Aus den Akten der Agence O

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Aus den Akten der Agence O
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Georges Simenon

Aus den Akten der Agence O

Sechs Fälle

Mit einem Nachwort von Daniel Kampa

Aus dem Französischen von Susanne Röckel

Kampa

Der Mann hinter dem Spiegel
I Wo eine junge Dame in den Armen des kräftigen Torrence in Ohnmacht fällt und wir die merkwürdige Hierarchie der Agence O kennenlernen

Elf Uhr morgens. Der dicke Nebel, in dem Paris erwacht ist, gehört zu der Sorte, die sich bekanntermaßen den ganzen Tag nicht auflösen wird. Die junge Dame hat ihr Taxi an der Rue du Faubourg Montmartre anhalten lassen und eilt in die Cité Bergère. Im Palace muss gerade eine Probe stattfinden, denn zwanzig oder dreißig Showgirls oder Statistinnen laufen draußen auf dem Gehsteig auf und ab.

Direkt gegenüber dem Bühneneingang des berühmten Musical-Theaters befindet sich ein Friseursalon, wo in kreischendem Lila der Schriftzug Chez Adolphe an der Fassade prangt. Rechts daneben eine kleine Tür, ein dunkler Flur und ein Treppenhaus, das von keinem Pförtner verteidigt wird. Ein Emailleschild mit vier Worten schwarz auf weiß: Agence O, dritter Stock links.

Die größten Bühnenstars sind durch das Portal auf der anderen Straßenseite gegangen, Politiker, königliche Herrschaften und Multimillionäre haben die Garderoben hinter der Bühne besucht. Wie viele dieser Persönlichkeiten sind an einem Morgen wie heute auch hier hineingeschlichen, mit hochgeschlagenen Mantelkragen und Hüten, die ihre Gesichter verbargen, die Stufen hinauf zur Agence O?

Im dritten Stock hält die junge Frau einen Moment inne und holt einen Spiegel aus ihrer Handtasche. Aber nicht, um ihr Make-up zu überprüfen. Im Gegenteil, als sie sich betrachtet, nimmt ihr Gesicht einen noch gehetzteren Ausdruck an. Sie klingelt. Langsam nähern sich Schritte. Die Tür wird von einem nichtssagenden Bürodiener geöffnet. Der Warteraum sieht schäbig aus. Eine Zeitung auf einem kleinen Tisch. Vermutlich hat der Bürodiener gerade darin gelesen.

»Ich möchte den Chef sprechen«, sagt sie aufgeregt. »Würden Sie ihm bitte sagen, dass es sehr dringend ist.«

Und sie betupft ihre Augen mit einem Taschentuch. Der Bürodiener muss schon viele Besucher wie sie gesehen haben, denn er geht ganz gemächlich auf eine Tür zu, verschwindet, taucht wenig später wieder auf und winkt sie herein.

Im nächsten Moment betritt die junge Frau das Büro von Joseph Torrence, Ex-Inspektor der Pariser Kriminalpolizei und Chef der Agence O, einer der berühmtesten Privatdetekteien der Welt.

»Bitte treten Sie ein, Mademoiselle«, sagt er. »Nehmen Sie Platz.«

Nichts könnte gewöhnlicher aussehen als dieses Büro, das Zeuge so vieler schrecklicher Geständnisse geworden ist. Nichts könnte beruhigender wirken als der große Torrence, ein unbekümmerter Riese von einem Mann, Ende vierzig, sehr gepflegt und gut genährt.

Das Fenster zur Cité Bergère hat Milchglasscheiben, an allen Wänden stehen Bücherregale und Aktenschränke, und hinter dem Mahagonischreibtisch, in Torrence’ Reichweite, befindet sich ein Safe, wie man ihn in Büros überall auf der Welt finden kann.

»Verzeihen Sie, Monsieur, wenn ich ein bisschen nervös bin. Sie werden es verstehen, wenn ich Sie eingeweiht habe. Wir sind hier doch unter uns, nicht wahr? Ich komme gerade aus La Rochelle. Was dort passiert ist …«

Sie hat sich nicht hingesetzt. Sie läuft auf und ab. Sie faltet ihr Taschentuch zusammen und wieder auseinander, offensichtlich in äußerster Aufregung, während Torrence fortfährt, mechanisch seine Pfeife zu stopfen.

