestandener Luft, die Sachen waren klamm. Boris streckte sich auf seinen Schlafdecken aus, rollte sich dann auf die Seite, zog die Beine an und drückte die Stirn auf die Knie. Es kostete Überwindung, die Augen zu schließen. Bilder deckten sich wie beim Kartenspiel in schneller Folge auf. Gleich wendeten sie sich und zeigten das Gegenteil von dem, was sie ihn zuvor hatten erkennen lassen. Da war keine Ordnung reinzubringen. Der Wunsch nach Ruhe verstärkte nur seine Unruhe. Er schnellte hoch, zerrte eine leere Flasche aus dem Campingbeutel, lief zur Waschanlage, hielt den Kopf unter den Wasserstrahl und trank gierig. Er füllte die Flasche mit Wasser, sah ringsum und stieg unweit des Lagers in eine mächtige Kastanie.

Den Baum hatte wohl ein Blitz gespalten, im oberen Bereich strebte er in zwei Teilen auseinander. Es war, als seien sie ungleiche Geschwister, die Abstand voneinander brauchten. Vom mächtigen Stamm aber wurden sie in ihrem Grund zusammengehalten. Obwohl ihre Blätter in der Form einander gleich waren, war der Teil nach Süden hin dichter belaubt als der, welcher sich der Nordseite zuneigte, der wiederum ein kräftigeres Grün zeigte.

Zwischen den Baumteilen war eine Art Mulde entstanden, die Boris mit Grasbüscheln ausgepolstert hatte. Da hinein hockte er sich. Schon einige Male hatte er sich hierher zurückgezogen. Hier war er ungestört, konnte in das Lager einblicken und durch eine Waldschneise Himmel und Meer scheinbar aufeinandertreffen sehen. Er pflückte ein Blatt, legte es sich auf die Stirn und schloss die Augen. Wieder spürte er ihre Hand, leichter als das Blatt, und irritierend pulsierte ihre Wärme durch seinen Körper. Bevor er in ihr Gesicht blickte, öffnete er die Augen und setzte sich auf.

Schräg über ihm überraschte ihn der Himmel aufs Neue mit seinem Farbenspiel. Er war nie ohne Bewegung. Bei Windstille wirkte sein Blau wie auf eine riesige Leinwand aufgetragen. Aber immer fand Boris da hinein. Manchmal stieg er in einen Kahn, der für ihn bereitstand, und ließ sich treiben, ohne dass ihn jemand hätte aufhalten können.

Der Kahn lag auch heute für ihn bereit. Doch diesmal war es kein sanftes Dahingleiten, sondern ein Rütteln, als befände er sich in einem Handwagen, der über das Kopfsteinpflaster von Lerchau gezogen wurde. Das war ihm noch nie passiert, so oft er hier oben war. Enttäuscht ließ er den Blick hinüber zum Lager schweifen. Dort war es ruhig, hin und wieder kam aus dem Essenszelt oder einem der anderen Zelte ein Junge oder Mädchen, um sich zu vergewissern, ob die Sonne noch einmal herausgefunden hatte. Aus dem Lautsprecher am Waschplatz sang ein Kinderchor: „... Pi-o-nie-re wolln wir sein, ge-hen mit in eu-ren Reihn. So-zia-lis-mus ist´s al-lein, der zum Sie-ge führt! ...“ Die blaue Freundschaftsfahne mit dem Pionierabzeichen und der Aufschrift Für Frieden und Sozialismus – immer bereit! zuckte, noch schwer vom Regen, im aufgekommenen Wind.

Boris wollte sich wieder dem Himmel zuwenden, da sah er Ralle am Waschplatz aus dem Toilettenhäuschen kommen. Er musste die ganze Zeit über, in der Boris auf der Kastanie war, da drinnen gehockt haben. Ralle lief tollpatschig zur Waschanlage, drehte einen Wasserhahn auf, hielt ohne hinzusehen eine Hand darunter, die zurückzuckte. Den Kopf gesenkt suchte er die Gegend ab. Schließlich drehte er den knarrenden Wasserhahn wieder zu. Mit allerlei Gehabe, das ihn wohl unauffällig erscheinen lassen sollte, aber erst recht Aufmerksamkeit erregte, näherte er sich der Fichte mit dem Lautsprecher. Ralle bückte sich, rutschte aus einer Sandale, zog sie wieder an, ging ein paar Schritte in den Wald hinein, kehrte wieder zurück.

