Aus den Akten der Agence O

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From the series: Red Eye
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III Wo Torrence eine Entdeckung macht und eine junge Dame plötzlich so gesprächig wird, wie es sich ein Detektiv nur wünschen kann



Maman, sei bitte so gut und behalte die Mademoiselle im Auge, während ich mich umziehe«, sagt Émile. »Und pass auf, dass Sie nicht rausgeht oder mit jemandem spricht, mit wem auch immer …«



Es ist eine gemütliche Wohnung am Boulevard Raspail und so bürgerlich, wie man es sich nur vorstellen kann. Émiles Mutter ist so klein, wie er groß ist, und mit Sicherheit war ihr jetzt ergrautes Haar niemals rot.



Als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre, hat er ihr seine Waffe in die Hand gedrückt. Sie verhält sich, als hätte sie es gar nicht bemerkt. Sie lächelt ihre Besucherin an und behandelt sie mit äußerster Höflichkeit, ohne auch nur einen Funken Ironie.



»Nehmen Sie bitte Platz, Mademoiselle. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? So, Sie sind also eine Freundin von Émile …«



Fünf Minuten später ist er fertig, küsst seine Mutter auf beide Wangen, nimmt ihr die Waffe wieder ab und steckt sie in die Tasche.



»Wenn Sie bereit sind, können wir gehen«, sagt er.



Wenig später betreten sie das Pélican in der Rue de Clichy, wo zwischen den Tischen bereits einige Paare zu den Klängen einer kubanischen Band tanzen. Émile hat seine Schüchternheit nicht abgelegt, dennoch bestellt er das Essen wie ein Connaisseur.



»Würden Sie den Herrn dort drüben bitte zu mir herüberbitten?«, fragt er den Kellner.



Der Herr ist Torrence, der, ebenfalls im Smoking, mit übermäßig gestärkter Hemdbrust und knallrotem Kopf an einem kleinen Tisch auf der anderen Seite der Tanzfläche sitzt.



»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Mademoiselle«, sagt Émile und steht auf, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen. Er und Torrence bleiben ein paar Schritte von ihr entfernt stehen.



»Ich habe deine Anweisungen befolgt«, berichtet ihm Torrence. »Ich habe mit den besseren Hotels angefangen, die nicht zu luxuriös wirkten. Ich habe allen Portiers das Bild unserer Mademoiselle gezeigt …



Im sechsten Hotel, dem Majestic in der Avenue Friedland, haben sie recht überrascht reagiert.



›Ich dachte, sie wäre oben in ihrem Zimmer‹, hat der Mann an der Rezeption gesagt.



Er hat oben angerufen.



›Komisch!‹, hat er gesagt. ›Jetzt merke ich gerade, dass ihr Bruder auch ausgegangen ist. Er müsste aber jede Minute zurückkommen.‹«



Und Torrence fährt fort:



»Ich habe ihn gebeten, das gesamte Personal des Stockwerks zu versammeln. Das Paar hat sich als Dolly und James Morrison aus Philadelphia eingetragen. Die Frau wohnt in Zimmer 45, der junge Mann in Zimmer 47. Dazwischen gibt es eine Verbindungstür. Soweit ich rausfinden konnte, hat James Morrison recht unregelmäßige Gewohnheiten, gestern Nacht hat er nicht im Hotel geschlafen, und seitdem haben sie ihn auch nicht mehr gesehen.«



»Irgendwelches Gepäck?«, fragt Émile.



»Ich habe mich nicht getraut, vor dem ganzen Stab danach zu fragen. Also hab ich Zimmer 43 genommen und ihnen gesagt, ich hätte meinen persönlichen Kammerdiener dabei.«



Mit einem Augenzwinkern gibt Torrence zu erkennen, dass der besagte Diener kein anderer ist als der struppige Barbet und dass dieser im Moment wahrscheinlich damit beschäftigt ist, die benachbarten Zimmer zu durchstöbern.



