Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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Kein und Aber oder die gestohlene Zunge
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Impressum

Copyright: © 2016 Gabriele Plate

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Umschlagbild und Gestaltung: Gabriele Plate

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GABRIELE PLATE

Kein und Aber

oder die gestohlene Zunge

Roman

Für Ananda

Über dieses Buch

Paul wird durch die Folgen seiner leidenschaftlichen Liebe zu der sanften Aisha in einen Neustart geschleudert. Domestiziert und geprägt vom Bann eines selbstgefälligen und erfolgreichen Vaters, zwängt er sich durch das Nadelöhr des Schicksals.

Pauls Verhalten gegenüber Trauer, lebensbedrohlichen Situationen oder folgenschwerer Lügen, ergründet seine Persönlichkeit, fordert seine Courage, die er nicht zu besitzen glaubt. Er wird unsanft in sein eigenes Leben hineingestoßen, in einen Strudel gegensätzlicher Gefühle und Moralvorstellungen.

Eine spannende Erzählung von Liebe und ihren Schatten, von gesellschaftlichen, religiösen und politischen Querelen unserer Zeit und dem wachsenden Unvermögen ihnen erfolgreich zu begegnen. Vorurteile und Schuld werden vom Anspruch des Verzeihens begleitet, vom Zweifel des Glaubens, vom kritischen Aufbäumen und dem Zurücksinken in das Plätschern geregelter Bahnen.

Gabriele Plate, Jahrgang 1950, Landschaftsarchitektin und Bildhauerin, langjährige Aufenthalte in Peru, Indien und Brasilien. Die Autorin lebt seit vielen Jahren in Spanien, im Hinterland der Costa Blanca.

Weitere Romane von G.P. :

Edda - oder der faule Apfel im Zwischenraum

Die Trennung - oder im Galopp durchs Nadelöhr

Obwohl - oder die Eleganz der Schuld

Paul und die Lippe

Der linke obere Schneidezahn seines vorbildlichen Gebisses hatte sich in den letzten Monaten ein wenig seitlich gedreht. Minimal, etwa um einen Millimeter, vielleicht nicht ganz. Dieser kleine Millimeter Drehung verursachte eine kaum wahrnehmbar hervorstehende Ecke, und diese Zahnecke nagte verbissen an seiner Unterlippe, die sich währenddessen schief in den Mund lutschen ließ. Wieder, und immer wieder.

Die Ecke nagte mit Schwung, mal heftig, mal etwas sanfter, doch unaufhörlich, als sei sie zu ihrer wahren Bestimmung gelangt, als solle hier der Beginn des Aufzehrens seiner Person stattfinden, als könne diese winzige Ecke die ihr zugehörige Person vom Erdboden verschlucken!

In unerträglichen Momenten ersehnte Paul zwar sein spurloses Verschwinden, aber sich selbst zerfressen? Und warum sollte der Fraß an der Unterlippe beginnen, wäre die Zunge dafür nicht naheliegender, als nächst erreichbares Organ zum Zahn? Damit vielleicht zuerst die Worte verstummen? Damit ein Ende in Stummheit allem Ende näher wäre?

Nein, nicht die Zunge! Wenn dieser Gedanke von Paul schon unbedingt durchdacht werden wollte, müsste für ihn, dieses absonderliche Verlangen an anderer Stelle angesetzt werden. Vielleicht zuerst an den Fingerspitzen, um sich dann über die Knöchelchen zur Hand hinaufzuknabbern. Handfertigkeit benötigte er nicht, Handfertigkeit vermisste die Welt an Paul nicht mehr. Zumindest glaubte er das.

Er könnte mit diesem Bedürfnis auch bei den Zehen beginnen, dazu müsste sein Körper allerdings erheblich jünger sein, erheblich flexibler, wie bei einem Kleinkind. Ein jüngerer Sich-Auffresser?

Nein, jünger wollte er nicht sein, nicht um einen Tag jünger! Das hieße zurück! Und er müsste alles Erlebte noch einmal über sich ergehen lassen. Eine abscheuliche Vorstellung, die nur eine Schreckvorstellung sein konnte, denn wer oder was auch immer dieses Dasein eingerichtet hatte, der Rückwärtsgang war nicht mit eingebaut worden. Das hatte schon Kierkegaard in treffende Worte gekleidet. „Die Bewegung der Zeit ist eine unumkehrbare Richtung, wir leben vorwärts, können jedoch nur rückwärts verstehen.“

Paul verstand auch rückwärts nicht. Er wollte es nicht verstehen. Er eilte weiter, auch ohne jüngere Jugend und wurde in Gedanken, über die Zehen, zu seinen Füßen verwiesen, zu den Fußgelenken, Waden und so weiter. Amputation bis zum Herzen. Kein Zurück nötig. Das Herz als letzter Happen. Wie die Hoffnung. Man hoffte stark, man hoffte ein bisschen, oder man wollte dem, ganz aus dem Weg gehen, doch letztlich gelang es der Hoffnung immer wieder, sich überall einzumischen.