Boris hockte angespannt in der Gabelung des mächtigen Baumes. Was das da unten wohl werden sollte? Dieser Ralle war schon ein Kauz. Er war nicht wie die anderen Jungen, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit in eine Gruppe gehörten. Ali mochte Ralph Malisch nicht, er zählte ihn zu den Schwächlingen, die versagten, wenn es drauf ankam. Und doch fühlte sich Boris zu dem plumpen Jungen hingezogen.

Ralle streifte die Sandalen von den Füßen, spuckte in die Hände und versuchte ungeschickt die Fichte zu erklimmen. Er rutschte ab, sah sich abermals um und probierte es von neuem.

 

Boris meinte, den Jungen stöhnen und fluchen zu hören. „Du kommst da nie rauf, wetten“, sagte er halb mitleidig, halb belustigt. „Was soll das überhaupt, he?“

Ralle war ausdauernder als man es hätte vermuten können. Schließlich erreichte er doch die ersten Äste, worauf er erst einmal verschnaufte. Bald kletterte er weiter und verschwand unter dicht benadelten Zweigen. Nur das Schwingen des jeweiligen Astes, den er gerade verließ, zeigte an, dass er es wieder ein Stück höher geschafft hatte.

In der Fichte bewegte sich nun nichts mehr. Ein paar Augenblicke war es still, bis der Lautsprecher, aus dem gerade ein Lied verklungen war, blechern einsetzte: „Mein Bru - der ist Sol – dat im gro - ßen Pan – zer – wa – gen, und stolz darf ich es sa – gen ...“

Der Chorgesang unterbrach mit einem lauten Knacken. Die heftige Bewegung der Fichtenzweige verriet, dass Ralle ungewollt schnell auf dem Weg nach unten war. Etwas Schweres schlug dumpf auf dem sandigen Boden auf.

Ralph Malisch lag wie ein monströser Käfer auf dem Rücken und rührt sich nicht. Boris war hochgeschreckt. Dann aber zuckten Malischs Arme, die Beine, er hob den Kopf und stöhnte jämmerlich.

Ralle wälzte sich auf die Seite, schaffte es auf die Knie. Als jemand die Lichtung betrat, rappelt er sich hoch und schlug sich humpelnd ins Gebüsch.

Boris wollte hinterher, er musste ohnehin ins Lager zurück, da sah er, dass die Neuankömmlinge am Waschplatz - Kalinke und Ulli waren. Er drückte sich mit der Faust auf den Magen. Sein Herz wummerte. Geräuschlos stieg er vom Baum, verharrte, schlich dann doch näher an die beiden heran. Wohl war ihm dabei nicht. Was interessierte ihn schon diese Ulli. Kalinke würde er ohnehin bald vor die Fäuste bekommen.

Durch das borstige Gezweig einer Wildrose sah er die beiden unter dem Fahnenmast beieinanderstehen. Nicht zu nahe, aber auch nicht so weit voneinander weg, wie er es sich gewünscht hätte.

Kalinke schnaufte wie im Training, wenn er mit wütenden Schlägen den Sandsack bearbeitete.

Ulli zupfte an dem dünnen Drahtseil, das zur Fahne hinaufführte. Der Eisenmast klirrte. Sie sagte ebenso unwillig wie neugierig: „Also warum musst du mich unbedingt sprechen?“

Kalinke trat unter die Grasnarbe, hebelte ein Stück heraus und kickte es weg.

„Du, du hast dich wieder – mit dem getroffen!“

„Dem?“ Die Stimme des Mädchens klang schnippisch. „Demonstrative können sowohl als Artikelwörter wie als selbstständige Pronomen verwendet werden. Also Dativ Singular? Dativ Neutrum? Klär mich auf. Und mach´s kurz.“

Kalinke sagte verbissen: „Du weißt schon, wem ich meine.“

„Nicht wem“, verbesserte Ulli unnachsichtig. „Sondern: Wen du meinst.“

„Hör auf damit!“ Kalinke ergriff Ullis Handgelenk und hielt es fest.

„Und wenn nicht? Wirst du mich dann k. o. schlagen?“

„Du spinnst doch wohl!“

Kalinke gab erschrocken das Mädchen frei. Er trat einen Schritt zurück.

