Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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Der Pilot und die Nichte

Paul schickte an einen guten Freund und Ex-Patienten seines verstorbenen Vaters eine Nachricht, mit der dringenden Bitte, ihn nach Marrakesch zu fliegen. Unbedingt heute noch, schrieb er.

Der Bekannte fühlte sich Pauls Vater immer noch zu tiefst verpflichtet. Sein Gesicht, das in Jugendjahren durch einen schweren Motorradunfall verunstaltet worden war, hatte der Chirurg, durch zahlreiche und über einige Jahre hingezogene Operationen, wieder herzustellen gewusst. Die geschickte Hand, das außergewöhnliche Können und der unersättlich berufliche Ehrgeiz, des inzwischen Verstorbenen, hatten ihn damals von seiner Verunstaltung erlöst. Er nahm gerne die Gelegenheit wahr, Paul einen Gefallen zu erweisen. Außerdem fehlte ihm für dieses Jahr noch eine gehörige Anzahl an Flugstunden, die er benötigte, um seinen Flugschein nicht erneuern zu müssen.

Vier Stunden später saß Paul in der kleinen Maschine mit dem Flugziel Marrakesch. Das Flugzeug eignete sich sogar für Atlantikflüge, dadurch benötigte man keine Genehmigung für eine Zwischenlandung um aufzutanken, falls man über den Großen Teich wollte. Auch bei dem Marokko-Flug war nur die Angabe des Zielflughafens und die Bestätigung einer Landeerlaubnis nötig, zu der Rückmeldung dieser Bestätigung kam es allerdings nicht.

Der Pilot kannte die Maschine sehr gut, er hatte sie oft, zusammen mit seinem verstorbenen Freund, geflogen. Sie hatten dieses Hobby gemeinsam genossen und gemeinsam finanziert. Erst vor kurzem war die Wartung organisiert worden. Er hatte sich sofort bereit erklärt, Paul den Wunsch zu erfüllen, ihn spontan nach Marokko zu fliegen.

Seine Nichte war für einige Tage zu Besuch bei ihm, sie wurde gebeten ihn als Copilotin zu begleiten. Es galt in dieser Familie als selbstverständlich, dass auch sie eine Flugerlaubnis besaß, nicht außergewöhnlicher, als ein Sturzhelm zum Mountainbike. In der Eile einen anderen Copiloten aufzutun, wäre nicht einfach gewesen. Außerdem freute der Onkel sich auf diesen Extra Trip mit seiner Nichte. Er hatte sich drei, eventuell auch vier Tage von seinen Verpflichtungen als Konzernchef zurückziehen können, sich abgeseilt, wie er es augenzwinkernd vor der Nichte ausdrückte. Er konnte nicht ahnen, dass ihn dieses Abseilen in die Ewigkeit führen würde.

Als sie am Flughafen ankamen, stand Paul schon an der Maschine, er begrüßte die beiden kurz und dankbar. Der Pilot zeigte großes Mitgefühl für den „armen Paul“, stellte keine weiteren Fragen, sondern klopfte ihm nur herzhaft auf die Schulter, so dass Paul leicht in die Knie sackte. Ja, dieser Junge war verdammt schwach, das hatte der Blitzpilot in seiner Erregung vergessen.

Sie wurde ihm als die Nichte, Doktor Penélope Palownak, vorgestellt. Ihre Mutter sei Polin gewesen, erfuhr Paul. Die schöne Nichte Penélope hatte einen kurzen Schreckensschrei von sich gegeben und sich abrupt abgewandt. Beide Männer blickten erschrocken auf ihre zuckenden Schultern. Ihr Onkel erkundigte sich, ob sie eine Zahnschmerzattacke hätte. Sie verneinte mit einem Kopfschütteln und blieb einige Sekunden länger abgewandt, um ihre Tränen zu verbergen. Sie hatte nur eine Stunde Zeit gehabt, sich für diesen gefürchteten Augenblick innerlich zur Ruhe zu rufen. Obwohl sie zuvor, mehr als ein halbes Jahr auf diese Begegnung gewartet hatte, sich sehr darum bemüht hatte, war dieser Moment nun doch schwer zu ertragen. Pauls Gegenwart hatte sie für einige Sekunden unkontrollierbar erregt, zum beinahe Davonlaufen erschüttert. Dann nahm sie sich zusammen, drehte sich um, lächelte verkniffen und meinte, sie sei total okay, abflugbereit und bester Laune.