Wenn man dem Tod so nahe war wie Paul, wusste man, was Hoffnung bedeutet, welche Kraft sie hat, und was sie alles mit einem Menschen anstellen kann. Paul hoffte, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte, und obwohl ihn momentan die Hoffnung ekelte.

Tiere haben keine Hoffnung, das wird zumindest behauptet, sie sind demnach besser dran, da gibt es keine hoffnungsvollen Umwege zum Tod. Hoffnung kann so verwirrend sein, niederschmetternd. Sie kann schwächen, entehren und von den wahren Umständen ablenken, bis ins Verderben, um immer noch zu überleben. Aber kann sie nicht auch den Himmel öffnen und Wunder bewirken, wenn sie mit Glauben, mit reinem Glauben unterstützt wird?

Im Grunde ist jeder dem Tod nahe, das wusste Paul, obwohl sich die meisten Mitbewohner auf diesem Planeten sträuben das zu beachten. Trotzdem, Paul war überzeugt davon, dass er unfreiwillig den Vortritt erlebt und diesem gefräßigen und notwendigen Nimmersatt tief in das aufgerissene Maul geblickt hatte. Um ihm in letzter Sekunde von der Zunge zu springen. Vorerst einmal!

Schon wieder die Zunge! Beneidete er den Tod etwa um diesen wulstigen Lappen? Warum dichtete er ihm eine Zunge an. Diese Vorstellung erschien ihm doch recht unpassend für den visualisiert personifizierten Tod eines zungenlosen Mannes. Paul korrigierte sich. „Aus den triefenden Lefzen gekrochen.“ Es klang ein wenig wie aus dem Märchenbuch gegriffen. Es milderte den Schrecken. Fast konnte man lachen, aber Paul lachte nicht.

Zwei ihm nahestehende Menschen waren in kurzem Abstand gestorben, in erschreckend kurzem Abstand. Das Schicksal hatte nicht einmal den Anstand besessen, ihm eine Trauerzeit zu gewähren, ihn gebührend um seine Liebste trauern lassen, bevor es ihn erneut erfasst hatte, um ihn selbst vor die Pforten des Todes zu schleudern.

Die Drohung, über das bevorstehende Ende seines Lebens, hatte sich zügellos aufgebäumt, sie hauste in ihm mit allem Wenn und Aber ihres unfassbaren Umstandes, der in tausend verschiedene Mäntel gehüllt, täglich vor ihm abrollte.

Die Furcht vor dem Sprung in die Ewigkeit kündigte sich mit der Lippenknabberei an, unkontrollierbar. Seine Lippe wurde wenige Tage vor der nächsten Untersuchung, besonders strapaziert, nach jedem Chemoschub ebenfalls und auch in den endlos erscheinenden Tagen, bis das Ergebnis mit seinem Arzt besprochen werden konnte. Die Giftschübe waren im Rhythmus von achtundzwanzig Tagen angesagt, sie dauerten jeweils eine Woche.

Etwa ein Drittel der letzten sechs Monate schmeckte er Blut. So wie jetzt. Und es schmeckte nicht ganz so, wie es zu schmecken hatte. Es erschien ihm wie reine Chemie. In seiner Einbildung stank sein Blut sogar nach diesen einverleibten Laborerzeugnissen, ebenso wie seine Körperausdünstungen, Urin und Speichel. So wie der ganze Paul mit Haut und Haar. Wobei Letzteres sich schon lange von ihm gelöst hatte. Ein paar Haarinseln hatten sich in den ersten zwei Wochen der Therapie noch krampfhaft an ihm festgehalten, was dem Ganzen eine zusätzliche Trauer verliehen hatte. Jeden Tag hatte er sich vorgenommen endgültig eine Glatze vom Friseur zu fordern.

Und dann kam dieses, „Nein, heute geht nichts mehr, vielleicht morgen“. Aber das Morgen brachte nichts Neues. Er hatte sich verkriechen müssen. Dann hieß es im Bett bleiben, die Decke bis über die Augen ziehen und das Atmen dem Himmel überlassen. Übermorgen ebenfalls.