Dass Ulli sich nicht gewehrt hatte, ärgerte Boris. Warum eigentlich? Das ging ihn alles nichts an. Er hockte schließlich rein zufällig hinterm Busch. Zu blöd. An allem war überhaupt nur Ralle mit seinem komischen Gehabe schuld. Also konnte er sich auch wegschleichen. Er massierte sein Knie, als ob es verletzt wäre.

„Also, was ist?“ Ulli gähnte laut und rekelte sich, dass sich unter dem weißen Pulli ihre Brüste klein und fest abzeichneten.

Boris schoss das Blut in den Kopf. Kalinke erging es ebenso. Der Kerl starrte verdammt unverschämt auf Ullis Brüste. Boris hasste ihn dafür, seine eigene Schwäche aber verabscheute er.

Und das Mädchen – sie lächelte, aus den Augen, von den Lippen, der Stirn, den Wangen, so hatte Boris noch kein Mädchen lächeln gesehen.

Als Ulli die Arme fallen ließ, atmeten beide Jungen gleichzeitig tief ein. Kalinke schlug wuchtig in die Luft.

„Es ist“, sagte Kalinke in plötzlicher Wut, „dass du dich mit dem - mit diesem Versager getroffen hast!“

„Ich?“ Das Mädchen gab sich zutiefst erstaunt. „Ich kenne keinen Versager.“

„Du kennst den schon. Ich meine diesen - Boris. Sein Vater hat Republikflucht begangen. Mit seiner Mutter, was war da eigentlich? Sie soll ...! “ Kalinke verstummte und sagte dann: „Heute Abend werde ich ihn weghauen! Der wird nie wieder in den Ring steigen!“

„Nun hör aber auf“, rief Ulli. „Ja, woher willst du denn das alles wissen? Das mit seinen Eltern?“

„Ich habe meine Leute.“ Kalinke verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust.

„Horst, ich weiß. Der schnüffelt ja überall herum.“

„Der ist schon in Ordnung. Er ist - treu.“

„Klar doch. Wie ein Hund.“

„Jedenfalls kann ich mich schwer auf ihn verlassen.“

„Dein Schnüffler hat dir natürlich gesteckt, dass - wie heißt der, von dem du da redest, doch gleich?“

„Abendroth.“

„Dass ich ihm zufällig begegnet bin.“

Also war Boris in der Heide doch jemand gefolgt. Das Gefühl, nie unbeobachtet zu sein, häufte sich. Was der Großvater brummte, stimmt wohl: „Man muss halt mit allem rechnen.“

Kalinke, eben noch verlegen, hob die Stimme: „Du gibst also zu, dass du mit dem zusammen warst?“

Das Mädchen drehte sich um sich selbst, den Kopf im Nacken, die Arme ausgebreitet. Ihr blauer Rock hob sich, bildete eine bunte Glocke und ließ bis zu den Oberschenkeln die braunen Beine sehen.

Boris verschlug es den Atem. Dabei hatte er sie ja beim Baden schon fast nackt gesehen.

Das Mädchen, taumelig geworden, blieb ruckartig stehen, sie sagte bestimmt: „Ich kann zusammen sein, mit wem ich will.“

„Kannst du nicht. Ich bin dein Freund!“

„Wer sagt das denn?“

Ulli trat an Kalinke heran, sah ihn an, dass er den Blick senkte. Kalinke schluckte und murmelte: „Würdest - möchtest du - meine Freundin sein?“

„Ich meine – könntest – würdest du mit mir gehen - wollen?“

Boris spürte ein unerträgliches Brennen in den Handflächen. Er zog die blutigen Hände aus dem Hundsrosenbusch und drückte sie in den sandigen Boden.

„Ich?“

Ulli schüttelte wie über sich selbst erstaunt den Kopf, sagte auf Russisch: „Tschjort!“, was verflixt und Teufel hieß. Dann sagte sie: „Tja also – ich weiß ja nicht.“

In Boris flatterte es, sein ganzer Körper bebte. „Aber du weißt es doch!“, stieß er hervor. „Du musst es wissen!“ „Hast du denn was - gegen mich?“

Kalinkes Stimme, gewöhnlich blaffend, klang sanft. Ähnlich hatte Boris sie gehört, nachdem er Kalinke am Waschplatz versichert hatte, dass ihn das Mädchen nicht interessierte. Es war, als steckte in dem bulligen Körper noch ein anderer Junge, der sich gar nicht so sicher war.

