Aus den Akten der Agence O

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From the series: Red Eye
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Der Schuppen am Teich
I Wo Torrence und sein Fotograf Émile sich trotz arktischer Kälte und in einer wenig einladenden Landschaft auf die Suche nach einer Leiche machen

»Verdammter Beruf, Saftladen, verdammter«, knurrt Torrence, als er an Longjumeau vorbeifährt und ein gemütliches kleines Bistro bemerkt, dem er einen sehnsüchtigen Blick zuwirft. In der Nacht ist das Thermometer auf etwa zwanzig Grad minus gefallen. Es ist zehn Uhr morgens. Der Himmel fahl, die Schottersteine von eisigem Weiß, Torrence’ Nase beunruhigend violett. Er sitzt allerdings auch in einem kleinen offenen Auto und muss alle paar Kilometer die Eisschicht abkratzen, die sich auf der Windschutzscheibe bildet.

»Von welchem Laden sprechen Sie?«, fragt sein großer, magerer Reisegefährte freundlich, der fabelhafte Émile, der einen riesigen Fotoapparat mit sich schleppt.

»Von der Agence O, mein Gott! Hätte uns der Chef nicht wenigstens ein anständiges Auto geben können?«

Und Émile seufzt theatralisch:

»Ich frage mich, ob der Chef nicht recht hat … Gewisse Leute, vor allem solche, die ein wenig breit sind und den guten Dingen gern zusprechen, scheinen ärgerlicherweise die Neigung zu haben, in allzu bequemen Fahrzeugen am Steuer einzuschlafen …«

Das gilt dem kräftigen, sanguinischen Torrence. Was den Chef der berühmten Detektei Agence O betrifft, so würde alle Welt wohl staunen zu erfahren, dass das niemand anders ist als der Fotograf Émile, der sich so bescheiden gibt und nur in abgetragenen Kleidern herumläuft.

»Entweder ist dieser Anruf eine Finte«, knurrt Torrence, weil er an diesem Morgen offenbar mit dem falschen Fuß aufgestanden ist, »oder wir haben es mit einer verrückten Alten zu tun …«

Jedenfalls ein sehr seltsamer Anruf. Torrence saß in seinem schönen warmen Büro. Émile befand sich in seinem kleinen Hinterzimmer, von wo er alles sehen und alles hören konnte, und war dabei, sorgfältig einen Bleistift zu spitzen. Das Telefon klingelte. Sie nahmen gleichzeitig ab, denn sie hatten eine gemeinsame Leitung.

»Hallo … Agence O? Kann ich mit Inspektor Torrence sprechen?« Torrence trug nämlich für viele immer noch seine alte Amtsbezeichnung der Kriminalpolizei, wo er lange der Mitarbeiter Maigrets gewesen war.

»Hallo, ja, am Apparat …«

»Warten Sie, ich muss erst sicher sein, dass er immer noch da ist …«

»Hallo? Von wem sprechen Sie?«

»Ich schaue kurz aus dem Fenster … Ja, ich sehe ihn … Wundern Sie sich nicht, wenn wir plötzlich unterbrochen werden, und vor allem, rufen Sie nicht zurück … Hier ist Marie Dossin … Ja, mit zwei s … Maison du Lac, bei Ingrannes, im Wald von Orléans … Die Leute hier halten es für ein Schloss, sie nennen es Château du Lac … Sie müssen kommen, aber bitte versprechen Sie mir, dass Sie der Polizei nichts sagen! Heute Morgen habe ich eine Leiche im Schuppen entdeckt … Hallo?«

»Ich höre …«

Unterdessen schreibt Émile, der alles genau nimmt, ein stenographisches Protokoll dieser seltsamen Mitteilung.

»Hallo! Mein Mann darf nicht wissen, dass ich mit Ihnen spreche … Ich beobachte ihn die ganze Zeit aus dem Fenster … Er weiß nicht, dass ich es weiß, verstehen Sie?«

»Um wessen Leiche handelt es sich?«

»Ich glaube … Ich habe sie nicht deutlich gesehen, es war halb dunkel, aber ich glaube, es ist die von Jean Marchons, einem Freund von uns. Er hängt an einem Balken …«

»Hm … Also ein Suizid?«

»Ich weiß nicht … Ich glaube nicht … Kommen Sie … Bevor Sie zum Schloss kommen, gehen Sie zum Schuppen, direkt am Ufer des Teichs. Sie werden ihn ganz leicht finden. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich habe Angst … Achtung! Ich glaube, er kommt zurück …«

Arpajon … Étampes … Pithiviers … Sie haben den Eindruck, allein auf der Straße zu sein, und wenn doch einmal ein Wagen überholt, sind es Pariser auf dem Weg zur Entenjagd. Der Wald ist alles andere als einladend, mit seinen schwarzen Stämmen, die sich vor dem Weiß des Himmels abzeichnen. Nachdem sie das Auto neben der Kirche von Ingrannes geparkt haben, betreten die beiden Männer den Gasthof.