Nun fehlten ihm noch zwei Zyklen dieser Tortur, die beiden letzten, dann würde sich entscheiden, wer gesiegt hatte, die Statistik oder die Individualität seines Falles. Immerhin hatte man ihm nach dieser Statistik, den penibel erarbeiteten Auswertungen dieser erst wenige Jahre alten Therapie, eine achtzigprozentige Überlebenschance eröffnet.

Ziemlich hoch, meinte sein behandelnder Arzt. Paul fand das ganz und gar nicht. Wen erwischten denn die restlichen zwanzig Prozent, und vor allem warum?

Seine Augenlider hatten ihren geschwungenen Haarschmuck zuallerletzt abgeworfen. Die Brauen waren nicht einmal mehr spärlich, es gab sie nicht mehr. Das nackte pure Paul Gesicht war zum Vorschein gekommen, als hätte der frühere Haarbestand seine Durchschaubarkeit zuvor erschwert.

Dieser allerorts gefürchtete Haarverlust erschien ihm nebensächlich, nicht der Rede wert. Das war im Fall seines Überlebens eine sich erneuernde Kleinigkeit, die er als nichtssagend in Relation zum Ganzen wahrnahm. Doch diese Kleinigkeit leuchtete wie ein Ausrufer, saugte die Gedanken der Menschen ins Jenseits. Sie bemitleideten ihn nicht nur, falls sie durch seine Unachtsamkeit einen Blick auf das Nackte werfen konnten, sie hatten auch oft Angst ihn anzusehen, blickten betroffen in eine andere Richtung und machten eilends einen Schritt zur Seite, als sei sein Zustand ansteckend. Deshalb die Mütze, deshalb die lächerliche Sonnenbrille im Grau des ersten Schneegestöbers. Vielleicht war es ja ansteckend, wusste man das so genau? Allerdings, falls das zuträfe, dann sicherlich in einem früheren Stadium.

Vielleicht wurden die Menschen von Krebs befallen, weil sie sich gegenseitig mit dem jeweiligen Verlangen ihrer Zeit ansteckten. Weil sie sich infizierten mit Angst und Stress, mit Zukunftsfurcht, mit dem Mangel des Vergessenkönnens und dem Wahn der Lebensabsicherung. Mit Zukunftsvisionen materieller Sicherheit, den Irrläufern der Moral und krampfhafter Berechnung der Gefühlswelt, bis ins tausendste Jahr?

 

Das musste ja krank machen, musste etwas herbeirufen das alles zerfraß und mit seiner Wucht der Überwucherung erstickte, es auslöschte, um bei Null wieder anzufangen. Das ewige Verlangen der Zeit, Geburt, Wachstum, Ziel und Zerstörung.

Aber wieso Paul, warum ausgerechnet er? Er hatte noch kein Ziel erreicht, er war doch anders. Er hatte das Glück zu würdigen gewusst, hatte es bewusst gekostet und nicht wie selbstverständlich verschlungen. Er hatte sich in sein erstes Glück hineingetastet, sein Herz darin gebettet und die Freude begrüßt. Er war geliebt worden und er glaubte ebenfalls geliebt zu haben. Er hatte dem Schutz dieser Liebe vertraut, bis sich all diese zarte Heftigkeit der Gefühle plötzlich in einen riesigen Felsblock der Trauer verwandelt hatte, auf ihn gestürzt war und ihn zu erdrücken drohte. Und dann war er, in seiner erst kurzen Trauer, so einschneidend, so unpassend, und wie er meinte, unwürdig und brutal zu sich selbst hin abgelenkt worden.

Konnte seine Trauer diese Krankheit ausgelöst haben? Seine lebensverachtende Einstellung in diesen ersten Wochen nach Aishas Ableben? Sein oft durchdachter Wunsch der Geliebten in den Tod zu folgen? Konnte sich dieser destruktive Gedanke, einer verdrehten Solidarität, in ihm so wirksam festgefressen haben, dass seine Abwehrkräfte es als Befehl gedeutet und dadurch die unkontrollierte Zellteilung zugelassen hatten? Um dieses clevere, eigentliche Grundprinzip der Evolution, im Zeitraffer zu entfachen?

Nein, dachte Paul, so schnell funktionierte es wohl doch nicht. Er musste diese Pest der Menschheit, diesen gnadenlosen Zyklus der Mutation, Selektion und des Wucherns der Zellen, schon vorher in sich gehortet haben, vielleicht hatte seine Trauer sie nur zum Ausbruch gebracht.