„Ich?“

Boris ballte die Hände im Sand. Ulli wollte doch nur Zeit gewinnen. Sie sollte Kalinke abblitzen lassen. Warum nur kam er nicht weg von hier? Er war ja so ein verdammter Schwächling.

„Ich habe nichts gegen dich“, sagte Ulli. Sie ließ das Drahtseil rhythmisch an den Mast schlagen. „Es ist nur ...“

„Was ist? Sag´s mir. Bitte.“

„Ich weiß ja nicht. Du bist nicht so ...“

„Wie denn? Wie bin ich denn?“

„Ach, hör doch auf“, sagte Ulli. Sie lachte gepresst. „Ich weiß doch auch nicht. Wir werden´s ja sehen.“

„Was werden wir sehen?“

Boris hatte leise mitgesprochen.

„Bin ich vielleicht eine Wahrsagerin?“ Ulli lachte nun überdreht. „Bin ich etwa Kassandra, die den Trojanischen Krieg vorhergesagt hat? Du hast doch im Unterricht gut aufgepasst, Kleiner? Oder bin ich gar eine Pythia aus Delphi?“

Das Mädchen bewegte den Oberkörper geschmeidig wie eine Schlange, erstarrte in der Bewegung, verdrehte die Augen, als sei sie in Trance. Über ihre leicht geöffneten Lippen kamen unverständliche Laute. Sie tat, als käme sie langsam wieder zu sich, sah Kalinke streng an und sagte: „Nun deute mal, großer Priester, was ich da von mir gegeben habe.“

Kalinke, noch ganz unter dem Eindruck von Ullis Verwandlung, war baff.

„Vielleicht bin ich ja doch eine Pythia.“ Ulli warf den Kopf in den Nacken. Frech fügte sie hinzu. „Eine Jungfrau, wie die Pythien es wohl sein sollten, bin ich ganz gewiss noch. Das war´s dann aber auch.“

Wieder errötete Kalinke, er sagte: „Was? Ach so. Ja. Klar.“

Die Fanfare rief vom Lager her zum Sammeln. Boris wartete, bis sich zuerst Ulli und dann Kalinke zu den Zelten davonmachten. Dann taumelte auch er los. Nur gut, dass er bald zuschlagen konnte.

13.

Am Abend klarte der Himmel doch noch auf. Die niedrig stehende Sonne schien heiß und hell, als wollte sie ihr langes Ausbleiben noch wettmachen. Der Austragungsort des Kampfes war kurzfristig vom Pionierlager nach Dranske verlegt worden. In den Kultur- und Speisesaal des Gewerkschaftsheimes.

Ali gab bekannt, dass Kalinke und Boris den Vorkampf bestreiten würden. Die drei Hauptkämpfe würden von Genossen der hier ansässigen Grenztruppen ausgeführt. Für die Urlauber und die Einheimischen sei die Veranstaltung eine großartige Bereicherung des hiesigen Kulturangebotes.

Dschugaschwili drückte eine gerade angerauchte Zigarette aus und ergänzte kurzatmig: „Der Genosse 1. Sekretär der Insel hat sein Kommen zugesagt. Da bitte ich mir von den Pionieren ein geschlossenes Auftreten und disziplinarisch tadelfreies Verhalten aus.“

Der Lehrer sah sich mit seinem „Zickzack-Blick“ unter den strammstehenden Jungen und Mädchen um. Anstelle des Pionierleiters kommandierte er dünn: „Seid bereit!“

Der Chor antwortete kraftvoll: „Immer bereit!“ Ein Mädchen kicherte verhalten, weil ihre Nachbarin sie geschubst hatte.

„Abtreten!“, befahl Dschugaschwili mit sich überschlagender Stimme. Er drehte sich weg wegen einem seiner plötzlichen Hustenanfälle, die ihm anscheinend peinlich waren. Noch räuspernd zündete er sich eine neue Zigarette an.