Dieses unerwartete Wiedersehen und Erkennen hatte ihr nur kurz die Fassung geraubt. Sie kannte dieses Gesicht, hatte es sich tiefer eingeprägt als ihr eigenes. Sie hatte es damals, voller Anteilnahme und sehr intensiv, einige Minuten lang betrachtet, um wenige Stunden danach, mit Entsetzen das grausame Missverständnis festzustellen. Ein Entsetzen, das sie niemandem beschreiben konnte, das sie tief verwundet und gleichzeitig geheilt hatte.

Paul war in die Maschine gestiegen, er sah diese Frau zum ersten Mal in seinem Leben. Sie machte einen schüchternen Eindruck auf ihn, beinahe ängstlich. Sie war sehr schön, hatte kurzes, blondes Haar, blaue Augen und sehr helle Haut mit dekorativen Sommersprossen. Kein griechisches Profil. Ihr schöner Nacken war sorgfältig ausrasiert. Eine Penélope stellte Paul sich anders vor, mit dunkelhaariger Mähne, ein wenig versteckt wollüstig und auf jeden Fall sehr entschlossen. Es erstaunte Paul, dass ihm ihre Nackenrasur aufgefallen war.

Paul war der einzige Passagier an Bord, die restlichen fünf Passagiersitze waren unbesetzt. Ein Luxus, den er sich ohne Zögern leistete, ganz gegen seine Gewohnheit. Einen regulären Flug nach Marrakesch hätte er erst in zwei Tagen buchen können, das schien Paul unendlich weit entfernt. Etwas trieb ihn an, als sei der Teufel hinter ihm her. Und das war er wahrhaftig!

Während sich die beiden Piloten im Cockpit eifrig zu unterhalten schienen, hatte Paul sich in die hinterste Sitzreihe zurückgezogen und versuchte zu schlafen. Der Onkel bestritt hauptsächlich das Gespräch, verstrickt in seinen Beteuerungen, sich so bald wie möglich von seiner Frau scheiden zu lassen, um seine Dolmetscherin zu heiraten. Penélope lachte ihn aus und war gleichzeitig völlig abwesend, ohne dass er es bemerkte. Sie saß in Gedanken hinten bei Paul, und sie war vor Schreck und Elend bleich wie eine Kirchenkerze im Scheinwerferlicht.

Seine Geliebte sei eine attraktive Eurasierin, ereiferte sich inzwischen ihr Onkel, er fühle sich in ihrer Gegenwart um herrliche zwanzig Jahre jünger und ihr erregend unterlegen. Natürlich nur auf einem Sektor, beeilte er sich süffisant lächelnd hinzuzufügen.

„Und sie benebelt offensichtlich deinen Verstand“, murmelte die Nichte schwach.

„Meine Geliebte und zukünftige Frau, eine weibliche Vollkommenheit“, strotzte er in viertausend Metern Höhe. Sie sei gefügig, tolerant und ebenfalls mit Intelligenz und Humor gesegnet. Eigenschaften, welche die Nichte ihrem Onkel in Gedanken absprach. Er schwelgte, seine Worte trieften und verweilten anhaltend im Bereich exotisch-erotisch, während sich die geballte Wolkenformation über ihnen schüttelte.

Die Affäre war sein gehütet geglaubtes Geheimnis, endlich konnte er sich gründlich aussprechen. Die lange Flugzeit war ideal dafür, keine Ablenkungen, keine unerwünschten Zuhörer, denn der „Junge“ im Heck konnte ihn bei dem Fluglärm nicht hören, außerdem schien er zu schlafen.

Als die Auserwählte sich am frühen Nachmittag süß und heftig von ihrem Chef verabschiedet hatte, sah sie ihn das letzte Mal. Wenige Stunden später geriet der kleine Jet in eine Schlechtwetterfront. Ein Hurrikan hatte sich über den Atlantik zusammengebraut, das galt in dieser Gegend als äußerst ungewöhnlich. Er war mit seinen Ausläufern in die Vorgebirgsebene des Atlas gefegt, hatte den Piloten gezwungen östlich auszuweichen und über die Gebirgskette zu fliegen. Der Onkel lamentierte noch über die Klimawende und hielt sich dabei über die Unverantwortlichkeit der Menschheit auf, als sei er nicht ein Teil davon.

Das kleine Flugzeug wurde von der heftigen Randzone des Unwetters erwischt und geriet außer Kontrolle. Seine Schwärmerei, das Gute oder Schlechte daran, alle Ziele, Anmut und Erotik, wurden im Nu vom Griff des Todesschreckens getilgt.