Vielleicht ist dieser Landstrich zu anderen Zeiten einnehmender, aber bei dem derzeit herrschenden Wetter wirkt alles nur schwarz und weiß wie ein Trauerbrief, und die Alte, die ihnen den Rum bringt, ist auch kein erfreulicher Anblick.

»Das Schloss am See? Biegen Sie bei der nächsten Kreuzung links ab, fahren Sie zum Wald des Gehängten Wolfs …«

Sieh an! Man hängt hier sogar Wölfe!

»Kennen Sie Monsieur Dossin?«

»Warum sollte ich ihn nicht kennen?«

Die beiden Männer tauschen bei dieser ziemlich unerwarteten Antwort einen Blick.

»Und Madame Dossin?«

»Was wollen Sie von Madame Dossin?«

»Nichts … Wir werden ihr vielleicht einen Besuch abstatten. Wohnen die beiden schon lange hier?«

»Kann sein …«

»Ein Freund der beiden, Monsieur Jean Marchons, hat uns gesagt …«

Sie verzieht keine Miene, beide Hände liegen auf ihrem runden Bauch.

»Sie kennen Monsieur Marchons?«, fragt Torrence hartnäckig weiter.

»Man kann nicht alle Leute kennen.«

Nach diesem überwältigenden Erfolg fahren sie in ihrem kleinen Auto mit knirschenden Reifen auf dem hart gewordenen Schnee der Forststraßen dahin. Die Heizung qualmt wie eine Lokomotive. Von Zeit zu Zeit kommen sie auf der vereisten Fahrbahn ins Schleudern.

»Sehen Sie irgendwo ein Schloss?«

Eine halbe Stunde lang drehen sie sich im Kreis und landen schließlich wieder auf dem Hauptplatz von Ingrannes, wo sie beschließen, mit einem zweiten Glas Rum gegen die Kälte anzukämpfen.

»Na? Haben Sie ihn gesehen?«, fragt die Wirtin, die so aussieht, als würde sie höchstens ein Mal pro Jahr lächeln.

»Wen?«

»Monsieur Dossin … Gerade ist er hinausgegangen …«

»War er allein?«

»Warum sollte der Mann nicht allein sein? Ich habe ihm gesagt, dass er Besuch bekommt.«

Diesmal fragen sie eingehender nach dem Weg, und nach ein paar Minuten sehen sie die zugefrorene Fläche eines recht großen Teichs, dem man die eindrucksvollere Bezeichnung See gegeben hatte. Rechts davon, hinter einem Tannenwald, entdecken sie die Schieferdächer eines offenbar recht großen Anwesens. Dort bellt ein Hund, als sich das Auto nähert.

Torrence’ Laune hebt sich nicht. »Was sollen wir machen?«, fragt er unschlüssig.

Der berühmte Detektiv ist an diesem Morgen entschieden nicht in Hochform, und bei Émile sieht es nicht besser aus.

»Wir klingeln«, entscheidet Émile. »Die Alte hat ja schon Bescheid gegeben, dass wir kommen.«

»Aber Madame Dossin hat doch am Telefon gesagt …«

Émile zuckt mit den Schultern, steigt aus und geht zu einem schmiedeeisernen Gittertor, wo sich die Klingel befindet. Auf der anderen Seite des Zauns kommt ein Hund angelaufen, der wütend nach Émiles Mantel schnappt.

»Ist jemand da?«, schreit Émile. »Ist denn niemand zu Hause?«

Zwei Mal, drei Mal klingelt er, ohne Ergebnis, oder vielmehr mit dem einzigen Ergebnis, dass der Hund sich geradezu tollwütig gebärdet. Plötzlich sagt eine Stimme neben ihm, so dicht neben ihm, dass er zusammenzuckt:

»Sie wünschen?«

Der Mann, der da steht, kommt nicht aus dem Haus, sondern aus dem Wald. Er ist um die fünfzig, vielleicht etwas älter, sein Bart ist mit grauen Strähnen durchzogen. Er trägt Stiefel, Jagdkleidung und eine pelzgefütterte Jacke, die ihm ein herrschaftliches Aussehen verleiht.

»Mein Chef wünscht …«, stottert Émile und dreht sich zu dem kleinen Auto um, dessen Motor immer noch läuft.