„Verrecke!“

Boris drehte sich jäh um. Diese Feindseligkeit hatte er Ralle nicht zugetraut. Irgendwas stimmte mit Malisch nicht. Boris hatte selbst genug am Hals. Dschugaschwili war, wie er war. Irgendwie unheimlich. Manchmal auch beklemmend komisch. Nie lachte einer über ihn. Es hieß, er habe überall seine Hände drin. Bruno meinte: „Mit manchen Menschen kommt man am besten zurecht, wenn man ihnen aus dem Weg geht.“

Ali prüfte, ob alle ordnungsgemäß Pionierkleidung und das rote Halstuch trugen. An anderen Schulen war es inzwischen unüblich, dass Thälmannpioniere zu den Appellen Pionieruniform trugen. Doch der Pionierleiter achtete an seiner Schule und auch hier im Ferienlager weiterhin streng darauf. Er nickte knapp Dschugaschwili zu und befahl: „Abmarsch.“

Boris lief am Schluss des Zugs, der denselben Weg durch die Heide nahm, den er schon am Nachmittag gegangen war. Ulli befand sich in einer Gruppe von Mädchen, die immer einen Grund fanden, die Köpfe zusammenzustecken und sich vor Lachen auszuschütten. Manchmal sprang Ulli mit einem Jauchzer hoch und wandte Boris ihr erhitztes Gesicht zu. Die Spitze des Trupps bildeten Ali und Dschugaschwili. Obwohl sie auf gleicher Höhe gingen, war ein Abstand zwischen ihnen, der deutlich machte, dass sie eigentlich nicht zusammengehörten. Schon äußerlich waren sie ein ungleiches Paar. Lehrer Standke war um die eins neunzig groß. Unter dem zerknitterten Anzug mit dem polierten Parteiabzeichen am Revers schien sich ein Skelett zu verbergen. Das Gesicht war schmal, hatte eingefallene Wangen, eine hohe Stirn und ein Kinn wie ein Meißel. Das einzig Lebendige waren wohl die fiebrig glänzenden Augen. Über seinen straff nach hinten gekämmten gelben Haaren stieg Zigarettenqualm auf. Sein Hüsteln war für seine Schüler ein Warnsignal, sein röhrender Husten machte ihnen Hoffnung, dass es mit ihm bald ein Ende hatte. Dschugaschwili stakste wie auf Krücken, den Kopf gesenkt, als suchte er was.

Daneben wirkte Ali von hinten wie ein Junge aus dem Lager. Immer wieder drehte er sich unverhofft um und überblickte die Gruppe. Seine bei einem Kampf gebrochene Nase, die eigensinnig aufgeworfenen Lippen und der abschätzend strenge Blick machten ihn älter als er war. Sein Gesicht drückte bedingungslose Entschlossenheit aus. Manchmal kippte ihm eine wellige Haarsträhne in die Stirn. Das gab ihm, wenn er gut gelaunt war, etwas Pfiffiges. War er schlecht drauf, ließ es ihn verwegen erscheinen, was die Mädchen offensichtlich am liebsten mochten. Bisweilen war Alis Gesicht einfach nur müde, da sah er aus wie ein Alter, der sein Leben hinter sich hat. Schon im nächsten Moment ging von ihm eine Energie aus, dass das eben gesehene Bild augenblicklich vergessen war.

 

Vor den Schülern demonstrierten der Pionierleiter und der Lehrer Einigkeit. Bei Versammlungen und Feiern beteuerten beide, treue Kämpfer für Frieden und Sozialismus zu sein. Und doch war unschwer zu erkennen, dass sie einander im Grund spinnefeind waren. Was da wirklich zwischen ihnen war, wusste keiner. Aber es musste mehr sein, als dass der eine den anderen nur nicht mochte. Boris schwor auf Ali, er mied Dschugaschwili.

Ralle hatte sich zurückfallen lassen und trottete nun neben Boris. Keiner sagte was. Malisch hatte im Gesicht und an den Unterarmen rote Striemen. Er zog ein Bein nach, was seinen watschelnden Gang noch linkischer machte.

„Hallo, Alter. Du lachst doch nicht etwa?“, sagte Ralle erleichtert. „Ich dachte schon, du bist sauer wie ein Liter Essig.“

„Ich lache nicht“, entgegnete Boris scharf. „Du bist ein Spinner.“

„Also bist du doch sauer.“

„Muss ich ja“, sagte Boris nach einigen Schritten.