Außerdem, hieß es nicht, wahre Liebe sei unsterblich? Und dass es letztlich, in einem vorgezogenen, wahrnehmbaren Letztlich, keine Rolle spiele, ob der geliebte Mensch noch unter den Lebenden weilte oder nicht?

Mit dieser Weisheit konnte Paul nichts anfangen, dieser Reichtum des Liebens hatte keine Zeit gefunden sich in ihm zu entfalten. Seine Liebe zu Aisha war nicht bis in seine Seele gelangt, sie war noch in der Verwirrung der Begierde, des stolzen Besitzens und der Reflexion seiner Zukunftswünsche steckengeblieben. Trotzdem, ohne seine Geliebte, ohne ihr lebendiges Dasein auf dieser Welt und an seiner Seite, war sein Leben nichts wert. Ohne sie, fühlte er sich seines Herzens entrissen, er schwelgte in dem Sog der Lebensverneinung und fühlte sich dort am rechten Platz.

Paul hatte nach ihrem Tod zunächst einmal die Aufnahme seiner Ernährung auf ein schmerzhaftes Maß minimiert. Ebenso das Trinken, das Schlafen und das Wachen. Er hatte seine Arbeit völlig gemieden und jeden Kontakt zu anderen Menschen abgeschnitten. Er hatte beschlossen die Askese herauszufordern, bis er hoffentlich auch starb. Aisha zur Liebe. Es hatte ihn nicht die geringste Mühe gekostet zu fasten, jeglicher Verzicht war ihm in diesem gefährlichen Sinnestaumel besonders leicht gefallen. Der Gedanke im Vergehen begriffen zu sein, noch von angenehmen Schmerz begleitet, hatte ihn berauscht und erfüllt.

Bis der Krebs ihm unerwartet zur Hilfe gekommen war und sein nekrophiles Verlangen mit realer Morbidität unterstützt und eilig vorangetrieben hatte. Der Krebs hatte sich höhnisch in das trotzige Spiel gemischt. Paul empfand ihn, wie ein Jemand, wie ein Individuum, das sich an die Spitze zur bitteren unausweichlichen Gegenwart gedrängt und ihm das Ruder plötzlich aus der Hand gerissen hatte. Genauso plötzlich war das Rad seiner Todessucht in pure, sich wild aufbäumende Lebensgier umgeschlagen.

Das Nagen an seiner Lippe stockte kurz, die Epidermis der linken Unterlippenseite war erschöpft, sie hatte zum hundertsten Mal nachgegeben und war wieder einmal aufgeplatzt. Er konnte das leicht salzige Süß seines Blutes nur ahnen, nicht schmecken, und der Geschmack von Ekel vor seinem vergifteten Blut hatte die Oberhand gewonnen.

Seine Oberlippe funktionierte fabelhaft, sie ortete die neue alte Wunde sofort und wischte eifrig darüber, als wolle sie die Zunge ersetzen. Es war nicht der geringe Schmerz, der ihr den Weg wies, die Oberlippe nahm die neue Wunde aus reiner Gewohnheit wahr, sie erkundete und streichelte diese Blessur und versorgte sie mit Speichel. Dieser kleine Reflex reihte sich zu den überlebensaktiven Automatismen, dagegen war Paul machtlos. Er konnte nichts gegen diese unerwünschte Streicheleinheit unternehmen, dafür reichte auch seine Kraft nicht. Das Bewusstsein stolperte letztlich dazu, worauf die eifrige Zahnecke ihre Tätigkeit einen Moment lang einstellte, und mit ihr, das willige Hineinsaugen der unteren Lippe in den Mund.

Paul erstarrte gelassen. Eine seiner Begabungen. Er witterte ein Gegenüber, einen Beobachter, abgesehen von sich selbst. Dieses weibliche Gegenüber entnahm aus der inneren Brusttasche eines taillierten, mit bunt besticktem Futter versehenen Mantels, ein Stofftaschentuch, entfaltete es flugs und tupfte damit behutsam seine Lippenblessur. Sie sprach ihn an.

„Moment mal, sorry, Sie sollten diesen Unsinn wirklich lassen!“ Ein starker, runder Akzent rollte über ihre Lippen. Eine Engländerin? Paul stieg vollends aus seinem Gedankenknäuel heraus und drehte sich ein wenig zur Seite, jedoch ohne ihre mitmenschliche Geste abzuwehren. Diese Frau stand dicht neben ihm im Bus und offenbarte flink, mit einigen weiteren Sätzen, einen Teil ihrer Gesinnung. Ein bleiernes Konglomerat aus erfolgreicher Geschäftsfrau, Managerin und Psychotherapeutin schwebte ihm entgegen. Gepflegter Geist und Belesenheit lugten aus den nächsten fünf Sätzen hervor. Er empfand diese Zusammensetzung als Zumutung, etwas passte nicht, etwas war klebrig unangenehm. Konnten Geist und Belesenheit unangenehm sein?