Aber was wird Torrence sagen können? Er steigt aus. Er hustet. Er beginnt:

»Ich hatte erwartet, Madame Dossin hier anzutreffen, die mich beauftragt hat …«

»Meine Frau liegt im Bett«, bemerkt der Herr des Château du Lac recht trocken.

»Es tut mir leid zu erfahren, dass Madame Dossin krank ist. Nichts Schlimmes, hoffe ich?«

Der Schlossherr antwortet nicht, doch seine Haltung sagt deutlich:

»Ich sehe nicht, was Sie die Gesundheit meiner Frau angeht.«

Und er wartet.

»Chef …«, meldet sich Émile, der voraussieht, dass Torrence im nächsten Moment ratlos umkehren wird. »Sie wissen, dass ich mich leidenschaftlich für solche malerischen Orte interessiere. Da Sie ihr Freund sind, das heißt, da Sie Madame Dossin von früher kennen, könnten Sie ihren Mann vielleicht um die Erlaubnis bitten, diesen Schuppen zu fotografieren, den ich unten am Teich sah? Mit diesem schummrigen Licht, den Lichtreflexen auf dem Eis, ich glaube, ich könnte …«

Stirnrunzelnd blickt Monsieur Dossin von einem zum anderen, und ohne die Hand von dem Schlüssel zu nehmen, den er eben in das Schloss im Gittertor gesteckt hat, sagt er:

»Fotografieren Sie, was Sie wollen.«

Er hat ihnen nicht den Hund auf den Hals gehetzt. Das ist schon einmal gut! Ohne sich weiter um sie zu kümmern, überquert er den großen Hof, und sie sehen, wie er mit schwerem Schritt langsam die Stufen der Freitreppe hochsteigt.

»Seltsames Haus …«, knurrt Torrence. »Was machen wir?«

»Mein Gott, wir fotografieren …«

»Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass uns hier jemand einen bösen Streich gespielt hat.«

»Ich nicht …«

Sie sind jetzt am Teich. Der Schuppen sieht aus wie jeder andere Schuppen am Ufer irgendeines Teichs. Wahrscheinlich dient er der Aufbewahrung von Booten und Angelgerät. Émile nimmt an, dass der Schlossherr sie von einem Fenster aus beobachtet, und spielt, so gut es geht, seine Fotografenrolle.

»Wenn da drin wirklich einer aufgehängt ist …«

 

Er nähert sich dem Schuppen. Die Tür hat kein Schloss, keinen Riegel, keinerlei Absperrvorrichtung. Er drückt dagegen. Die Bretter haben sich gelockert und lassen ein wenig Licht herein. Ein alter Kahn fault vor sich hin.

»Was hab ich Ihnen gesagt?«, sagt Torrence, der hinter Émile eingetreten ist, mit einem hämischen Lachen.

Kein Erhängter. Nicht einmal der Schatten eines Erhängten. Keine Spur eines Stricks zum Aufhängen.

»Wenn ich wüsste, wer zum Teufel für diesen Anruf verantwortlich ist …«

Torrence kann sich nicht beruhigen. Émile hingegen untersucht den Ort mit Engelsgeduld.

»Können Sie mich mal auf Ihre Schultern heben, Chef?«

So erreicht er den Deckenbalken, an dem ein dicker Haken aus Eisen befestigt ist. »Haben Sie den Gehängten gefunden?«, fragt Torrence feixend?

»Noch nicht. Aber dieser Haken sollte verrostet sein und ist es nicht, jedenfalls nicht an der Stelle, wo der Strick ihn blank gerieben hat.«

»Welcher Strick?«

»Der Strick, den jemand weggenommen hat … Sie können mich wieder herunterlassen. Das ist nicht überwältigend, aber es ist besser als nichts. Wenn dieser Eisenhaken nicht vor Kurzem benutzt worden wäre, wäre er völlig verrostet, so aber ist er es nur dort, wo die Oberfläche nicht abgerieben wurde … Was ist in dieser Kiste?«

Torrence beugt sich hinunter.

»Werkzeug. Aber in einem erbärmlichen Zustand, es wird bestimmt nicht oft benutzt.«

Eine Säge, Nägel, Angelhaken, Eisenringe, ein Durcheinander, wie man es in jedem Haus auf dem Land findet. Alles ist verrostet. Émile untersucht auch diese Dinge sorgfältig. Er zieht eine Lupe aus der Tasche und betrachtet damit eingehend einen schweren Hammer. Er murmelt:

»Hier ist jedenfalls etwas, das benutzt wurde …«

Am eisernen Kopf des Hammers kleben ein paar verklumpte Haare, wie von einem eingeschlagenen Schädel.