»Sobald du etwas hörst, lass es mich wissen«, sagt Émile. »Hier oder woanders. Wenn wir das Pélican verlassen, hinterlasse ich eine Nachricht.«





»Entschuldigen Sie, Mademoiselle Morrison«, sagt er, als er an den Tisch zurückkehrt. »Wie Sie sehen konnten, musste ich meinem Chef ein paar Instruktionen geben. Ist der Kaviar wenigstens frisch?«



Sie scheint von dem, was er gerade herausgefunden hat, nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Allerdings reißt sie die Augen auf, als er hinzufügt:



»Torrence verspricht sich ein aufschlussreiches Gespräch mit Ihrem Bruder James heute Abend …«



»Tut er das?«



»In diesem Augenblick hat einer unserer Freunde James im Schlepptau. Torrence wird zu ihnen stoßen, und ich bin überzeugt, dass uns Ihr Bruder bereitwillig einige Erklärungen geben wird …«



Sie sieht auf ihren Teller.



»Armer Jim!«, sagt sie seufzend.



»Es könnte tatsächlich unangenehm für ihn werden. Noch ein wenig Kaviar? Etwas Zitrone?«



»Hören Sie, Monsieur Émile.«



Sie ist nervös und gereizt.



»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell vorankommen … Ich verstehe nicht, wie mein Bruder so unvorsichtig sein konnte und … Aber lassen Sie mich Ihnen zuerst eine Frage stellen. Was haben Sie eigentlich mit diesem Fall zu tun?«



»Eine der größten Versicherungsgesellschaften, die schon seit Langem zu unserer Kundschaft gehört, hat uns beauftragt, den Schmuck zurückzuholen, der bei den dreizehn Einbrüchen der vergangenen Monate entwendet wurde.«



»Das ist alles?«



»Wie meinen Sie das?«



»Ich meine, dass Sie, da Sie nicht zur Polizei gehören, auch nicht verpflichtet sind, ihr den Täter auszuliefern, oder?«



Weder die Paare, die an ihrem Tisch vorbeitanzen, noch die anderen, die an ihren Tischen sitzen, können den Inhalt dieses Gesprächs erahnen, das mit gespitzten Lippen fortgeführt wird.



»Mein Bruder ist ein Dummkopf«, sagt die junge Frau. »Ich war sicher, dass er uns früher oder später in eine solche Situation bringen würde. Erst heute Morgen. Ich musste es selbst in die Hand nehmen, das markierte Taschentuch zurückzubekommen.«



»Wie wär’s mit einem Tanz?«, fragt Émile, sehr zur Überraschung seiner Begleiterin.



Aber noch überraschender ist die Tatsache, dass er ein ganz ausgezeichneter Tänzer ist. Sie setzen ihre Unterhaltung auf der Tanzfläche fort, die in orangerotes Scheinwerferlicht getaucht ist, und das Mädchen hat das Gefühl, dass ihr Begleiter sie beharrlicher an sich drückt, als es die Umstände erfordern.



»Sie waren gar nicht so sehr auf dem Holzweg, Monsieur Émile, als Sie vorhin von Glatzenteddy geredet haben. Sie dachten, dass Sie seine Vorgehensweise hinter den Einbrüchen erkannt hätten, und das hat auch einen guten Grund. Ich bin Glatzenteddys Tochter. James ist mein Zwillingsbruder. Bis jetzt hat uns unser Vater immer aus seinen Geschäften rausgehalten.«



Sie setzen sich wieder an ihren Tisch, und der Kellner serviert ihnen Champagner.