Ja, das konnten sie, in höchstem Maße. Paul empfand dieses Gerede nervig, überheblich, besserwisserisch und aufgesetzt. Ähnlich, als würde ein Onkologe in einem Sterne-Restaurant, bei Champagner und Kaviar über den letzten erfolglosen Fall reden. Überheblich, als sei dieser Sprecher mit dem amüsanten Tonfall, selber für immer und ewig in Sicherheit. In Sicherheit vor den Krankheiten, die er erfolglos behandelte.

Diese Art von Gesprächen hatte Paul oft genug mitanhören müssen. Er hatte diesen Zusammenkünften, in welchen man sich ausschließlich über die komplizierten Fälle zu unterhalten pflegte, immer äußerst ungern beigewohnt. Man traf sich in den exklusivsten Restaurants der Stadt. Doch seine Teilnahme war, in nicht allzu ferner Vergangenheit, von ihm erwartet worden. Paul hatte bei diesen Treffs immerhin den Haupteigner einer berühmten Privatklinik vertreten, als rechter Arm seines Vaters, dem diese Klinik gehört hatte.

Ja, Belesenheit konnte sehr lästig auf ein Gegenüber wirken, aber der Geist? Man konnte doch in wenigen Minuten nicht feststellen, ob ein Mensch diesen in sich hat erwachen lassen, oder ob er im Nebel schwamm.

Paul wägte neuerdings solche Dinge schnell ab. Eine Frage nach der Uhrzeit, und er glaubte bereits zu wissen wes Geistes Kind sie gestellt hatte. Diese Frau war außerdem für seinen Geschmack zu sorgfältig und offensichtlich kostspielig gekleidet. Sie war sehr auffällig geschminkt und übertrieben frisiert. Er dachte an eine Maskerade. Sie funkelte in diesem Bus, wie ein Stern im tiefsten Stollen eines Steinkohle Bergwerks. Was machte dieser Komet zur Zeit der zweiten, morgendlichen Rushhour in einem Linien Bus, warum saß diese Erscheinung nicht mindestens in einem Taxi?

Vielleicht hatte sie gerade ihren Chauffeur gefeuert. Vielleicht hatte er einen Unfall verursacht und ihren Jaguar zu Schrott gefahren, und sie war ärgerlich und ungehalten davongestürmt. Aber warum mit dem Bus? Dieser Chauffeur war bestimmt verletzt worden, und so wie er diese Frau einschätzte, hatte sie ihn seinem Schicksal überlassen. Möglicherweise ohne Krankenversicherung. Frauen wie diese zum Chef zu haben, war bestimmt kein Honigschlecken. Wahrscheinlich ein mieser Arbeitsvertrag oder gar keiner, und der alte Mann konnte nun sehen wo er blieb.

Paul lenkte sich in letzter Zeit oft in Gedanken von seinem Elend ab, indem er Situationen oder Gegebenheiten, die hätten sein können, es aber nicht waren, durchdachte. Seine Gedanken verließen den imaginären Chauffeur und wandten sich der über ihn schwappenden Hilfsbereitschaft der vermeintlichen Verächterin sozialer Gerechtigkeit zu. Er ordnete dieser Frau Überfluss zu, selbstverständlichen Überfluss, der von ihr ebenso selbstverständlich als Tugend an sich anerkannt wurde. Ihr Auftreten bewies ihm das. Sie gehörte zweifellos zu Jenen, die besaßen und sich sicher waren, zu Recht zu besitzen. Er kannte diesen Geruch. Das Geld zirkulierte beinahe sichtbar an der Oberfläche, so wie es seinen Vater gekleidet hatte. Obwohl sein Vater diese fragliche Tugend lieber wie einen Heiligenschein über sich hatte schweben lassen.

Ihre Unbefangenheit rundete sein Vorurteil ab, er hatte nicht das geringste Interesse an dieser Person. Paul brachte eher Verständnis oder Sympathie für zurückhaltende, bescheidene bis hilfsbedürftige und weniger kostspielig gekleidete Frauen auf, es konnten auch hoffnungslos verlorene Wesen sein.