In dem Moment geht die Tür auf. Ein großer rothaariger junger Mann, der anscheinend so schnell gewachsen ist, dass sein Anzug nicht Schritt halten konnte, betritt den Raum, bemerkt ihre Anwesenheit und stammelt:

»Oh, Verzeihung, Boss.«

»Was gibt’s denn, Émile?«

»Nichts … Ich … Ich hab was vergessen …«

Er nimmt irgendeine Akte aus dem Regal und ist in seiner Verlegenheit so tollpatschig, dass er beim Hinausgehen gegen den Türrahmen rempelt.

»Fahren Sie fort, Mademoiselle«, sagt Torrence.

»Ich weiß gar nicht mehr, wo ich stehen geblieben bin … Es war alles so tragisch, so unerwartet … Mein armer Vater …«

»Vielleicht fangen Sie damit an, mir zu erklären, wer Sie eigentlich sind?«

»Denise … Denise Étrillard aus La Rochelle. Mein Vater ist der Notar Étrillard. Er wird Sie heute Nachmittag aufsuchen. Er ist kurz nach mir abgefahren. Aber ich hatte solche Angst, dass ich dachte, es wäre besser …«

Direkt hinter dem banalen Büro von Torrence liegt noch ein kleineres, dunkleres Büro, vollgestopft mit einer höchst erstaunlichen Vielzahl von Dingen. Dort sitzt an einem gewöhnlichen, unlackierten Holztisch der junge Rothaarige, den der große Boss mit Émile angeredet hat. Er beugt sich vor. Er betätigt eine Art Schalter, und sofort kann er jedes Wort mithören, das nebenan gesprochen wird.

Ihm gegenüber befindet sich ein Spion. Von der anderen Seite würde niemand den Spion vermuten, denn er sieht aus wie ein normaler kleiner Spiegel zwischen den Regalen.

Émile beobachtet und lauscht teilnahmslos, mit unbewegten Augen hinter der großen Hornbrille und einer nicht angesteckten Zigarette zwischen den Lippen, fast wie einer dieser Weichensteller, die man manchmal in ihren Glaskästen thronen sieht.

»Denise Étrillard … Mein Vater ist der Notar Étrillard …«, sagt die junge Dame.

Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Émile ein schweres Verzeichnis hervorgeholt. Er geht die Liste der Notare unter E durch – Étienne … Étriveau … Aber kein Étrillard!

Er lauscht und beobachtet weiter. Diesmal sieht er in einem Telefonbuch für das Gebiet La Rochelle nach. Dort findet er einen Étrillard, oder besser gesagt die Witwe eines Étrillard, Fischhändlerin … Auf der anderen Seite des Spions fährt die Stimme fort:

»Ich fühle mich im Moment nicht in der Lage, es Ihnen ausführlich zu erklären … Mein Vater, der spätestens um vier Uhr hier sein wird, kann Ihnen das alles viel besser berichten als ich … Es war so schrecklich unerwartet. Das Einzige, worum ich Sie in der Zwischenzeit bitten möchte, ist, diese Dokumente, die ich noch retten konnte, in Ihrem Safe aufzubewahren.«

Émile greift zum Telefon vor ihm auf dem Tisch. Es klingelt in Torrence’ Büro. Torrence nimmt ab und hört zu.

»Frag sie, um wie viel Uhr sie angekommen ist …«

Währenddessen hat die junge Frau aus ihrer Handtasche einen eindrucksvollen gelben Umschlag gezogen, den fünf rote Wachssiegel noch feierlicher erscheinen lassen.

»Sind Sie gerade in Paris angekommen?«, fragt Torrence.

»Ja, ich habe das erste Taxi genommen und bin sofort hergekommen. Mein Vater hat gesagt …«

»… dass Sie sich an uns wenden sollen?«

»Wir haben gestern Abend einfach ruhig beisammengesessen, als wir plötzlich Geräusche aus seinem Büro hörten. Mein Vater nahm seinen Revolver. Wir konnten in der Dunkelheit einen Mann erkennen, aber er ist durch die Hintertür entkommen. Meinem Vater war sofort klar, dass jemand versucht hat, an diese Dokumente zu kommen. Aber er konnte La Rochelle nicht einfach so verlassen … Aus Sorge, dass sie zurückkommen würden, hat er mir diesen Umschlag anvertraut. Wenn er Ihnen die ganze Sache erklärt hat, werden Sie verstehen, warum ich so nervös bin und solche Angst habe. Diese Leute sind absolut skrupellos.«

Währenddessen ist der rothaarige Émile weiterhin wie ein gehorsamer Bürodiener seinen Aufgaben nachgegangen. Nachdem er das Verzeichnis französischer Notare und das Telefonbuch für Charente-Inférieur durchgesehen hat, sitzt er jetzt über dem Zugfahrplan, ohne jedoch die Frau länger als ein paar Sekunden aus den Augen zu lassen.