»Es ist nicht wichtig, wo wir gelebt haben. Aber Sie müssen wissen, dass Jim und ich wie Kinder aus sehr gutem Hause aufgewachsen sind und gelebt haben. Vor Kurzem ist unser Vater in den Staaten verhaftet worden. Das war das erste Mal, dass die Polizei es geschafft hat, ihn zu schnappen. Und das auch nur durch eine seltsame Folge von Zufällen. Jim und ich dachten, wenn wir nur genug Geld zusammenkriegen würden, könnten wir ihn vielleicht aus dem Gefängnis holen. Also sind wir nach Paris gekommen und …«



»Und sind in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten«, beendet Émile ihren Satz.



Sie lächelt schwach.



»Sie sehen ja, dass wir im Grunde nicht damit durchgekommen sind. Jim musste ja bei dem letzten Einbruch sein Taschentuch verlieren. Ich habe Sie durchs Schaufenster gesehen. Ich wollte …«



Ihre Augen sind feucht geworden. Ihre Lippen zittern ein bisschen, und sie trinkt einen Schluck Champagner.



»Ich nehme es Ihnen ja gar nicht übel«, fährt sie fort. »Jeder von uns macht schließlich nur seine Arbeit, richtig? Was mir Angst macht, ist der Gedanke, dass Jim ins Gefängnis kommt. Er ist ein so sensibler Junge. Als wir noch Kinder waren, war ich immer die Stärkere von uns beiden, und er war mehr wie ein Mädchen. Wie bitte?«



»Nichts. Ich habe nichts gesagt.«



»Deswegen habe ich Ihnen vorhin die Frage nach der Polizei gestellt. Selbst wenn man ihn wirklich verhaften würde, könnte Jim Ihnen gar nicht sagen, wo die Juwelen sind, denn es war meine Aufgabe, sie zu verstecken. Wenn Sie mir versprechen, ihn laufen zu lassen, gebe ich sie Ihnen zurück. Sie haben Ihren Auftrag erfüllt, und ich verspreche Ihnen, dass Jim und ich noch heute Nacht das Land verlassen …«



Sie hat ihre Hand über den Tisch gestreckt und berührt Émiles.



»Seien Sie nett«, flüstert sie mit einem einnehmenden schiefen Lächeln.



Er zieht seine Hand nicht weg. Er ist verlegen, und wie immer in solchen Situationen fängt er an, langsam und gründlich seine Brille zu putzen.



»Sind die Juwelen im Majestic?«, fragt er, nachdem er sich geräuspert hat.



»Sie reden nicht um den heißen Brei herum, was? Wenn ich Ihnen antworte, woher soll ich dann wissen, dass Sie Ihr Versprechen halten?«



»Verzeihung, aber bis jetzt habe ich noch nichts versprochen.«



»Lehnen Sie also ab? Glauben Sie, dass Sie Jim zum Reden bringen? Sie kennen ihn nicht. Er ist dickköpfiger und sturer als eine Frau und … Wie spät ist es eigentlich?«



»Halb zwölf …«



Aber, aber! Warum wirkt es, als steigerte sich dadurch ihre Nervosität? Könnte es der Zeitpunkt sein, zu dem ihr Bruder James ins Majestic zurückkommen sollte, oder …



»Noch ein Tanz?«, fragt er.



»Nein danke. Ich bin langsam ein bisschen müde. Abgesehen davon, dass ich mir Sorgen um meinen Bruder mache und dass … Schenken Sie mir noch ein Glas Champagner ein?«



Ihre Hand zittert nervös. Émile hält die Flasche in der Hand und beugt sich über den Tisch. Das Letzte, was er sieht, sind ihre Augen, denen er jetzt sehr nahe ist, und es scheint, als funkelten sie ironisch.



Er hat keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Genau in diesem Moment ist der Raum stockdunkel. Man kann die Kellner herumhuschen hören. Paare stoßen zusammen und lachen.



»Bewegen Sie sich nicht, Mesdames, Messieurs. Nur einen Moment Geduld, bitte. Eine Sicherung ist rausgesprungen …«

 



Émile versucht, seine Begleiterin festzuhalten, aber seine Hände greifen ins Leere. Er steht auf und geht geradeaus in Richtung der Tür und der Treppe, aber die Leute versperren ihm den Weg, und als er sie zur Seite schieben will, protestieren sie.