Und dann gab es plötzlich einen gewaltigen Ruck in seinem Gedankenablauf. Etwas, das wie ein Riss in seine Herzgegend fegte. Er nahm erstaunt seine Sonnenbrille ab. Die erahnte Managerin hatte wiederholt seine Lippe von einigen erneut hervorquellenden Blutstropfen befreit und dabei zum ersten Mal den Augenkontakt bewerkstelligt, erzwungen, denn ihre andere Hand hielt mit zartem Griff sein Kinn fest. Seine Nasenflügel bebten, er nahm von dieser Hand einen undefinierbaren Geruch wahr, es war ein Geruch, der ihn beinahe zu Tränen rührte.

Paul war in den letzten Monaten ein echter Smeller geworden. Er roch nicht, er witterte, und er zerlegte das Gewitterte in von ihm erfundene Geruchssequenzen. Seine erzwungene Sprachlosigkeit hatte sich, zusammen mit der Wirkung der Chemieprodukte, zu einer unerhörten Schärfung seiner Sinne arrangiert, das war ihm größtenteils lästiger als dass es ihn bereicherte. Doch hier, an diesem späten Morgen in einem Linienbus, war es ausnahmsweise einmal bereichernd.

Ihre gepflegten Fingernägel robbten sanft über sein Babykinn, während er wie ein kleines erregtes Tier daran schnupperte. Seine Erregung war fast greifbar. Eine unbedingte Vertrautheit ohne Worte schwappte über ihn, ausgehend von ihrem Duft, ihrem Blick und dem leichten Schleifen über sein Kinn. Er verhielt sich ganz still, als sei er ein braves Kleinkind, dessen Mutter seinen Mundbereich von Essensresten säubert. Diese Vertrautheit schlich sich nicht ein, sie stürmte über sein Ganzes und nahm Besitz von ihm.

Nun hätte sie die Nebenfrau des Diktators eines afrikanischen Kleinstaates sein können, seine in den letzten Monaten selbst auferlegte Abneigung gegen Betrachter, besonders gegen weibliche, war für einige Sekunden zum Erliegen gekommen. Er reagierte, wie aus einer Lähmung heraus, wie ein Beutetier, das sich dem Blick der Schlange nicht entziehen kann. Er stand dort an die Haltestange geklemmt und starrte zurück. Ganz gegen seine Gewohnheit.

Der Zustand dieses plötzlichen Gedankenstillstandes wurde von einem Phänomen begleitet, in Form einer Nähe, die den Verstand ignorierte. Diese Nähe war direkt aus dem Unterbewusstsein hervorgestürmt, sie hatte alle Gedanken weggefegt und war ohne die geringste Bewegung des Zweifels in ihm. Diese Nähe ergriff alles und glühte in Paul. Er erlebte die Erlösung einer Vertrautheit, die in der Tiefe seines Anfangs ruhte, wie ein Luftsog aus seinem „Frühsten Sein“. Ein Zustand, der wie eine Lichtquelle in seinen grauenhaft kalten Morgen gehievt worden war. Eine Dimension, fern von Trauer oder Schmerz, eine Dimension des wunschlosen Angekommen-Seins.

Dieser Moment der Erfüllung dauerte nur wenige Sekunden. Dann platzte diese Blase einer wahren Wirklichkeit, und eine Art Hoffnung kam zurück, obwohl Paul zuvor jeder Hoffnung gedanklich vermeintliche Fußtritte verpasst hatte.

Der Anstoß eines Draußen, der ihn im innersten Drinnen des Seins getroffen hatte, war durch dieses Taschentuchwesen ausgelöst worden. Einer Person, die er, nach seinen so hastig erhaschten Vorurteilen, als akzeptables Mitglied, seines ohnehin sehr knappen Bekanntenkreises, normalerweise nicht zugelassen hätte.

Die erahnte Chauffeurtyrannin sah ihn immer noch schweigend an, Tränen unterstrichen ihren intensiven Blick, als sei er dadurch zusätzlich in Anführungsstriche gebettet worden. Pauls Lähmung löste sich, es blieb das Erstaunen.

 

Wie war das möglich? Etwas an dieser Person, die ihm wie aus einer Modezeitschrift entglitten schien, hatte den Sprung auf eine andere Seins-Ebene in ihm ausgelöst. Ein glückliches Kinderlachen wäre ihm für solch einen Sprung erklärbar gewesen und viel lieber. Oder ein schillernder Käfer, ein sich im Wind wiegender Blütenbaum, tausendmal lieber. Selbst ohne Blüten, einfach nur ein Baum, mit oder ohne Laub. Paul saß gerne unter Bäumen, dann lauschte er endlos und erhoffte sich die Lösung.