Wirklich ziemlich gut aussehend, diese junge Dame. Sie ist exakt so gekleidet, wie sich eine Tochter aus guter Familie vom Land kleiden sollte. Ihr graues, maßgeschneidertes Kostüm sitzt perfekt. Ihr Hut ist modern, aber nicht zu ausgefallen. Sie trägt perlgraue Wildlederhandschuhe.

Aber da ist eine Kleinigkeit, die Torrence nicht sehen kann, weil er zu nah bei ihr ist und weil es schwierig ist, eine Person mit voller Aufmerksamkeit zu mustern, während man mit ihr spricht.

Wohingegen Émile an seinem Mikroskop, wie er den Spion zu nennen pflegt …

Wenn sie, wie sie gerade behauptet hat, La Rochelle eilig verlassen musste, wenn sie den größten Teil der Nacht im Zug gesessen hat, wenn sie gerade erst in Paris angekommen ist und vom Bahnhof direkt ein Taxi hierher in die Cité Bergère genommen hat, wie kommt es dann, dass ihr einfaches und absolut gediegenes Kostüm noch immer diese ordentlichen Falten aufweist, besonders die an den Ärmeln, die entstehen, wenn man Kleider in einem Koffer zusammenlegt?

La Rochelle … Mal sehen, von La Rochelle nach Paris-Gare d’Orsay … Nun, der einzige Zug, mit dem sie hätte kommen können, ist um 6 Uhr 43 in Paris eingetroffen.

»Alles, worum ich Sie bitte«, sagt sie nochmals zu Torrence, »ist, dass Sie diese Dokumente sicher in Ihrem Safe aufbewahren, bis mein Vater kommt. Ich bitte Sie, Monsieur. Er wird Ihnen alles erklären. Und ich bin mir sicher, dass Sie sich danach nicht weigern werden, uns zu helfen.«

Sie lügt gut. Sie ist sogar sehr überzeugend. Sie läuft auf und ab. Ist auch ihre Nervosität gespielt?

»Nun, wenn Sie mir versichern können, dass Ihr Vater heute Nachmittag hier sein wird …«, erklärt sich Torrence widerwillig bereit. »Aber ich hätte trotzdem gerne eine Adresse von Ihnen hier in Paris. Haben Sie schon ein Hotel?«

»Noch nicht. Das habe ich als Nächstes vor. Ich wollte nur zuallererst hierherkommen.«

»In welches Hotel werden Sie gehen?«

 

»Ich glaube … Ins Hôtel d’Orsay. Ja, direkt am Bahnhof. Sie werden dieses Dokument für mich aufbewahren, nicht wahr? Es ist doch sicher dort, oder? Niemand würde es wagen, Ihren Safe anzurühren?«

Sie versucht, ein blasses Lächeln zustande zu bringen.

»Nein, das würde in der Tat niemand wagen, Mademoiselle. Und nur zu Ihrer Beruhigung werde ich den Umschlag gleich jetzt vor Ihren Augen hineinlegen.«

Und der gute Riese Torrence steht auf, zieht einen kleinen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnet den Safe. Die junge Frau tritt einen Schritt näher.

»Wenn Sie wüssten, wie erleichtert ich bin, die Dokumente endlich an einem sicheren Ort zu wissen!«, sagt sie. »Die Ehre, das Leben einer ganzen Familie steht auf dem Spiel …«

Während Torrence den Safe sorgfältig wieder abschließt, greift Émile erneut zum Hörer, aber diesmal klingelt es am Empfang, wo der Bürodiener Zeitung lesend im Warteraum sitzt. Ihr Gespräch ist kurz, wenn man es überhaupt als Gespräch bezeichnen kann. In Wirklichkeit sagt Émile nur:

»Hut …«

Gleichzeitig runzelt der junge Rotschopf die Stirn. Als der Safe wieder geschlossen ist, lehnt sich Denise taumelnd an Torrence’ Schreibtisch und stammelt:

»Oh, ich bitte um Verzeihung! Ich konnte es bis jetzt zurückhalten … Aber es war solch eine Anspannung … Jetzt, wo meine Aufgabe fast erledigt ist, werde ich … Ich …«

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragt Torrence besorgt.