»Was glaubt der denn, wo er hinläuft?«



»Was für ein Rüpel!«



Die Lichter gehen wieder an. Dolly ist nirgendwo zu sehen. Aber heißt sie denn überhaupt Dolly? Oder Denise? Oder ganz anders? Émile geht nach unten zur Garderobe.



»Haben Sie vielleicht eine junge Frau gesehen, die …«



»Die, die gerade nach draußen gegangen ist, weil ihr nicht gut war? Ich wollte ihr ihren Mantel geben, aber sie hat gesagt, dass sie nur kurz Luft schnappen will.«



Natürlich auch draußen keine Spur von Denise-Dolly. Émile steht ohne Hut und im Smoking auf dem leer gefegten Gehweg unter der Leuchtreklame des Casino de Paris, als ein Taxi vorfährt. Torrence steigt aus.



»Wo ist er hin?«, fragt Torrence.



Émile runzelt die Stirn. Er fragt sich, ob Torrence …



»Hast du ihn entwischen lassen, Chef? Stell dir vor, was wir rausgefunden haben, als wir das Gepäck durchsucht haben: Bruder und Schwester sind ein und dieselbe Person! Offensichtlich ein Mann!«



»Oder eine Frau«, entgegnet Émile.



»Auf jeden Fall eine ziemlich heiße Sache.«



»Das kommt davon, wenn man Zurückhaltung übt«, seufzt der rothaarige junge Mann. »Während sie sich im Hotel umgezogen hat, hab ich die meiste Zeit hinter einem Paravent gestanden. So hatte sie die Gelegenheit, eine Nachricht zu schreiben. Als wir im Pélican ankamen, muss sie dem Maître oder einem der Kellner den Zettel zugesteckt haben, vermutlich mit einem dicken Schein.



Bitte machen Sie um Punkt halb zwölf für einen Moment alle Lichter aus

.



Und zu dem Zeitpunkt hat sie mich auch gebeten, ihr noch etwas Champagner einzuschenken, damit ich eine Flasche in der Hand hatte.«



Torrence sagt nichts. Vielleicht macht es ihn gar nicht so unglücklich, zu sehen, dass selbst sein merkwürdiger Chef auf so einen simplen Trick hereinfallen kann. Nach langem Zögern traut er sich zu fragen:



»Bist du sicher, dass sie dir nichts aus den Taschen geklaut hat?«




IV Wo Torrence über die Untätigkeit seines Chefs entsetzt ist und Letzterer endlich doch noch ein paar Anweisungen gibt



Drei Uhr morgens in der Cité Bergère. Torrence hat auf dem Elektrokocher Wasser heiß gemacht und bereitet Kaffee zu. Émile hat sich auf einer schmalen Couch ausgestreckt und starrt an die Decke.



»Was ich nicht verstehe, falls es dich interessiert, wie ich darüber denke«, sagt Torrence schließlich, »ist, dass du nicht mal ins Majestic rübergehst, um nachzusehen. Ich gebe zu, dass Barbet selten irgendeinen Hinweis übersieht. Und habe selbst alles noch mal überprüft …«



Émile reagiert nicht. Schwer zu sagen, ob er Torrence’ Stimme überhaupt hört. Es sieht eher nicht danach aus.



»Kurz und gut, wie ist die Lage? Wir wissen nur, dass der Einbrecher, ob Mann oder Frau …«



»Frau«, fällt Émile ihm trübselig ins Wort.



Er hält es für unangebracht hinzuzufügen, dass er sie, als sie ein paar Stunden zuvor miteinander getanzt haben, so fest an sich gedrückt hat, dass er an ihrer Weiblichkeit keine Zweifel hegt.