Torrence ist nicht überzeugt.

»Ich dachte, wir würden einen Gehängten suchen. Sollte man Leute neuerdings hängen, indem man ihnen Hammerschläge verpasst?«

Émile springt auf. Er hat etwas gesehen und eilt auf die andere Seite des alten Kahns. Er schwenkt eine Zeitung, eine Lokalzeitung. Er sucht nach dem Datum – und triumphiert:

»Das ist die Zeitung von heute. Das heißt, jemand hat kurz vor uns diesen Schuppen betreten, denn soweit ich weiß, trifft die Zeitung nicht vor neun oder zehn Uhr morgens in Ingrannes ein. Wir sollten Madame Dossin einen Besuch abstatten.«

»Man wird uns nicht einlassen.«

»Irgendwie müssen wir es schaffen, Chef. Wir müssen uns unbedingt mit dieser Dame unterhalten, die solche mysteriösen Anrufe tätigt …«

Zehn Minuten später, nachdem Émile den Eisenhaken fotografiert und die Zeitung an einem sicheren Ort verstaut hat, stehen die beiden Männer erneut am Zaun des Schlosses, und der Hund bereitet ihnen denselben Empfang wie zuvor.

Sie klingeln ein Mal, zwei Mal … Auf einmal bemerkt Émile in einem Fenster des ersten Stocks das Gesicht einer Frau, das, vermutlich wegen der beschlagenen Scheibe, ungesund blass zu sein scheint.

»Sehen Sie, Chef? Man könnte meinen, sie würde uns Zeichen geben.«

Das stimmt. Aber was will sie mit ihren Zeichen sagen? Ihre Handbewegungen sind schwer zu deuten. Sie scheint auf etwas zu deuten. Auf den Schuppen? Aber sie kommen doch gerade von dort! Auf etwas, was weiter weg ist? Hinter dem Schuppen ist nur der Teich. Und der Teich ist zugefroren. Will sie vielleicht sagen, dass der Gehängte ins Wasser geworfen wurde? Das ist unmöglich. Was dann?

»Klingeln Sie noch einmal!«

Oberhalb der Treppe öffnet sich die Tür. Da steht der Hausherr, eine Pfeife im Mund, und betrachtet sie von Weitem. Wird er kommen, um das Gittertor zu öffnen, oder wird er sie einfach stehen lassen? Das wäre für zwei berühmte Detektive recht beschämend.

Er scheint nachzudenken, zu zögern. Schließlich dreht er sich um. Er ruft ins Haus hinein.

»Es würde mich nicht wundern, wenn wir ein paar Schrotkugeln abbekämen«, bemerkt Torrence.

Aber nein. Auf den Ruf seines Herrn hin taucht ein livrierter Diener auf. Der Herr sagt etwas. Der Diener überquert den Hof, einen großen Schlüssel in der Hand.

»Wenn die Herren bitte eintreten würden … Monsieur Dossin bittet mich, Ihnen zu sagen, dass Sie doch angesichts der Kälte Ihren Wagen lieber in die Garage fahren sollten …«

Torrence mag das gar nicht. Diese unvermittelte Fürsorglichkeit beunruhigt ihn etwas.

Wenn das Auto erst einmal in der Garage steht, jenseits dieses Gittertors, das sich so schwer öffnen lässt, wer weiß, ob sie dann das Schloss noch verlassen können, wenn es ihnen passt?

»Los!«, flüstert Émile ihm zu.

Zwanzig Kilometer von Paris entfernt, fünfzehn Kilometer von Pithiviers entfernt – übrigens hat sich Torrence vorgenommen, auf der Rückfahrt eine Täubchenpastete zu erstehen, eine Spezialität der Gegend –, man könnte meinen, sie befänden sich am verlassensten Ort der Welt.

Der Hund knurrt weiter, aber leise, während er den Fotografen beschnüffelt.

Der Hausherr steht immer noch in recht vornehmer Haltung oberhalb der Treppe und erwartet sie. In der Garage stehen schon zwei Autos, ein großer amerikanischer Wagen und ein kleiner, wahrscheinlich für die alltäglichen Besorgungen.

Als die beiden Männer vor Monsieur Dossin stehen, fragt dieser sehr huldvoll:

»Dürfte ich erfahren, meine Herren, wer von Ihnen der berühmte Detektiv Torrence ist?«

Torrence verbeugt sich, aber ihm ist nicht wohl dabei. Wer kann ihm verraten haben, wer sie sind? Sein Name ist nicht im Auto zu finden, das man hätte durchsuchen können, während sie im Schuppen waren.