Die Frau brach erneut das Schweigen. Dieser Bruch transportierte unerwartet hilflose Schmeicheleien aus ihr hervor. Die glitzernden Tränen schrieb Paul ihrem Mitleid mit ihm zu. Schauerlich! Sie hatte seinen Zustand zweifellos erkannt.

Sie überschüttete ihn plötzlich, ganz im Gegensatz zu vorher, mit abgedroschenen Sätzen, mit süßlich verstellter Stimme und mit einem Eifer, als wollte sie etwas Billiges teuer an ihn verkaufen, oder auf Teufel komm heraus, diesen nadelöhrschmalen Kontakt festhalten und vernähen. Ihr gefiel seine Lederjacke, sie fragte nach seinem Rasierwasser, sie fand das Wetter fantastisch winterlich, und sie hatte, nach unzähligen weiteren Bekundungen, Lust auf einen Kaffee mit ihm.

Paul klapperten diese Bedeutungslosigkeiten vor die Füße. Rasierwasser? Lächerlich, er benutzte keins, es gab seit Monaten nichts zum Rasieren, und der Schneematsch war ekelhaft. Ihre jetzige Wortwahl gefiel ihm noch weniger als das hochtrabende Gerede zuvor.

Paul war lang, dürr und wenig mutig, ein kranker Ritter, sein Schwert war die Wollmütze. Trotzdem, er hatte den Eindruck, als erwartete sie, dass er sie ebenfalls mit Komplimenten überschütte. Wie Unrecht er hatte!

Er vernahm weiterhin ihr ununterbrochenes Klappern, als bemühe sie sich krampfhaft, ihn zu beeindrucken, um sein Vertrauen zu gewinnen. Er zeigte eine gequälte Mine mit einem Ausdruck der Bitte, ihn in Frieden zu lassen. Er bedauerte, das nicht sagen zu können. Verdammt, was ging ihn diese fremde Person überhaupt an!

Paul fühlte sich durch ihre übertriebene Aufmerksamkeit nicht nur belästigt, sondern auch bestürzt. Solches und ähnliches Gehabe um seine Person war immer wieder verletzend, da er wusste, dass all diese abgedroschenen und doch süßen Worte um eine erwünschte Bekanntschaft mit ihm, sich in betretenes Schweigen auflösen würden, sobald der fremde Ausrufer den Fehler erkannt hätte. Pauls Fehler!

Denn Paul war nicht in der Lage zu antworten. Zumindest nicht mit normal verständlichen Worten. Seine Blicke, Gesten, Mimik und Körperbewegungen, das war seine Sprache. Er konnte schreien, die Kehle funktionierte und er beherrschte die zungenlosen Buchstaben und Laute, Zustimmungen oder Verneinungen, die sich mit den Kehllauten zufrieden gaben. Auch wenn diese Laute gerne im Rachen steckenblieben, als hätte sich ein Wollfäustling darüber gefaltet. Laute, die keine Zunge benötigten, das waren seine Übergangsretter. Retter, die er inzwischen auf eine Art von sich zu geben wusste, ohne dass man auf ihn wie auf einen Schwachsinnigen reagierte oder ihn behandelte, als sei er im Zustand der Volltrunkenheit. Denn so erschien es dem Zuhörer, wenn Paul mit den Silben rang, wenn er versuchte verständliche Worte über seine Lippen zu würgen. Außerdem antwortete man ihm, wenn seine unstimmigen Laute erklangen, wenn man seinen „Fehler“ erkannt hatte, ungehörig laut. Dann wurde geschrien, als sei er zusätzlich gehörlos.

Niemals wieder würde er versuchen, gegenüber Unbekannten, das Wort als Mittel der Kommunikation zu wählen. Es gab allerdings auch Menschen, die sich mit ihm unterhielten und nicht einmal bemerkten, dass er nicht sprach. Dann nahm er an einem Gespräch nur mit dem Laut einer Zustimmung, Verneinung oder einem Hmhm teil. Ein Hmhm, mit dem fragenden Sound nach oben, reichte ihnen. Dann waren nicht einmal seine mühsam einstudierten Silben ohne Zungenlaute nötig.