»Meinetwegen. Also wie ich schon sagte, wir haben den Beweis, dass die Einbrüche von einer Frau begangen wurden und dass sich diese Frau unter den Namen Dolly Morrison und James Morrison im Hotel Majestic eingetragen hat, was wohl recht praktisch war. Denn so konnte sie mal als junge Frau, mal als junger Mann auftreten. In einem Hotel von der Größe des Majestic wäre es kaum jemandem aufgefallen, dass sie nie zusammen gesehen wurden. Und was die Frage betrifft, ob sie nun wirklich Glatzenteddys Tochter ist … Wer immer sie auch ist, sie ist uns entwischt. Bleibt nur noch eine Frage, die einzige, die überhaupt noch zählt: Wo hat sie die Juwelen versteckt? Denn wir können sicher sein, dass sie dort auftauchen wird, wo sich der Schmuck befindet. Das Majestic wird überwacht. Wir haben in keinem der beiden Zimmer etwas gefunden. Und sie hat auch nichts in einem der Hotelsafes deponiert.«



Émile meldet sich mit verträumter Stimme:



»Für einen Polizisten bist du wirklich gesprächig, Torrence!«



»Und du bist wirklich apathisch! Ich frage mich allmählich, ob dir klar ist, dass uns die Zeit davonläuft. Sicher, ich habe der Polizei ein Bild von unserer süßen kleinen Gangsterbraut gegeben, und im Augenblick beobachten die jeden Bahnhof und jeden Hafen.«



»Hör mal, Torrence, wenn du nicht deine Klappe hältst, gehe ich raus und lege mich auf den Treppenabsatz.«



Nun, mal sehen … Wenn also … Wegen Torrence’ Geschwätzigkeit muss Émile mit seinen Überlegungen von vorne anfangen. Wenn also diese Frau dreizehn Einbrüche begangen hat, wenn sie sich zwei Zimmer in einem großen Pariser Hotel leisten kann, wenn noch keins der Schmuckstücke verkauft wurde, wenn sich die Juwelen offensichtlich nicht im Hotel befinden …



»Gibst du mir bitte eine Tasse Kaffee, Torrence?«



Was hat Glatzenteddy in so einem Fall gemacht? Wir wissen es nicht, denn er hat nie mit jemandem über seine Methode gesprochen. Aber zumindest von einer Sache ist Émile überzeugt: Das Mädchen hat nicht gelogen. Sie ist wirklich Glatzenteddys Tochter. Und es ist durchaus möglich, dass sie diese Einbrüche begangen hat, um ihren Vater aus dem Gefängnis freizukaufen.



Das ergibt alles einen Sinn. Es klingt nach der Wahrheit …



Gut! Sie ist also in Paris. Erfolgreich dreht sie ihr erstes Ding auf dem Boulevard de Strasbourg. Dann folgt ein Einbruch dem anderen, fast wöchentlich.



Was macht sie mit ihrer Beute? Das ist die Hauptfrage. Was macht sie mit den Juwelen, bis sie genug zusammen hat, um ins Ausland zu reisen und sie dort zu verkaufen?



Als wäre er den Gedankengängen seines Chefs gefolgt, ruft Torrence, während er eine zweite Kanne Kaffee macht:



»Sie muss irgendwo in Paris noch einen Unterschlupf haben.«



»Ich wette dagegen.«



Warum? Erstens, weil sie zu klug dafür ist. Und zweitens, weil sie genauso verfährt wie ihr Vater, der während seiner langen Karriere nur einmal geschnappt wurde, und weil sie diese Arbeitsweise durch äußerste Sorgfältigkeit perfektioniert.



Abgesehen davon hat die Polizei, obwohl Glatzenteddy jetzt schon seit einigen Monaten sitzt, noch nicht eins der gestohlenen Schmuckstücke gefunden!