Man sah weit und breit keine Fläche. Eine unsanfte Notlandung, in der zerklüfteten Topographie des Gebirges, stand bevor. Oder ein Absturz. Ein kurzer Schreck, wenige Sekunden und dann aus und vorbei?

Nein, dieser Unfall bestand nicht aus einem plötzlichen Absturz, die Maschine sank zwar unaufhaltsam, aber der Schreck zog sich einige Minuten in die Länge. Der Konzernchef rief nicht in höchster Not nach dem Namen seiner Verehrten, er sehnte sich nicht nach ihrem Kuss, kein letzter Liebesschwur rollte über seine zitternden Lippen, seine Leidenschaft war brutal abgewürgt. Er war einzig, von Angst um sich selbst besetzt und versuchte hektisch in aussichtslosem Bemühen eine Bruchlandung zu vermeiden. Diese erwies sich über der zerklüfteten Gebirgsfront als unumgänglich. Seine schöne Nichte Penélope ging ihm dabei ebenso aussichtslos zur Hand. Beide waren zu wenig Profis, um diese prekäre Situation fachgerecht zu meistern.

Penélope hatte keine Panik, nur stumme Angst, und sie spürte hautnah die menschliche Einsamkeit. Sie erkannte schnell das sinnlose Bemühen des Piloten und wunderte sich über den lang empfundenen Zeitraum des fallenden Fluges. Sie zwang sich zur Ruhe. Und dann dachte sie noch einmal mit all ihrer Inbrunst an Paul und bat ihn um Verzeihung. Sie drehte sich um, sah nach hinten und versuchte seinem Blick zu begegnen, doch Paul war nicht zu sehen, er lag schlafend in den Sitzen.

„Es tut mir leid, es tut mir so entsetzlich leid!“ Diesen Satz, wie ein Gebet hervorgestoßen, wiederholte sie laut, unzählige Male. Die letzten Minuten, kein sinnloses Nichts. Sie schienen alles für sie zu sein, alles was ihr blieb und jetzt noch wichtig war.

Diese Gedanken übertönten ihre Angst, sie flogen an der schönen Penélope vorbei und hindurch, langsam wie ein eiliger Vogelschwarm. Sie empfand jeden flatterigen Flügelschlag, jedes einzelnen imaginären Vogels separat. Jeden einzelnen, wie ihre eigenen hektischen Atemzüge.

Und dann kam der Aufprall. Bäume flogen durch das Cockpit, Äste schlugen auf sie ein, sie schrie auf und verlor das Bewusstsein. Ihr Onkel war sofort tot. Und Paul? Dem Todkranken, dem so sterbenselend während des Fluges gewesen war? Er hatte sich unterwegs mehrere Male übergeben müssen, und er hatte sich völlig erschöpft auf die beiden hintersten Sitze gelegt.

Sich Sehnen

Sich erfolgreich zu sehnen, darin hatte Paul während seiner Krankheit eine spezielle Fähigkeit entwickelt, die er mit viel Mühe ergriffen und zu einer Art Meditation ausgefeilt hatte. Dadurch gelang es ihm manchmal ein Lebensgefühl zurückzufordern, sich darin wiederzufinden, bis hin zum Erleben zwar imaginärer aber trotzdem wahrnehmbarer Glücksmomente. Das Glück fühlte sich dann für ihn real an, es war da, nicht nur in Gedanken, und das konnte einen Sprung der Freude in ihm auslösen. Mitten in einem Chemoschub! Das hieß, besonders ein zwei Tage später, wenn dieser achttägige Schub beendet war und es ihm noch schlechter ging als ohnehin schon. Dann, wenn die Freude am nötigsten war, wenn die Therapie wirkte und ihr Unwesen in ihm trieb. Wenn er an Zweifeln zu ersticken drohte und glaubte, mit den wissenschaftlichen Hochglanzergebnissen der Medizin, auf die er sich hoffnungsvoll eingelassen hatte, in die falsche Richtung zu galoppieren. Wenn er zu spüren glaubte, wie sein Körper innerlich zerrissen wurde. Wenn er befürchtete, niemals die Kraft mobilisieren zu können, diesen geschundenen Leib wieder aufzubauen, aufbauen zu müssen, zur Alternative des Sterbens.