»Ich weiß nicht, ich …«

»Vorsicht!«

Sie ist in seine Arme gesunken. Ihre Augen sind halb geschlossen. Sie ringt nach Luft und kämpft gegen die Ohnmacht an.

Torrence will um Hilfe rufen, aber sie protestiert.

»Nein. Verzeihen Sie bitte. Es ist wirklich nichts. Nur ein dummer Schwächeanfall …«

Sie versucht ihn anzulächeln, ein armseliges, kleines Lächeln, das das Herz des kräftigen Torrence rührt.

»Sie werden doch um vier Uhr hier sein, nicht wahr?«, fragt sie. »Dann komme ich mit meinem Vater. Sie werden alles erfahren. Jetzt bin ich ganz sicher, dass Sie uns Ihre Hilfe nicht verweigern.«

Sie steht in der Mitte des Büros. Sie bückt sich.

»Mein Handschuh«, sagt sie. »Auf Wiedersehen, Monsieur, ich kann Ihnen versichern …«

Barbet, der Bürodiener, den sie so nennen, weil seine strähnigen Barthaare an den gleichnamigen Vogel erinnern, bringt sie zur Tür. Sobald sie im Treppenhaus ist, setzt er seine in der Cité Bergère berühmte grünliche Melone auf, zieht seinen Mantel an, geht durch ein anderes Treppenhaus hinunter und erreicht so noch vor der Besucherin die Rue du Faubourg Montmartre.

Was Torrence angeht, der hat sich zu dem kleinen Spiegel umgedreht und Émile kaum merklich zugezwinkert. Émile verlässt sein Büro und betritt das des Chefs.

»Und, was sagst du zu der Kleinen?«

Worauf der Angestellte mit dem zu kleinen Anzug in einem Ton antwortet, der keine Widerrede duldet:

»Ich denke, dass du ein verdammter Esel bist!«

Jeder, der jemals einen Fuß in die Agence O gesetzt hat, jeder, der in schwierigen oder bedrohlichen Situationen den berühmten Detektiv Torrence um Hilfe gebeten hat, wäre nicht wenig überrascht, ihn so zu sehen: Mit schamrotem Gesicht, hängendem Kopf und vor Verlegenheit stotternd steht er vor dem jungen Mann, den er gelegentlich als seinen Angestellten oder seinen Fotografen und manchmal als seinen Fahrer vorstellt.

Und in der Tat hat Émile sich verändert. Natürlich ist sein Anzug nicht größer oder weiter geworden. Seine Haare sind immer noch genauso flammend rot, und er hat immer noch Sommersprossen und kurzsichtige Augen hinter der Hornbrille.

Dennoch, er sieht nicht mehr so jung aus. Fünfundzwanzig? Fünfunddreißig? Wer das einschätzen kann, muss schon ein verdammt kluges Kerlchen sein. Seine Stimme ist trocken, schneidend.

»Was hattest du in der linken Jackentasche?«, fragt er.

Torrence überprüft seine Taschen.

»Oh, mein Gott!«

»Mein Gott, in der Tat! Wenn du glaubst, dass eine junge Frau in deine Arme fällt, weil sie dir nicht widerstehen kann …«

»Aber sie war …«

Torrence ist niedergeschmettert, entsetzt und gedemütigt.

»Es tut mir leid, Chef. Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich bin ein verdammter Esel, du hast recht. Was sie mir da aus der Tasche gezogen hat … Das ist eine Katastrophe … Wir müssen ihr hinterher. Wir müssen sie finden, koste es, was es wolle …«

»Barbet ist ihr auf den Fersen.«

Obwohl er daran gewöhnt ist, kann Torrence nicht umhin, wieder einmal erstaunt zu sein.

»Das Taschentuch, nicht wahr?«, fragt Émile.