Außerdem haben sie in ihrem Zimmer im Majestic einen Koffer mit einem Geheimfach voller Diebeswerkzeug entdeckt. Wenn das Mädchen tatsächlich noch eine zweite Unterkunft in Paris bewohnen würde, hätte sie diese kompromittierende Ausrüstung wahrscheinlich dort aufgehoben.



»Hättest du was dagegen, dich hinzusetzen, anstatt wie ein Bär im Zirkus auf und ab zu tänzeln?«



»Ich versuche nur, nicht einzuschlafen«, murrt Torrence. »Wenn wir schon die ganze Nacht hier rumsitzen müssen …«



Also, fangen wir noch mal ganz von vorne an. Diesmal macht sich Émile seine Gedanken in der ersten Person. Er versucht sich in die junge Frau hineinzuversetzen. Er wird zum Juwelendieb. Er hat gerade erfolgreich sein erstes Ding gedreht. Er hat die Juwelen in seiner Tasche, sie sind nicht sehr schwer. Er hat nur die wertvollsten Stücke genommen, vorzugsweise Diamanten …



Was wird er mit ihnen machen?



Eine tiefe Falte zieht sich über seine Stirn. Wie besessen starrt er immer noch auf denselben Punkt an der Decke.



Notgedrungen müssen die Juwelen für Wochen oder sogar Monate an einem sicheren Ort bleiben …



Für den Fall, dass ich verhaftet oder verfolgt werde oder mein Aufenthaltsort entdeckt wird …



Er spürt, dass er der Wahrheit näher kommt. Verflucht! Ob sie verdächtigt wird, ob man sie verfolgt, ob ihr Gepäck mag durchsucht werden – alles, was zählt, ist, dass niemals ein Beweis gegen sie gefunden wird.



»Hast du’s jetzt begriffen, mein kleiner Torrence?«



Der kleine Torrence von einem Meter achtzig sieht seinen schmalen Chef mit geweiteten Augen an.



»Was soll ich begriffen haben?«



»Wie viele Postämter gibt es hier in Paris?«



»Ich weiß nicht. Vielleicht hundert.«



»Wie spät ist es?«



»Halb fünf.«



»Würde es dir was ausmachen, den Chef der Kriminalpolizei zu wecken? Du weißt, dass er einem ehemaligen Mitarbeiter von Kommissar Maigret keine Bitte abschlagen würde. Bitte ihn, uns später für eine Stunde so viele Männer auszuleihen, wie er entbehren kann. Du kannst dir vorstellen, wie wichtig es ist, dass das sofort geschieht. Die Postämter machen um acht Uhr auf, richtig? Also an jedem Postamt … Hast du es jetzt begriffen? Gib jedem Mann ein Foto, nur vom Gesicht, nicht von der Kleidung. Nein, keinen Kaffee mehr, danke! So, ich werde in der Zwischenzeit ein wenig die Augen zumachen …«





Paris wird langsam lebendig. Der Nebel hat sich verflüssigt und fällt als eiskalter Nieselregen herab. Die Straßen scheinen von Glanzlack überzogen. In dem Moment erscheinen bei allen Postämtern, die gerade erst aufmachen, noch verschlafene und missmutige Männer.



»Kriminalpolizei. Können Sie mir sagen, ob vor Kurzem eine Person, die dieser hier ähnlich sieht …«



Émile schnarcht. Man kann sich kaum vorstellen, dass ein so dünner junger Mann so geräuschvoll schläft. Es ist kurz vor neun, als Torrence ihn weckt.



»Chef! Chef!«



»Wo?«, fragt Émile, sofort im Vollbesitz seiner Sinne.



»Dunkerque … Hôtel Franco-Belge.«



»Das Telefon! Schnell!«



»Das Hotel?«



»Ja, das Hotel. Und auch die Polizei von Dunkerque. Beeil dich!«



Sie haben beide noch ihren Smoking von letzter Nacht an. Die Hemden leuchten nicht mehr so frisch, und beiden sind Bartstoppeln gewachsen. Darüber hinaus hat Torrence fast überall seine Pfeifenasche verstreut. Das Büro riecht wie am Morgen nach einer Party, und schmutzige Tassen und Croissantreste sind über die Schreibtische verteilt.