 

Dann, genau dann, wenn ebenfalls die Tabletten gegen die physischen Schmerzen versagten, aus unerfindlichen Gründen nicht wirkten, wenn dieser ihn zerreißende Schmerz im tiefsten Knochenmark fast unerträglich wurde, wenn er ein schreiendes Gurgeln von sich gab, ein Gurgeln, das keinem normalen Schmerzensschrei mehr glich, wenn er fühlte, ein winziger Schritt weiter und der Tod hätte gesiegt, dann zerrte er mit dem letzten kleinen Rest des verbliebenen Bewusstseins die Sehnsucht hervor. Ein winziger Strohhalm, der sich als rettende Fähre erwies und ihn in eine Art Hafen schiffte. Ein Hafen, der einer Bewusstlosigkeit zwar ähnelte, es aber nicht war, und der trotzdem den Schmerz draußen ließ.

Er hatte am Wendepunkt des Erträglichen den Schalter umgedreht und auf Sehnsucht geklickt, als wäre er von seinem Körper getrennt worden. Eine erwünschte Welt spielte sich nun in seinem Kopf so wahrnehmbar und deutlich ab, als erlebe er sie wahrhaftig. Sie wirkte nicht einfach nur wie eine ordinäre Ablenkung von Trauer, Schmerz und Angst, sie bescherte ihm auch das heilende Erleben der Freude.

Die gelungene Eigenproduktion des Ausstoßes einer gehörigen Dosis Serotonin, würde sein Arzt gesagt haben. Ähnlich, wie bei einem Unfallopfer, bei dem sich der Schmerz wegen eines verlorenen Körpergliedes erst dann einstellt, wenn die Schutzreaktion des Körpers seine Opiate zu produzieren, nachlässt. Nichts weiter!

Paul sah das anders. Er schloss dann die Augen, versuchte die kurze, beinahe aussetzende Schmerzatmung zu regulieren, um eine ausgeglichene Tiefenatmung hervorzuzaubern und begab sich in die Welt des Wunsches und des Willens um diesen Wunsch. Dieser Wille konnte ihn so stark erfassen, dass er aus ihm zu bestehen schien. Paul wünschte nicht mehr, er verkörperte den Wunsch. Seine Krankheit hatte etwas in ihm umgekrempelt, hatte etwas entblättert, hatte eine Fähigkeit und Sensibilität erscheinen lassen, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.

Sich nach seiner früheren fabelhaften Gesundheit zu sehnen, war in seinem Wunschprogramm nicht aufgelistet, er wollte nur menschenwürdig überleben, und er wollte seine Zunge zurück. Manchmal wünschte er sich auch in seinem Beruf wieder arbeiten zu können, nicht um die unvergleichliche Kraft des Erfolges aufzusaugen, sondern um endlich anderen Kranken zu helfen. Nun wusste er wie es sich anfühlte krank zu sein. Doch überwiegend sehnte er sich nach dem erregend tröstenden Griff der Liebe, nach ihrem Duft, nach den erhebenden Tönen ihrer verschiedenen Ebenen. Er hatte diesen Griff nur ansatzweise hautnah erlebt und durch den frühen Tod seiner Verlobten verloren. Die Sehnsucht nach ihr war so überwältigend, dass er in seinen weltabgewandten Willens- und Wunschmomenten ihre Anwesenheit im Diesseits nicht nur zu spüren glaubte, sondern wahrhaftig spürte. Ihr Tod war dann nicht nur unvorstellbar, er hatte ganz einfach den Zugang in Pauls innerstes Sein nicht erwirkt. In diesem Zustand war seine Liebste keinesfalls auferstanden, sondern quicklebendig, wie niemals tot gewesen.

Paul war nicht religiös im allgemein verständlichen Sinn, er war der Taufbescheinigung nach ein katholischer Christ. Seine Liebste hatte darauf bestanden, die gemeinsamen Kinder nach seinem Glauben und seinen Vorstellungen der Erziehung aufwachsen zu sehen. Ihm war das egal gewesen, er hätte niemals darauf bestanden. Er war sogar der Meinung, dass es für seine Kinder nur positiv sein könne, mit beiden Kulturen und somit auch beiden Religionen bekannt gemacht zu werden. Der islamischen und der christlichen Welt. Welcher sie dann angehören würden oder es später wollten, fand er nebensächlich.

Schon möglich, hatte Aisha behauptet, doch sähe sie es nicht als positiv, wenn ein Mädchen mit moslemischen Wurzeln, als bedauerte Minderheit unter ihren christlich erzogenen Klassenkameradinnen, täglich über unzählige Hürden stolpern müsste. Hürden, die nichts mit dem Lehrstoff zu tun hätten und den Stolz zu untergraben wüssten. Sie gestand ihm sogar den Wunsch, aus diesem Grunde am liebsten nur Söhne zu gebären.

Wie viele es werden sollten, darüber hatten sie sich noch nicht geeinigt. Zuerst galt es damals, aktuellere Probleme zu lösen.