»Ich wusste nicht, mit wem ich die Ehre hatte … Mein bescheidenes Heim steht Ihnen offen. Darf ich Sie bitten einzutreten?«

Was das bescheidene Heim betrifft, so finden die beiden Männer überaus komfortable und angenehm temperierte Räumlichkeiten vor. Es handelt sich zwar nicht um ein prunkvolles Schloss, aber um ein großzügiges Landhaus, in dem alles vorhanden ist, was man für ein komfortables Leben benötigt. Sie werden in eine eichengetäfelte Bibliothek geführt. Im Kamin prasselt ein Feuer. Die Sessel sind mit hellem Leder überzogen und zwischen den Teppichen sind herrliche antike Fliesen zu sehen.

»Ich habe gerade erst erfahren, dass meine Frau Sie heute Morgen angerufen hat.«

Also hat er sich auf dem Postamt erkundigt. Dort hat er die Nummer erfahren, die seine Frau in Paris verlangte.

»Setzen Sie sich doch bitte. Vielleicht ein Gläschen Armagnac, bei dieser Kälte?«

Eine ehrwürdige kleine Flasche, die Gläser aus geschliffenem Kristall. Der Diener ist verschwunden, und der Gastgeber gibt sich herrschaftlicher denn je, doch ein Schatten von Traurigkeit umgibt ihn, wie den Männern nicht entgeht.

»Ich muss offen sagen, meine Herren, dass ich, als ich Sie heute Morgen, bei Ihrem ersten Besuch, so wenig willkommen hieß, meine guten Gründe hatte, genauer gesagt, einen einzigen schwerwiegenden Grund, der es rechtfertigte, Neugierige von meinem Haus fernzuhalten … Auf Ihr Wohl!«

»Dieser Armagnac …«, beginnt Torrence.

»Er ist siebzig Jahre alt. Was ich sagen wollte … Durch Ihren Beruf sind Sie daran gewöhnt, dass man Ihnen dramatische Geständnisse macht. Nun gut, meine Herren, Sie sollen wissen, dass meine arme Frau nicht mehr bei klarem Verstand ist.«

Seine Stimme ist brüchig geworden. Er senkt den Kopf.

»Ich habe mich nie dazu durchringen können, sie in ein … ein Hospital zu bringen … Was erklärt …«

Torrence sieht Émile an, wie um zu erfahren, was er von dieser Mitteilung halten soll. Émile betrachtet mit starrem Blick die Fliesen oder vielmehr die Stiefel ihres Gastgebers, wirklich schöne Stiefel, robust und weich, die glatt an den Beinen anliegen. Man könnte glauben, Émile hätte in diesem Augenblick nur diesen einen Gedanken:

Wenn ich nur solche Stiefel haben könnte …

Doch das ist es ganz und gar nicht, was Émile denkt, und wenn er die Stirn runzelt, dann, weil er sich fragt:

Warum zum Teufel hat dieser Herr das Bedürfnis gehabt, in der kurzen Zeit, die wir im Schuppen verbrachten, andere Stiefel anzuziehen, obwohl die, die er heute Morgen getragen hat, weder feucht noch schmutzig waren?

Und er versucht, sich an die ersten Stiefel zu erinnern. Sie waren zum Schnüren, während es sich bei diesen hier um Reitstiefel handelt.

Natürlich gäbe es eine Erklärung. Wenn Monsieur Dossin plötzlich auf die Idee gekommen wäre, auf ein Pferd zu steigen, hätte er die Stiefel wechseln müssen. Reiter sind Leute, die die Tradition lieben, auf korrekte Kleidung achten …

»… was Ihnen erklärt, meine Herren, dass das zurückgezogene und einsiedlerische Leben, das wir hier …«

Er fährt zusammen, denn Émile ergreift gerade jetzt, wo man es am wenigsten erwartet, das Wort. Und fragt mit unschuldiger, um nicht zu sagen dümmlicher Miene:

»Haben Sie Pferde?«

»Nein … Ich verstehe nicht, was das …«

»Egal. Fahren Sie fort.«

Wenn er kein Pferd besteigen wollte, warum, zum Kuckuck, hat er dann die Stiefel gewechselt?

II Wo ein Hausarzt wie gerufen kommt und ein gewisser Fasan noch mehr, würde ihm nicht eine Besucherin folgen

Maigret arbeitete gern bei Bier oder Rotwein. Torrence, der so lange sein Schüler war, arbeitet bei allem, was sich trinken lässt, und gibt nichts auf das prasselnde Kaminfeuer oder den tiefen Sessel, in dem er versinkt. Hat nur er die Klingel gehört? Jemand kratzt an der Tür. Sie öffnet sich. Der Gastgeber steht auf.