»Ja. Du weißt ja, ich hab’s vorsichtig in einen alten Umschlag gepackt und dachte mir, dass ich heute Nachmittag …«

»Mach den Safe auf, schnell, Idiot!«

»Du willst, dass … Ich soll den …«

»Beeil dich, verdammt noch mal!«

Torrence gehorcht. Trotz seiner Größe und seines Umfangs ist er nur ein kleiner Junge, wenn er dem dünnen jungen Mann mit der Brille gegenübersteht.

»Hast du immer noch nicht begriffen?«

»Was begriffen?«

»Nimm den Umschlag aus dem Safe. Leg ihn auf deinen Schreibtisch. Nein, auf den Boden. Das ist sicherer …«

Also nein! Diesmal übertreibt der Chef aber wirklich. Torrence kann sich nicht vorstellen, dass ein Umschlag, der höchstens ein Dutzend Seiten enthält …

Stimmt schon, dass es kleine Bomben gibt, aber sicher nicht so klein, dass …

»Ich hoffe nur, dass sie Barbet nicht entwischt«, bemerkt Émile.

Das schlägt dem Fass den Boden aus. Torrence ist sprachlos. Barbet entwischen, also wirklich! Als ob es je einer geschafft hätte, Barbet abzuhängen!

»Erinnerst du dich, was einen guten Obergefreiten ausmacht, Torrence?«, fragt Émile. »Er ist groß, kräftig und dumm. Also, wenn das so weitergeht, fürchte ich, dass du’s bald bis zum Obergefreiten bringen wirst!«

»Was soll ich dazu sagen?«

»Nichts. Sag mir nur, was wir heute Morgen gemacht haben.«

»Die Versicherung hat heute Morgen um acht angerufen, damit wir uns …«

»Wie oft ist das in den letzten sechs Monaten vorgekommen?«

»Da muss ich in meinem Kalender nachsehen. Vielleicht zwölf- oder dreizehnmal …«

»Und was haben wir jedes Mal am Tatort gefunden?«

»Nichts.«

»Du meinst, wir haben jedes Mal einen ausgeraubten Juwelierladen vorgefunden. Jedes Mal die gleiche Methode. Ein Mann lässt sich am Abend zuvor in dem Gebäude einschließen. Ein Mann, der über Schlösser nur lachen kann, egal, wie ausgetüftelt sie auch sein mögen, und der von jeder Alarmanlage, die je erfunden wurde, weiß, wie man sie austrickst. Einer, der seinen Job sauber und fehlerlos erledigt. Welche Spuren hat er bis jetzt hinterlassen?«

Torrence wird rot wie ein Schuljunge, der seine Hausarbeiten nicht gemacht hat.

»Überhaupt keine Spuren.«

»Und was war heute Morgen im Juwelierladen in der Rue Tronchet?«

»Wir haben ein Taschentuch gefunden.«

»Sagt dir das nichts?«

Torrence gibt seinem Schreibtisch einen ordentlichen Faustschlag.

»Was bin ich doch für ein Esel! Ein verdammter Esel! Ein gottverdammter Esel!«

»Riechst du nichts?«

Torrence schnüffelt. Die breiten Nasenflügel dieses guten Essers schlagen die Luft wie die Flügel eines Vogels.

»Nein, ich rieche nichts.«

Zwei- oder dreimal hat Émile bereits einen besorgten Blick auf das Telefon geworfen.

»Ich hoffe nur, dass Barbet …«

Sechs Monate lang hat die Agence O mit leeren Händen dagestanden. Sechs Monate sind vergangen, seit sich die größte auf Schmuckversicherungen spezialisierte Versicherungsgesellschaft an die Agentur gewandt hat, weil die Polizei nichts erreicht hatte. Dreizehn Diebstähle in sechs Monaten. Ohne eine Spur. Ohne den kleinsten Anhaltspunkt.

Und heute Morgen … Torrence und der rothaarige Émile waren, die schwere Fotoausrüstung mit sich schleppend, zur selben Zeit am Tatort erschienen wie die Polizei. Vor dem Schaufenster des Juweliers hatte sich eine Menschentraube gebildet.

»Entschuldigung, Chef«, rief Émile. »Könnten Sie mir bitte mal helfen, einen neuen Film einzulegen?«

Torrence kam. Émile flüsterte ihm zu:

»Unter meinem Fuß … Ein Taschentuch … Sei vorsichtig.«

Torrence ließ etwas fallen, und während er sich bückte, um es aufzuheben, schnappte er sich das Taschentuch. Etwas später, als ihn niemand beobachtete, steckte er es in einen Umschlag, den er in seiner Tasche verschwinden ließ.