Aishas Zweifel waren geweckt. Sie hatte zwar schon als junges Mädchen einiges an ihrer Religion zu hinterfragen versucht, unerlaubterweise, aber erst als sie Paul kennengelernt hatte, versuchte sie ihrem Glauben einen Todesstoß zu versetzen. Das begann recht harmlos, damit, dass sie beschloss, wenn sie erst einmal mit ihm verheiratet wäre, sich auch wie eine Frau dieses Landes zu kleiden. Sie wollte an seiner Seite so denken und lernen so zu leben wie er, der Christ. Das konnte doch nicht so schwierig sein, hier war sie schließlich geboren und aufgewachsen. Sie hatte die Regeln der Religion ihrer Väter zwar eingesogen, als sei sie damit verwachsen, hatte sie aber längst nicht mehr als Schutz, sondern auch als drohende Bürde erlebt. Nicht zuletzt, um ihrem Anpassungsbedürfnis an Paul und seiner Liebe gerecht zu werden.

Diesen Riesensprung, sich von ihrem Wurzelwerk zu distanzieren, hatte sie zwar beschlossen, aber es erwies sich dann doch nicht als einfach, ihn auch durchzusetzen. Sie steckte in einem verwirrenden Ungleichgewicht der Gemüter und Lebensauffassungen. Begründet durch die tief verwurzelte religiöse Überzeugung ihrer Familie zu Hause und die Andersheit ihres Alltags dort draußen, mit Paul. Einem Draußen, das sie nun sehnlichst zu ihrem Drinnen zu verwandeln wünschte.

Ihrer Basis Schulausbildung hatte man wegen der bestehenden Schulpflicht zustimmen müssen, ihre weitere Ausbildung, in einer Schneiderei, hatte Aisha gegen den anfänglichen Willen ihrer Eltern durchgesetzt und mit Bravur absolviert. Eine Frau braucht keinen Beruf, hieß es in ihrem Elternhaus, eine Frau braucht nur einen Mann und dieser wird weniger nach ihrem jugendlichen Bedürfnis erwählt, als nach den Überzeugungen und Ansprüchen der Familie.

Dieser Wunsch, einen Beruf zu erlernen, war das äußerste Zugeständnis, das Aisha ihrem Clan mit viel Geduld und Tränen hatte abringen können. Ihr Monatsgehalt war höchst willkommen gewesen, man erwartete selbstverständlich, dass es in der Familienkasse verschwand. Ein Grund, warum sie noch nicht verheiratet worden war.

Aisha hatte sich an Fernkursen für die Hochschulreife eingeschrieben, zu diesem Schritt hatte Paul sie ermuntert. Niemand sonst wusste davon. Weitere Lügen, Schuldgefühle und Nervenkraft. Ihre Begegnungen mit Paul, die aus der Sicht ihrer Religion eine private Hölle der Leidenschaft war, hatten immer vor Sonnenuntergang und fast ausschließlich in seiner Wohnung, die im Haus der Schneiderwerkstatt lag, stattgefunden. Dort konnte sie auch in Ruhe lernen. Offiziell war sie beinahe eine gehorsame Tochter gewesen, man hätte für ihre Treue zur Familie sogar die Großmutter und ein kleines Stück der Mutter verpfändet, bis ihr Doppelleben aufgeflogen war.

Einer ihrer Brüder wollte sie von der Arbeit abholen, das war noch nie vorgekommen. Er musste dringend mit Aisha reden, allein, sie um einen Gefallen bitten. Er kam um die Ecke geeilt, sah ein verliebtes Paar im Hauseingang stehen und bremste seine Schritte ab. Dort wurde inniglich geküsst. Die Frau hatte ihre Haarpracht mit einem Kopftuch verdeckt, diese Tatsache hatte seine Aufmerksamkeit besonders erregt. Keine keusche Muslima küsst in der Öffentlichkeit einen Mann, und sei die Öffentlichkeit noch so versteckt wie dieser Hauseingang. Der Bruder verachtete solche Geschöpfe, ohne beim ersten Blick seine Schwester von hinten erkannt zu haben. Doch dann erstarrte er und rief ihren Namen. Erschrocken drehte Aisha sich um. Sein Blick traf sie wie ein Dolchstich und erinnerte sie daran, dass das, was sie dort tat, dieser kleine Kuss, dem Begriff der Unzucht unterlag, und dass sie mit dieser Liebe vielerlei unverzeihliche Vergehen auf sich zog.