»Hallo, Vermittlung, würden Sie mich bitte mit der Nummer 180 in Dunkerque verbinden? Und gleich danach mit der Nummer 243 … Ja, es ist wichtig … Eine offizielle Angelegenheit.«



Émile ist wieder in sein kleines Büro gegangen. Er hat es wirklich mit Verzeichnissen. Dunkerque … Es war halb zwölf, als sie das Pélican verlassen hat. Gut. Vor halb sieben gibt es keinen Zug nach Dunkerque.



Und wenn sie das Auto genommen hat? Er zählt die Kilometer auf der Straßenkarte und überschlägt es im Kopf …



Das Telefon klingelt.



»Chef! Das Hôtel Franco-Belge.«



»Hallo? Spreche ich mit dem Hoteldirektor? Der Direktor ist nicht da, sagen Sie? Sie sind die Rezeptionistin? Hier spricht die Polizei …«



Nicht nötig, zu sagen, dass es nur eine Privatdetektei ist.



»Hören Sie, Madame, in den letzten paar Wochen müssen Sie mehrere kleine Päckchen für einen Gast erhalten haben, Madame Olry … Stimmt das?«



Die Rezeptionistin wiederholt den Namen.



»Madame Olry? Warten Sie, ich frage nach. Ich hab mit der Post nichts zu tun … Jean! Ist irgendwelche Post für eine Madame Olry gekommen? Wie bitte? Ja, Monsieur, es stimmt. Die Dame hat uns anscheinend irgendwo aus dem Ausland geschrieben und uns gebeten, ihre Post für sie aufzuheben … Jean! Woher kommt die Post für die Dame? Nur einen Moment, Monsieur … Wie bitte, Jean? Aus Bern in der Schweiz?«



Und dann kommt ihre Stimme lauter durch das Telefon.



»Aus Bern, Monsieur. Anscheinend sind hier mehrere kleine Päckchen für sie angekommen. Einen Moment bitte, Madame … Jean, kümmerst du dich bitte mal um Madame?«



War es Intuition? Émile wird blass.



»Bitte legen Sie nicht auf, Madame! Madame! Sagen Sie, haben Sie nicht eben mit einer Frau gesprochen, die in Ihr Hotel gekommen ist?«



»Ja, Monsieur.«



»Ist die Frau mit einem Auto gekommen?«



»Einen Moment. Ich seh mal nach … Ja, Monsieur, vor der Tür steht ein Auto. Ein Taxi aus Paris …«



»Bitte sprechen Sie nicht so laut, um Himmels willen! Und sprechen Sie nicht so viel! Hören Sie nur zu, was ich Ihnen jetzt sage. Sie dürfen die Frau auf keinen Fall gehen lassen. Sie wird Sie wahrscheinlich nach der Post für Madame Olry fragen. Sie müssen unbedingt …«



»Sie glauben, dass das Madame Olry ist?«



»Dumme Kuh!«, ruft Émile wutentbrannt.



Die ahnungslose Rezeptionistin tappt mitten in den Fettnapf, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Selbstverständlich wendet sie sich sofort zu der Frau um und fragt:

 



»Sie sind Madame Olry, nicht wahr? Ich hab hier jemanden am Telefon, der …«



»Halten Sie um Himmels willen den Mund!«



»Was? Ich kann Sie nicht verstehen?«



»Verdammt! Was macht die Dame jetzt?«



»Warten Sie. Ich rufe sie zurück. Madame! Hören Sie, Madame! Was in aller Welt … Jean, lauf der Dame nach und frag sie, ob sie … Hallo? Sind Sie noch da? K