„Musst du nicht.“ Ralle bot Schokolade an, die Boris kopfschüttelnd ablehnte. „Du haust dem Kalinke deine Handschuhe aufs Auge, dass er umfällt. Dann bist du der King. Und alle lieben dich.“

„Hör auf mit dem Scheiß.“

„Ist keiner, Alter.“

„Ist es doch.“

Boris zog die Sandalen aus und lief barfuß weiter. Ralle tat es ihm nach. Das Heidekraut dampfte, es strich angenehm kratzig um die Knöchel. Der sandige Boden war warm und schien zu federn. Schwalben schossen auf sie zu und bogen so knapp vor ihnen ab, dass sie meinten, ihre Flügel hätten sie berührt. Wenn das Meer in der Ferne zu sehen war, blieb Ralle stehen, hielt schützend die Hand über die Augen und seufzte.

„Du hinkst ja“, sagte Boris. „Dein Gesicht und deine Arme sehen aus, als hätte dich ein Mähdrescher überfahren.“

Ralle betrachtete seine Unterarme und tastete sein Gesicht ab, als wüsste er nichts von den Verletzungen.

„Wie ist denn das passiert?“

„Hm“, machte Ralle. „Vielleicht haben wir im Zelt ja Flöhe. Im Traum ist der Mensch nicht für sich verantwortlich. Da kratzt man sich schon mal, wenn´s juckt.“

„Du lügst doch! Ich weiß alles.“

Ralle pfiff vor sich hin, die Töne fanden nicht zusammen.

„Was weißt du denn?“, fragte Ralle tastend.

„Ich war zufällig in der Nähe.“

„Und?“

„Warum machst du so was?“

Ralle schwieg, dann sagte er störrisch, ja wütend: „Dieser Klapperkasten nervt doch!“

„Das ist - Sabotage!“ Boris war unwillkürlich in Dschugaschwilis beunruhigende Fistelstimme verfallen. Er hustete, sagte einlenkend: „Das bringst du wieder in Ordnung, klar. Aber ganz schnell.“

Ralle war stehen geblieben. Boris ging zu ihm zurück. Sie standen sich gegenüber wie Fremde. Das war nicht mehr der weiche, nachgiebige Junge, der da Boris´ Blick standhielt. Das war einer wie Kalinke, vielleicht noch entschlossener, wobei er nicht auf schnelle Fäuste und harte Muskeln vertrauen konnte.

„Niemals“, erwiderte Ralle gepresst. „Das nächste Mal reiße ich die Berieselungsanlage ganz runter.“

„Tunte!“

Boris stieß mit der Stirn gegen die seines Gegenübers.

„Na los, hau doch zu! Mach schon!“

Malisch hielt mit seiner Stirn dagegen. Seine Augen waren groß und weiß, in der Mitte mit dunklen in die Tiefe gehenden Kreisen, wie Murmeln, mit denen Boris früher gespielt hatte. In den Pupillen sah er zwei Gesichter, in jedem Auge eins, es mussten seine sein.

Boris zog den Kopf zurück, er sagte: „Ich muss dich melden. Das ist klar.“

„Klar.“

Malisch stapfte mit schwingenden Armen los, um zu den anderen aufzuschließen.

Boris überholte den Jungen, drückte sich an Ulli vorbei, die auflachte, dass er kurz stockte. Hinter Kalinke und Horst reihte er sich ein. Ali drehte sich um, sein Blick streifte ihn und strich dann über die Kolonne. Der Trainer lief stumm neben dem paffenden Lehrer weiter.

Boris´ Beine waren steif, die Schritte ungelenk, er versuchte, sie in einen gleichmäßigen Rhythmus zu bringen, was ihm schließlich auch gelang. Sollte er Malischs Vergehen wirklich Ali melden? Er war ja schließlich nicht mit Ralph Malisch befreundet. Ali war sein Freund. Der einzige. Es wäre Verrat, wenn er Ali gegenüber schwieg. Erst einmal musste er den Kampf gewinnen. Ali sollte wissen, dass auf ihn Verlass war. Schließlich konnte Boris sich auch auf Ali verlassen. So war das unter Freunden. „Alles ganz einfach, ist es. Musst nur begreifen, musst.“