Diesen Menschen galt er als besonders angenehmer Gesprächspartner. Die willkommene Wichtigkeit, eines weniger aufmerksamen als stummen Zuhörers, offenbarte sich ihm erstaunlich oft. Paul gab keine missionarisch gefärbten Ratschläge, nie protestierte er lauthals oder behauptete hartnäckig das Gegenteil, und niemals unterbrach er einen Redeschwall. Etwas, was ihn so ungeheuer köstlich für ein redefreudiges Gegenüber erscheinen ließ. Jene Wenigen, die wussten, dass er nicht sprach, brachten ihn erst gar nicht in die vermeintliche Verlegenheit einer erwartenden verbalen Antwort. Und Jene, die es weder wussten noch bemerkten, ereiferten sich genügend an ihren eigenen Worten.

Der auffallend attraktive und einst so sprachgewandte Paul entschied, meist schon nach den ersten Sekunden einer Begegnung, sein Lächeln aufzusetzen, während er in eine gedankliche Abgeschiedenheit floh. Diese Situationen, die er versuchte zu vermeiden wo immer es ihm möglich war, strengten ihn ungeheuer an. Er war sehr müde geworden, nur Laute, wie diese Ahs und Ohs oder auch Hms, mit oder ohne Fragezeichen, waren ihm im Notfall noch zu entlocken. Er isolierte sich vollends. Es sei denn, sein behandelnder Arzt saß ihm gegenüber.

Paul, der Schönheitschirurg, hatte keine Zunge mehr, sie war ihm gestohlen worden. Abgeschnitten und verschwunden! Er war ein junger, gutaussehender Mann gewesen, ein wenig leidenschaftlich engagierender Chirurg und ein flügelloser Vogel nun.

Paul hatte am späten Morgen, in der Nähe des Klinikgeländes, an einer Bus Haltestelle gestanden. Er hatte zuvor jede hilfreiche Begleitung energisch abgewiesen.

Es zeigte sich keine Richtung. Er drehte sich langsam ruckweise nach links, ohne bewussten Bedacht in dieser Bewegung, willenlos von seinem Körper vollzogen, wie in völliger Abwesenheit. Seine Füße begleiteten sich im Gleichruck und gaben zentimeterweise diesem abwesenden Wunsch der Drehung nach. Ohne seinen Standpunkt zu verändern drehte Paul sich langsam um sich selbst. Das symbolisierte seinen derzeitigen Lebenszustand. Einmal links herum und einmal rechts herum. Dreihundert zweiundsechzig Grad, zurück und im Kreis.

Er schloss die Augen nicht, die Arme hatte er weit von sich gestreckt, es schien, als suche er Empfang, und er bohrte sich dabei unmerklich langsam in die Tiefe. Ein oberflächlicher Beobachter hätte ihn, seiner Bewegung und seinem glasigen Blick nach zu urteilen, für einen Geisteskranken halten können. Nur ein Geisteskranker verhielt sich so, oder ein Kind, ein abwesend spielendes Kind.

Unter seinen Füßen hatte sich ein perfekter Kreis in den Sand gescharrt, sich hinein geschraubt. Sandhäufchen, die sich wie längliche Dünen seitlich der Schuhsohlen gebildet hatten, wurden langsam fast unmerklich aus dem runden kleinen Feld hinauf geschoben. Sie verstärkten den äußeren Rand des Kreises, es entstand ein kleiner, runder Damm.

Das Unbekannte existiert überall, rundherum, in jedem Millimeter, undefiniert aber vorhanden verbirgt es sich in dem Bekannten. Paul roch es deutlich. Ein Schwarz, unendlich und doch ersehnt, und manchmal schnellte es hervor. Es gab Tage, da wurde er schon beim ersten Zeichen des Erwachens von diesem Schwarz und seinem Angstnebel geknebelt. Das Unbekannte lauerte dann wie ein Abgrund des Endes, als Unvorstellbarkeit, als Gewinner des Hohns. Sein Tagesablauf, seine Schritte, Atmung oder Hungergefühle, besonders die voluminöse Medikamenteneinnahme, all das erschien ihm dann völlig absurd. Dieser Zustand verwandelte ihn in einen Regenwurm, der versucht einen Schmetterling zu fangen.

An anderen Tagen konnte das Schwarz in ihm die Stimmung der Bewegung erzeugen, des Abenteuers, der unbedingten Aufforderung, dieses Schwarz mit Licht und Farben bekannt zu machen. Dann schien es alles beinhalten zu können und in seinem Dunkel sogar zu glänzen, ebenso wie in seinem erfundenen Duft des Lichtes. Dann war die Angst wie ein Freund, der zum Leben aufrief, zum Kampf. Gegensätze im allgemeinen Inhalt, der Hoffnung und des Abgrundes.