Nach einer sehr kurzen Anhörung vor den fassungslosen Eltern, war die unerhört ungehorsame Tochter zunächst einmal eingesperrt worden. Sie hatte sich ohne die Zustimmung ihrer Familie verlobt! Heimlich verlobt! Ein Ungläubiger hatte sich ihr zwischen die Schenkel geschoben und die Familie befleckt. So drückten es die Brüder aus. Und das Schlimmste des Schlimmen erfuhren sie von Paul, diesem Verächter des wahren Glaubens, als er seine Braut aus den Fängen der Familie zurückforderte.

Aisha war nicht zu dem verabredeten Treff in seine Wohnung gekommen, Paul war besorgt gewesen. Als sie am nächsten Tag, ohne Nachricht, wieder nicht erschienen war, hatte er den Sprung in die Höhle des Löwen gewagt. Er schritt wie selbstverständlich in die Gemüter ein, stellte sich als Aishas Verlobter vor und sprach, als hätte er einen alleinigen Anspruch auf die Tochter des Hauses.

Er hatte die Familie bestohlen und wagte sich frech in deren Nähe? Man ließ ihn allerdings eintreten. Wie er sich das vorstelle, hatte der Vater ihn zuerst scheinheilig, doch unübersehbar feindselig gefragt.

„Undenkbar für unsere Familie“, hörte Paul ihn auf die simple Rechtfertigung der Liebe antworten.

Aisha war die Erstgeborene. Drei ihrer wenig jüngeren Brüder konnten ihre Aggressionen kaum zügeln, sie schrien sich gegenseitig in ihrer Muttersprache an. Paul verstand kein Wort. Ein paar kleinere Kinder heulten. Die Mutter putzte sich alle fünf Sekunden die feuchte, lange Nase und gab fortwährende Schluchzer von sich. Ihre Leibesfülle, die Nasenlänge und gerötete dunkle Vogelaugen, war alles was Paul an diesem Gesicht in Erinnerung blieb.

Dann war das Geheimnis einer beinahe konvertierten Aisha über Pauls Zunge geglitten und zusätzlich auf die erhitzten Gemüter herabgestürzt. Eine teuflische Zunge, wie er erfuhr.

Aisha hätte schon vor einigen Monaten ihrem Glauben den Rücken gekehrt, ihm zu Liebe sei sie nun bald eine Christin, hatte Paul heraus trompetet. Sie würde von einem katholischen Priester darauf vorbereitet. Sie sei schließlich zweiundzwanzig Jahre alt und bräuchte für Nichts die Zustimmung ihrer Eltern. Selbstbewusst und ahnungslos hatte Paul diesen gewagten Schlusspunkt gesetzt.

Eine Verleumdung und doppelte Beleidigung. Man schrie ihm diese Worte entgegen. Obwohl die betroffene Familie ahnte, dass dieser Schmutzfink Paul die Wahrheit verkündet hatte, beschimpften sie ihn als elenden Lügner und drohten ihm mit der ewigen Verdammnis. Man wüsste, wie das zu rächen üblich wäre, man würde sich nicht scheuen, er würde nie wieder stehlen und lügen.

Paul hatte die jämmerlichen Schreie seiner Braut aus einem Nebenraum gehört. Sie hatte seine Stimme erkannt und verlangte stürmisch nach ihm. Ununterbrochen hatte sie seinen Namen gerufen und gegen eine Tür gehämmert, bis ein Bruder in ihr Zimmer gestürzt war und es danach erschreckend still wurde.

Paul hatte versucht an diese Zimmertür zu gelangen, was eine vorhersehbare Unmöglichkeit war. Er wurde von drei kraftstrotzenden Jugendlichen unsanft ergriffen und an dem aussichtslosen Befreiungsversuch gehindert. Der Vater war stumm, wie versteinert im Hintergrund geblieben, er hatte verachtend auf den protestierenden Paul gestarrt und es schien erstaunlich, dass er nicht das Feuer eröffnete oder ihn zumindest anspuckte. Dann fand sich Paul draußen im Rinnstein sitzend wieder. Ein Bruder Aishas, der sich ihm als Mehmed vorstellte, hatte ihm die Jacke nachgetragen und ihm, als Paul sich stöhnend aufrichtete, auf die Beine geholfen. Er hatte freundschaftlich gemurmelt, es täte ihm leid, aber das sei so üblich, zuerst einmal Widerstand, später würden die Wogen sich schon noch glätten. Über eine gerechte Strafe für Paul, müsste die Familie sich allerdings noch einigen, die ganze Gemeinde würde nämlich darauf bestehen.