Sie hatten das Fischerdorf erreicht. In der untergehenden Sonne empfing der Ort sie ebenso öde, wie Boris ihn auch schon vorher angetroffen hatte. Am Bodden, an dem Strandstück vor dem Ferienheim, jagten Kinder einem bunten Wasserball hinterher. Von ihnen unbeachtet saß in sich zusammengesunken noch immer der Mann auf dem Stuhl, dessen Füße sich anscheinend ein Stück tiefer in den Sand gebohrt hatten. Der Alte, es konnte kein junger Mann sein, wirkte nicht lebendig, aber auch nicht wie eine mit Männersachen ausstaffierte Puppe. Als er dann diese wischende Handbewegung machte, hatte die zugleich etwas Menschliches wie Maschinelles. Am äußeren Ende des Bootsstegs saßen zwei Angler, die Rücken gekrümmt, einen Kasten Bier zwischen sich. Der Fischkutter gleißte rot und gelb, als stände er in Flammen. Die Boote lagen zur Seite gekippt auf dem schmalen Uferstreifen. Aus dem Wasser ragten hier und da Stangen, auf denen Möwen hockten, als gluckten sie ohne Nest. Ohne die herumspringenden Kinder hätte man meinen können, auf eine ins Unendliche führende Ansichtskarte zu blicken.

„So ein Kaff“, sagte Horst, der an einem kratzenden Transistorradio drehte, zu Kalinke. „Nur gut, dass du hier gleich für Stimmung sorgst.“

„Quatsch nicht“, rüffelte Kalinke. Im Vorbeigehen zischte er Boris zu: „Du hast dein Versprechen nicht gehalten, du Hund. Nun mach ich dich fertig.“

Boris drehte sich weg. Es war sinnlos, Kalinke erklären zu wollen, dass er die Begegnung mit dem Mädchen nicht gesucht hatte. Bruno hatte schon recht, wenn er sagte: „Die Leute hören doch nur, was sie hören wollen. Also sag´s ihnen. Besser noch, du hältst die Gusche.“ Der Großvater hatte sich geräuspert und hinzugefügt: „Es ist so, die kleinen Leute fallen immer wieder drauf rein, was die falschen Propheten ihnen predigen.“

„Was ist denn ein Prophet?“, hatte Boris nachgehakt.

„Zum Beispiel der Jesaja aus dem Alten Testament“, hatte Anna aus dem Küchenfenster gerufen. „Jesaja sagt, dass Gott nur die retten wird, die allein ihm vertrauen.“

Bruno hatte abgewinkt und geknurrt: „Ein falscher Prophet ist einer, der vorgibt zu wissen, was für alle gut und richtig ist.“

„Und was ist das, Großvater?“

„Käse ist´s“, hatte Bruno gerufen, dass es auch Anna hören musste. „Einer, der zum Himmel stinkt.“

Der Großvater hatte einen tiefen Zug aus dem braunen Zigarrenstummel genommen und den bleiernen Qualm in alle Ecken des Schuppens geblasen.

Die Doppeltür des Ferienheims war weit geöffnet. Auf dem breiten Treppenaufgang standen Feriengäste und klatschten. Ali ließ die Gruppe antreten und dreimal den Pioniergruß mit gesteigerter Lautstärke rufen. Im Gebäude spielte gängige Schlagermusik. In der Küche klapperte Geschirr.

Boris suchte den Blick des Trainers. Ali wusste, was für Boris gut war. Er war bestimmt kein falscher Prophet. Er war nicht Jesaja aus Großmutters Bibel, die fast mehr Merkzeichen als Seiten hatte. Ali war jung und stark. Unbesiegbar. Er brauchte Gott nicht.

Drei Lastwagen fuhren mit dröhnenden Motoren auf dem weitläufigen Platz vor. Hier parkten auf dem Schotter schon einige Autos von Urlaubern und Mopeds. Soldaten in Ausgehuniform sprangen, einander laut zurufend, von der Ladefläche. Ali hatte im Lager informiert, dass sie hier mit der Grenzbrigade „Fiete Schulze“, benannt nach einem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und Kampfgefährte Ernst Thälmanns, zusammentreffen würden. Ein Offizier und der Pionierleiter schüttelten einander fest die Hände. Sie lachten, als sähen sie sich nicht zum ersten Mal. Der Kopf einer jungen Frau erschien für einen Moment an einem der Küchenfenster. Ein übermütiger Jodler schwang sich zu den Soldaten hinüber. Die Musik von drinnen wurde noch lauter, mehr und mehr Urlauber drängten vor die Tür. Aus dem Dorf kamen Jugendliche zu Fuß und auf Rädern. Auch ein paar Alte, deren runzlige und gebräunte Gesichter an Gemälde erinnerten, hatten sich eingefunden.

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