»Sie erlauben?«

Er bleibt nur ein paar Sekunden in der Diele, und als er zurückkehrt, wirkt er noch ernster als zuvor.

»Der Doktor …«, äußert er. »Er ist zu meiner Frau hinaufgegangen … Sie sehen, meine Herren, dass ich nichts vor Ihnen geheim halte. Die Lage ist schmerzlich, schwierig …«

Dieser Mann ist makellos. Mit seinem fast viereckigen Bart könnte er eine historische Figur spielen, eine durch und durch anständige Persönlichkeit, einen Mann mit großem Herzen. Torrence, der gegen seine Benommenheit ankämpft und an dessen Sohlen schon die Flammen des Kaminfeuers züngeln, murmelt ohne Überzeugung:

»Und Ihr Freund Jean Marchons? Haben Sie ihn schon lange nicht mehr gesehen?«

»Mehrere Tage. Er wohnt in Pithiviers. Er kommt uns nur selten besuchen.«

Gut! Da kommt der Doktor schon die Treppe wieder herunter. Diesmal wird er umstandslos in die Bibliothek geführt und vorgestellt, und mit ihm kommt eine Märchenstimmung in den Raum. Er ist kein Arzt, sondern ein Gnom, ein Kobold, dessen rundes, rosiges Gesicht, schneeweißer Spitzbart und glänzende Äuglein anscheinend dafür geschaffen sind, anderen absolutes Vertrauen einzuflößen.

»Treten Sie ein, Doktor. Diese Herren kommen aus Paris. Erlauben Sie, dass ich sie Ihnen vorstelle: Der berühmte Detektiv Torrence von der Agence O, und sein Gehilfe, Monsieur … Monsieur …«

»Émile!«

»Doktor, würden Sie ihnen sagen, was Sie über meine Frau wissen? Ich weise Sie darauf hin, dass Doktor Aberton unser Landarzt ist und dass er hier wohnt, in Sully, das heißt, acht Kilometer von hier entfernt, schon seit seiner Kindheit. Sagen Sie es ihnen, Doktor.«

»Nun, meine Herren, da mein geschätzter Patient mich von der Schweigepflicht entbindet, muss ich Ihnen eröffnen, dass Madame Dossin, die sich seit langer Zeit in meiner Obhut befindet, seit einiger Zeit unter psychischen Störungen leidet und …«

»Ein Schlückchen Armagnac, Doktor?«

»Gern. Umso mehr, als es gerade anfängt zu schneien. Ein Medikament, das wir nicht oft verschreiben, aber unsere Kranken nehmen es ein, ohne uns zu konsultieren … Ha, ha!«

Torrence fühlt sich wie eine Made im Speck, die Füße nah am Feuer, ein Glas in der Hand, das ständig nachgefüllt wird. Gibt es irgendwo ehrlichere Leute und ein schöneres Haus? Er entspannt sich. Er erklärt sogar:

»Wissen Sie, in unserem Beruf sind wir daran gewöhnt, dass Frauen falsche Anschuldigungen machen, und wir wissen, was davon zu halten ist …«

Émile ist weniger nett, und unwillkürlich flüstert er:

»Vergessen Sie nicht, Chef, dass Sie hergekommen sind, um mit Madame Dossin persönlich zu sprechen …«

Monsieur Dossin und der Doktor wechseln einen Blick.

»Ihr Arzt wird das entscheiden«, sagt Monsieur Dossin schließlich. »In ihrem Zustand, und nach der Krise, die sie heute Morgen hatte, da weiß ich nicht, ob …«

 

»Ganz sicher nicht!«, erklärt der Arzt. »Auch wenn die Polizei hier wäre und mich um meine Meinung fragte, würde ich sagen: Wenn es sich nicht um einen Notfall handelt, bestehe ich darauf, dass man meine Patientin in Ruhe lässt.«

»Ich danke Ihnen, Doktor. Ich darf mich nun entschuldigen, mein Herr, und …«

»Ein letzter Schluck Armagnac?«

Nun sind sie wieder in ihrem kleinen Auto, Torrence und Émile.

»Schämen Sie sich nicht, Chef?«

»Wofür?«

»Sie haben ganze drei Glas Schnaps getrunken und schon ganz feuchte Augen davon. Und die Stiefel …«

»Welche Stiefel?«

»Die, die Monsieur Dossin ausgezogen hat.«

»Sie werden doch nicht behaupten, dass er seine Stiefel ausgezogen hat, ohne dass ich es merkte …«

»Er hat sie ausgezogen, bevor wir kamen … Egal. Halten Sie in Ingrannes …«

Dieses Mal wenden sie sich nicht an die Wirtin im Gasthof, der sie nicht trauen, sondern an einen Mann auf der Straße, der ein Reisigbündel auf dem Rücken trägt.