Wer könnte das gesehen haben? Vielleicht einer, der draußen in der Menge zwischen den zwei- oder dreihundert Schaulustigen stand.

Im Taxi, mit dem sie zurück in die Cité Bergère gefahren waren, hatten sie sich das Taschentuch angesehen. In der einen Ecke war ein Wäschereizeichen.

»Jetzt haben wir ihn«, hatte Émile gesagt. »Torrence, du fängst heute Mittag damit an, die Pariser Wäschereien abzuklappern …«

Das Telefon klingelt.

»Hallo? Ja … Wo? Im Quatre Sergeants? Nun, dann isst du eben auch zu Mittag, alter Junge. Was soll ich dir sonst sagen? Wenn du den Fehler machst, sie aus den Augen zu verlieren …«

Dann erklärt er Torrence:

»Dein junges Fräulein aus La Rochelle sitzt jetzt im Restaurant Quatre Sergeants an der Bastille und hat gerade ihr Mittagessen bestellt … Riechst du immer noch nichts?«

»Ich glaub, ich krieg eine Erkältung, Chef.«

»Aber das sollte dir nicht auch die Augen verstopfen …«

Von dem gelben Umschlag auf dem Boden steigt eine dünne Rauchfahne auf. Torrence will sich auf ihn stürzen.

»Lass ihn einfach liegen, alter Junge«, sagte Émile. »Genau, was ich vermutet habe.«

»Sie wussten, dass der Umschlag anfangen würde zu brennen?«

»Wenn nicht, hätte sie keinen Grund gehabt, so hartnäckig darauf zu bestehen, dass du ihn im Safe einschließt.«

»Ich muss gestehen …«

»… dass du nichts verstehst. Dabei ist es ganz leicht. Jemand hat gesehen, wie du das Taschentuch aufgehoben und in deine Tasche gesteckt hast. Jemand hat sofort begriffen, dass wir endlich einen Anhaltspunkt haben, und da der Ruf der Agence O ein recht bedeutender ist, hat jemand Angst bekommen. Wann sind wir ins Büro zurückgekommen, Torrence?«

»Um halb elf.«

»Und um elf kommt diese Denise hereinspaziert. Wo konnte das Taschentuch zu diesem Zeitpunkt sein? Entweder war es noch in deiner Tasche, oder du hast es auf den Schreibtisch gelegt oder, noch besser, da du ein vorsichtiger Mann bist, hast du es vorübergehend in den Safe gelegt. Sieh mal …«

Jetzt züngelt eine kleine Flamme aus dem Umschlag, und dann, wenig später, ist er samt seines Inhalts verbrannt.

»Da hast du’s! Hättest du den Umschlag im Safe liegen lassen, wären jetzt alle Unterlagen darin verbrannt. Ein kleiner Trick, den man schon als Chemiestudent lernt. Man tränkt Löschpapier mit irgendeiner chemischen Lösung, und in Verbindung mit Luft geht es nach einer gewissen Zeit in Flammen auf.

Während dir die junge Dame aus La Rochelle ihr Märchen aufgetischt hat und du darauf eingegangen bist, ist sie in deinem Büro auf und ab gegangen und hat jede Kleinigkeit aufgenommen.

Du hast den Safe aufgemacht, und sie hat sich vorgebeugt und direkt hineingeschaut. Den Umschlag mit dem Taschentuch hat sie nicht gesehen.

Also steckte es mit großer Wahrscheinlichkeit noch in deiner Tasche. Dann musste sie dir eben noch eine kleine Komödie vorspielen, die des erschöpften Fräuleins, das ohnmächtig wird und sich an die Schultern ihres netten, fetten Retters klammert.«

»So fett bin ich nun auch wieder nicht«, protestiert Torrence.

»Trotzdem ist es ihr gelungen, und während sie in deine Arme gesunken ist, hat sie sich das Taschentuch zurückgeholt, und wenn dieses Untier von Barbet sie unglücklicherweise verliert …«

Er nimmt seinen Hut und Mantel.

»Ich gehe besser und kümmer mich selbst darum.«

»Wollen Sie mich dabeihaben, Chef?«, fragt der arme, eingeschüchterte Torrence mit der Haltung eines geprügelten Hundes.

Und doch wird er in der ganzen Welt als einer der größten Detektive angesehen.