 

„Eure alberne Strafe könnt ihr euch an den Hut stecken“, hatte Paul verächtlich geschrien. Er war sofort zur Polizeiwache gefahren. Dort hatte man ihn mitleidig angesehen und ihm versichert, dass es in diesem Land kein Recht gäbe in solch einem Fall einzugreifen. Man hatte ihm ja erstens, wie man sieht, nichts angetan, sondern ihn lediglich aus dem Haus befördert. Und zweitens, hätte er nicht gesehen, dass diese Frau misshandelt worden sei. Es sei nur seine Vermutung! Das seien innerfamiliäre Auseinandersetzungen. Das Problem hätte er wahrlich voraussehen können, er sei schließlich nicht der Erste, dem eine Braut aus diesen Kreisen entzogen würde. Das sei doch allgemein bekannt.

„Wie naiv sind Sie eigentlich? Sie können doch nicht ohne Zustimmung der Familie, ungeschoren eine Moslem- Frau entjungfern und zusätzlich einen herzlichen Empfang erwarten. Gehen Sie besser in Zukunft dieser Sippe aus dem Weg, sonst kann Ihnen eine Kastration blühen.“

Die Beamten lachten über diese Drohung, und Paul sah sie erschrocken an.

„Das ist ein Scherz, Mann, aber seien Sie vorsichtig und vergessen Sie diese Braut.“

Paul konnte seine Aisha nicht vergessen. Wenige Tage später musste er, durch den verräterischen Bruder, dem Auslöser des Übels, vom Tod seiner Liebsten erfahren. Sie sei angeblich aus dem Fenster gesprungen. Zu dieser grausigen Nachricht bekam er einen Abschiedsbrief überreicht. Dieses Stückchen liniertes Papier zerschnitt seine Trauer in tausend stechende Splitter, welche Tag und Nacht im ganzen Paul aktiv waren. Die tote Aisha erklärte ihm darin, dass sie alles bereue und sich schäme für das, was sie getan habe, dass er sich zum Teufel scheren solle und dass sie den einzigen Ausweg wähle, der in diesem Fall zu wählen ihr übrig bliebe, nämlich ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur so könne sie vor Allah und ihren Eltern wieder rein werden.

Wieder rein werden? Sie war das reinste Wesen, das er sich vorstellen konnte. Und „getan“ nannte sie ihre Liebe zueinander? Ist sie etwa gefoltert worden? Warum hatte er das nicht verhindern können! Warum hatte er diesen Tod nicht verhindern können!

Er hatte den Islam wie eine philosophische Kuriosität angesehen und nun erfahren müssen, dass es sich um eine quicklebendige Macht handelte, die in sein Leben gegriffen hatte. Er hatte nicht mehr die Zeit gehabt einen Plan zu schmieden, um seine Braut aus den Fängen dieser Familie herauszerren zu können. Nun war es zu spät, er war zu langsam gewesen, zu zögerlich. Er wusste nicht einmal wo und wie sie beerdigt worden war. Er hatte den Ernst der ganzen Angelegenheit unterschätzt, er hatte versagt und er glaubte für ihren Tod verantwortlich zu sein.

Paul hatte diesen Brief beinahe bis zur Unkenntlichkeit oft zur Hand genommen, ihn mit seinen Fingern abgewetzt und immer wieder gelesen, bis ihm klar wurde, dass es zwar ihre Handschrift war, aber nicht ihr Stil mit ihm zu sprechen. Obwohl, wenn man sich umbringen wollte, wählte man dann den normalen Ton?

Sie hatte ihn nie bei seinem Namen genannt, von Anfang an nicht, schon vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an hatte sie ihn Pal genannt, nicht Paul. Und wenn sie zärtlich wurde, Pali.

Kein attraktives Kosewort, aber es gab dümmere, und Paul mochte es, wenn sie ihn so genannt hatte. Denn genau dann hatte er in den schönsten Momenten seines bisherigen Lebens gesteckt. Ohne dabei in die Verlegenheit zu geraten, entscheiden zu müssen, ob man den Zustand nach einem gelungenem Liebesakt mit biblischer Stille betiteln durfte, oder ihn in bester Koranpoesie beschreiben sollte.

In diesem letzten Brief nannte sie ihn Paul. Der Text war sehr unbeholfen, er zeigte wenig von der Art, wie sie sich auszudrücken pflegte. Auch erschien ihm das letzte Wort fremd.