»Wo kann man hier in der Gegend essen und übernachten?«

»In Sully, mein Herr.«

Auch das Postamt ist in Sully. Der Schnee fällt in kleinen kompakten Flocken, die zwischen Hals und Mantelkragen eindringen und auf dem Rücken schmelzen.

»Was habe ich heute Morgen gesagt?«, äußert Torrence triumphierend. »Ein Scherz oder eine Verrückte … Nun ist es also eine Verrückte. Wenn dieser Landarzt nicht ein Schauspieler ist, perfekt in seiner Rolle, wird man mir nicht weismachen …«

Sie erreichen das an einem Kanal gelegene Sully und halten vor einem Gasthof, der komfortabler wirkt als der von Ingrannes.

»Können wir hier essen und haben Sie vielleicht auch ein Zimmer für uns?«

»Ich werde den Patron fragen.«

Eine halbe Stunde später serviert man ihnen einen prächtigen Fasan zum Abendessen, der sicherlich gewildert wurde, denn die Jagdsaison ist vorbei.

»Wissen Sie, meine Herren, hier in der Gegend gibt es Perlhühner, die so groß werden wie Fasane …«

Der Patron zwinkert ihnen zu.

»Kennen Sie Doktor Aberton?«

»Bei Gott, er ist der beste Mensch der Welt. Wenn einem an der Weihnachtskrippe ein heiliger Joseph fehlt, kann man ihn nehmen, mit Ochs und Esel.«

»Er ist mit den Leuten vom Schloss befreundet, nicht?«

»Er ist mit der ganzen Welt befreundet. Er hilft allen. Und hin und wieder trinkt er auch gern ein Gläschen …«

»Was halten Sie von Madame Dossin?«

»Hm!«

»Verzeihung? Ich habe Sie nicht verstanden. Was sagten Sie?«

»Ich habe gesagt: Hm!«

»Was bedeutet das?«

»Es bedeutet ›Hm‹, wie ich bereits sagte. Noch ein Flügel? Aber ja! Verstehen Sie, hier in der Gegend mögen wir diese Kreaturen nicht besonders …«

»Von wem reden Sie?«

»Diese Kreaturen … Also, als der arme Monsieur Dossin diese … diese ›Hm‹ … wieder zurückbrachte …«

»Einen Moment … Wollen Sie andeuten, dass Madame Dossin einen Liebhaber hat?«

Die Miene des Wirts verdüsterte sich.

»Jeder hier wird es Ihnen bestätigen, mein Herr.«

»Heißt ihr Liebhaber Jean Marchons?«

»Wir mögen hier keinen Klatsch und Tratsch, mein Herr.«

»Vielleicht können Sie uns trotzdem sagen, wer Monsieur Jean Marchons ist?«

»Ein reizender Mann. Ein sogar allzu reizender Mann, der Vermögen hat, wie es heißt, und der, wie es auch heißt, nach Pithiviers gezogen ist, um näher an … Verzeihen Sie, ich glaube, da verbrennt etwas im Ofen.«

Was da verbrannte, war seine Zunge. Wie lange würde man brauchen, um sie wieder zum Reden zu bringen?

»Was sagen Sie dazu, Chef?«, fragt Émile leise.

»Ein Wunder.«

»Was?«

»Dieser Fasan … Im Übrigen ist der Doktor ja … Wir können schließlich bei diesem Mann nicht einbrechen und uns mit Gewalt Zugang zum Zimmer einer kranken Frau verschaffen. Sie sind jung, Monsieur Émile. Ich bin älter als Sie, und als ich noch der Polizei angehörte, hat es mir hinterher oft leidgetan, dass ich die Ansichten der Experten ignorierte … Was hat uns der Doktor gesagt? Dass sie verrückt ist …«

»Und was hat uns der Haken gesagt?«

»Gemach, gemach! Lassen Sie sich nicht hinreißen. Man kann alles Mögliche an diesen Haken gehängt haben. Einen Sack mit irgendwelchen Dingen … Wenn der Doktor nicht aufgetaucht wäre und wenn er sich seiner Sache nicht so sicher gewesen wäre …«

Der Wirt trat wieder aus der Küche. Auf dem Herd brutzelten Pilze, die direkt aus dem Wald kamen.

»Wenn wir recht verstanden haben, mein Herr, war Madame Dossin die Geliebte von Jean Marchons, und ihr Mann, der arme Kerl, wusste von nichts … Ha, ha!«

Der Wirt lacht nicht.

»Aber war diese Dame nicht geistig etwas verwirrt?«, fragt Émile hartnäckig weiter, während er sich mit dem Rest seines Fasanenschlegels beschäftigt.

»Ich weiß nicht, ob Sie das als geistig bezeichnen können«, erwidert der Patron des Gasthofs. »Bei uns nennt man es anders. Und wenn ich so eine Frau hätte, dann können Sie mir glauben, dass …«

Eine entschiedene Geste beendet seinen Gedanken.

»Welchen Wein darf ich Ihnen zu den Pilzen servieren, meine Herren? Was würden Sie von einem kleinen Roten von der Rhône halten, sehr stark, aber durchaus abgerundet im Geschmack? Und danach einen …«

Er hat keine Zeit, seinen Satz zu beendet. Die Tür öffnet sich. Eine Frau erscheint. »Madame …«, stottert er.

Glühende Augen, riesengroße, wunderschöne Augen voller Unruhe. Ein bleiches Gesicht. Auf dem Kopf eine hübsche Pelzmütze. Weiche Stiefel.

Sie ist mit dem Fahrrad gekommen. Es lehnt am Eingang.

»Monsieur Torrence?«

»Ja?«

»Sie haben es gesehen, nicht? Er hat Sie nicht zu mir gelassen.«

Es ist also Madame Dossin, die sie angerufen hat und zu der sie nicht vordringen konnten.

»Entschuldigen Sie … Sehen Sie nur, wie weit es mit mir gekommen ist …«

Sie öffnet ein wenig ihren Pelzmantel, und man sieht, dass sie darunter nur ihr Nachthemd trägt.

»Er wollte nicht, dass ich mit Ihnen rede. Er hat alles getan, um mich daran zu hindern, das Haus zu verlassen. Ich dachte mir schon, dass Sie nicht gleich wieder fahren würden, dass Sie seine Lügen nicht glauben. Ich schwöre Ihnen, dass er ihn getötet hat! Ich habe es schon lange befürchtet … Ja, ich hatte Angst …«

»Verzeihung, Patron … Sie haben nicht zufällig einen Raum, in dem wir …«

»Wir haben den Saal, wo die Hochzeiten gefeiert werden, aber er ist nicht geheizt. Wissen Sie, man heiratet hier lieber im Sommer … Schade um die kalte Jahreszeit. Und schade um die Pilze! Und um den Roten von der Rhône. Er hat so eine schöne goldbraune Farbe …«

»Ich höre Ihnen zu, Madame«, sagt Torrence und setzt sich an einen Tisch.

»Ich musste aus dem Fenster klettern. Ich bin sicher, dass Joseph unser Gespräch heute Morgen mitbekommen hat …«

»Joseph?«

»Sein Kammerdiener, der auch unser Oberkellner ist. Das ist seine verdammte Seele … Wenn Sie wüssten, wie viel ich in diesem Haus schon leiden musste! Ich habe ihn betrogen, das stimmt …«

»Verzeihung … Wen haben Sie betrogen?«

»Meinen Mann.«

Sie ist mindestens zwanzig Jahre jünger als er. Sie ist eine schöne Frau mit leidenschaftlicher Ausstrahlung, feurig und vital.

»Ich habe ihn betrogen, das gebe ich zu … Aber er wusste, als ich ihn geheiratet habe, dass ich zwanzig war und er schon fast fünfzig … Er wusste, dass ich in diesem feuchten und kalten Schloss nicht glücklich sein kann.«

»Verzeihung, Madame … Heute Morgen, am Telefon, haben Sie von einer Leiche gesprochen …«

»Sie haben ihn nicht gefunden?«

»Nein.«

Einen Moment scheint sie sprachlos zu sein. Wie zu sich selbst sagt sie leise:

»Wann es ihm wohl gelungen ist …«

»Besinnen Sie sich, Madame, und erzählen Sie uns der Reihe nach, was passiert ist.«

»Aber er wird kommen …«

»Und dann?«

»Wird er mich ins Schloss zurückbringen. Er wird mich wieder einschließen … Wenn Sie wüssten, wie wütend er in mein Zimmer gekommen ist, als er erfahren hat, dass ich mich an Detektive gewandt habe …«

»Was wissen Sie von Jean Marchons?«

»Er ist mein Geliebter. Er war mein Geliebter …«

»Sie sagen, er war … Wie lange kennen Sie ihn schon?«

»Seit Jahren.«

»Und Ihr Mann wusste von nichts?«

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