Nachdem er ihr einmal die Geschichte vom Aschenputtel erzählt hatte, bezeichnete sie sich scherzhaft als Aschemädchen. Dieses Wort hatte sich zwischen ihnen eingespielt, er benutzte es auch in besonderen Momenten ihrer verbotenen Zweisamkeit, und wenn sie ihm eine Nachricht im Briefkasten hinterlassen hatte, fehlte niemals am Ende des letzten Satzes, „dein Aschemädchen“

Paul war damals fassungslos gewesen. Er hatte keinen Zweifel mehr daran gehabt, dass man Aisha gezwungen hatte diesen Brief zu schreiben. Man hatte ihn ihr höchstwahrscheinlich diktiert und sie dann aus dem Fenster gestoßen. Unfassbar, wie konnte die eigene Familie so etwas fertigbringen. Nur um die idiotische Ehre zu retten. Dieses zweifelhafte Gefüge, das über so vielen Begriffen und Vorstellungen herrschte und sein Unwesen auf der Welt an Leib und Seele trieb.

Er machte sich immer wieder schmerzliche Vorwürfe. Er hätte sie beschützen müssen, sie von diesen Mördern fernhalten, mit ihr verschwinden müssen. Er hätte, hätte, hätte, aber er hatte nicht! Paul vergoss viele Tränen und bald darauf wurde er sprachlos.

Aisha hatte in einem scheinbar unlösbaren Zwist gelebt, unerlaubt geliebt, und sie war diesem Zwist zum Opfer gefallen. Paul dachte endlos darüber nach. Wiederholt hatte sie ihm erklärt, dass sie sich sehnlichst wünsche ihre geplanten Kinder nicht in diesem Zwist aufwachsen zu lassen, aber auch, dass sie ihre Eltern nicht verlieren wolle. Was sollte sie tun, wie sollte sie das jemals lösen, um Allahs Willen, wie?

Das hatte sie gesagt, ja, er erinnerte sich jetzt deutlich, sie hatte natürlich Allah um Hilfe gebeten. Es war nicht so einfach seinen Glauben zu verleugnen.

Er lud alle Schuld auf sich, eine schwere Last, die er ganz alleine tragen wollte. Schließlich hatte er sie damals angesprochen, sie war sehr zurückhaltend gewesen und scheu. Er war ihr absichtlich öfter, aber wie zufällig, im Treppenhaus über den Weg gelaufen, hatte seinen Charme spielen lassen und ihr Vertrauen ergaunert. Und dann ihre Liebe. Eine tödliche Liebe.

Aisha war eine junge Muslimin gewesen, die für die okzidentale Zukunft ihrer Kinder einen unverzeihlichen Sprung getan hatte. Sie hatte zu früh, sehr weit in die Ferne geblickt und für diese Ferne, danach gestrebt eine andere Religion anzunehmen. Dazu die heimlich geplante Ehe und Zukunft mit Paul. All das waren nicht nur schwer überwindbare Hürden für ihre Familie, sondern auch Bestrafung fordernde Vergehen. Ihr offizieller Verrat an der Religion, an der Tradition, an den Vätern und ihrer Unschuld, hatte die Ehre ihrer Familie in den Grundfesten erschüttert. Die ganze moslemische Gemeinde erfuhr von diesem Umstand, man war betroffen und lauerte gespannt auf Rache.

Diese Bande hatte seine Zunge gefordert. Davon war Paul überzeugt, für ihn gab es keine andere Erklärung dieser kriminellen Tat. Das war mittelalterlich, und wie er in Erfahrung gebracht hatte, sehr wirksam gegen künftig ausgesprochene Lügen. Er hatte sich den Recherchen über Rachepraktiken vergangener Weltzivilisationen gewidmet, demnach hätte er tatsächlich auch seine Hoden verlieren können und wegen des Diebstahlvorwurfs, eine Hand oder je nach Wert des Diebesgutes, beide Hände.

Er hatte damals seine Peiniger nicht erkannt. Vier vermummte Personen hatten ihn überfallen, mit acht Händen festgehalten und ihm eine Betäubungsspritze verpasst. Bevor Paul bewusstlos geworden war, entsetzte ihn ein mittelgroßes, modernes Seziermesser, in einer von Latex behandschuhten Hand einer fünften Person. Diese Person hatte sich langsam, beinahe zögernd und trotzdem drohend, ganz nahe über ihn gebeugt. Die weißen Handschuhe und das stählerne Blinken begleiteten ihn in den schwarzen Tunnel der Narkose. Er war nach vollbrachter Tat wie ein Müllsack vor den Toren eines Krankenhauses abgeladen worden, und er hatte drei Tage lang Blut gekackt.