Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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Paul konnte nur eine hoffnungslose Anzeige gegen Unbekannt starten, doch es bestand für ihn kein Zweifel daran, wer ihm diese Verstümmlung angetan hatte. Er verstrickte sich zunächst in der Furcht vor weiteren Attacken auf ihn, hatte seine Wohnung gekündigt und sich von Verfolgungsangst getrieben, einige Wochen in dem Jagdhaus seines Vaters in der Lüneburger Heide versteckt. Kurze Zeit danach zog es ihn in das luxuriöse Haus seiner Kindheit zurück, als suche er Schutz, und als würde er ihn ausgerechnet in den Dünsten des verstorbenen Vaters finden. In genau jenen Dünsten der erstickenden, lebenslangen Erwartung, Anklage und Schuldzuweisung seines Vaters an ihn, aus welchen er vor erst wenigen Monaten geflohen war. Doch mit der Wucht seiner brutal erwachten Erlebniswelt, überrumpelte er diesen Geist der väterlichen Anweisungen und Gebote. Ein Geist, der stets dürstend nach dem Sohn des Hauses durch die modern eingerichteten Räume gestreift war.

Sein Leben war durch die Nachricht von Aishas Suizid in ein Vorher und ein Nachher zerteilt worden. Vom Tod des Vaters eingeläutet, war diese Tragödie, zusammen mit dem Rest seines Elends, wie ein einziges Erdbeben über ihn hereingebrochen. Auch wenn viele Wochen dazwischen lagen. Das Ableben des Vaters, ihr Tod, die gestohlene Zunge und dann die Krebserkrankung. Er erinnerte sich nicht mehr an ruhevolle Zwischenphasen.

Man konnte nicht behaupten, dass Paul zuvor wie besessen an seiner Vergangenheit gehangen hatte, er hatte sie sogar gehasst, aber sie war immer präsent gewesen und hatte ihn beschwert. Es war ihm letztlich gelungen diese Vergangenheit in verstaubte Winkel zu schieben, behutsam und doch energisch, um sich entschlossen auf sein Dasein mit Aisha zu konzentrieren. Er hatte begonnen sich an der Liebe zu orientieren, mit einem freudvollen Blick auf das Morgen und einem seltenen Blick zurück.

Nun hauste wieder Vergangenes in ihm, allerdings, jüngst Vergangenes. Seine Gesundheit war Vergangenheit, Aisha war Vergangenheit, seine Zunge war Vergangenheit. Diese unleugbaren Gegebenheiten waren zu seiner weltbewegenden Dreieinigkeit geworden.

Die Spannung der Erinnerung, aus der erwünschten Nähe mit der Toten und seine bewusste Erwartung an ein eigenes Weiterleben, zerrten an ihm. Er schämte sich für seinen verbliebenen Lebenswunsch, der sich vermutlich aus diesem Grund vorbehielt sporadisch einzuknicken. Er empfand sich, als ein nur eventuell künftig Weiterlebender, als ein Jemand, der im Moment kaum glaubte zu leben. Er hing auf dem Warteposten zwischen Nichts und ein wenig von Etwas. Was genau dieses Etwas beinhaltete, war ihm nicht klar, doch falls es ihm noch beschert werden sollte, wünschte er es sich in Einsamkeit.

Was würde aus seinem Beruf werden und aus der Klinik seines Vaters, die nun seine war? Paul bezweifelte, jemals dort wieder aktiv werden zu können, außerdem ließ sich das schlecht mit seinem Wunsch nach Einsamkeit vereinen. Einsamkeit, danach verlangte, danach schrie sein Herz unaufhörlich, als ein Zustand seiner Reue und Zeichen seiner Solidarität mit seiner verlorenen Geliebten. Verzicht auf das weltliche Leben. Er wollte niemanden sehen, niemanden sprechen hören. Er ahnte noch nicht, wie menschenwürdig die Einsamkeit sein konnte, ein wertvolles Geschenk des Schicksals, wenn man sich darauf verstand sie zu erkennen.

Paul erinnerte sich wehmütig an eine Unterhaltung mit Aisha. Sie war der Meinung gewesen, dass das Hören verbinde, das Sehen ebenfalls, aber, dass das Sprechen die Seelen voneinander entferne und das Einsamkeitsgefühl eigentlich sogar bestärke. Paul hatte gelacht und liebevoll mit spöttischem Unterton gefragt, ob sie Schweigsamkeit als Basis für eine Unterhaltung ansehe. Und außerdem, was wäre er in seinem Beruf ohne Worte!

Sie dächte eher an das tägliche Geschwätz, das immer und überall geführt würde, um die Einsamkeit zu überwinden, was aber nicht funktionieren würde, weil es nur oberflächlich wirken könne. Darin habe sie Erfahrung. Gesprochene Worte könnten außerdem zu unsichtbaren Waffen werden, die sich gerne verselbständigten und nachträglich, unerwartet wirken könnten, selbst wenn sie noch so unbedarft ausgesprochen worden seien. Die Reflexion eines negativen Wortes sei immer stärker als ihr Ursprung, einmal ausgesprochen, seien sie unberechenbar, hätten ihr Eigenleben. Auch wenn sie vorübergehend in Vergessenheit gerieten, könnten sie jederzeit auferstehen. Und süße Worte könnten wie bitterstes Gift wirken, außerdem entpuppten sie sich meist als Lügen. Gelogene Blicke schmerzen nicht, Worte könnten das aber, hatte Aisha eifrig behauptet.

Paul hatte ihr dann doch noch sachte zugestimmt, ihr in gewissem Sinne recht gegeben. Ja, Buchstaben konnten töten, sie konnten auch wichtige, direkte Erfahrung rauben, den Geist lähmen, wenn man zu sehr auf sie achtete. Konnte er seine Gefühle in Worten ausdrücken?

Er hatte sie lieber umarmt als geredet, aber seine süßen Worte waren keine Lügen gewesen. Ach Aisha, wie würde sie jetzt darüber denken, wie würde sie seine Worte nun vermissen! Seine Stimme!

Der Hauptsitz seiner Geschmacksdrüsen war ebenfalls der Ersatzkastration zum Opfer gefallen, somit vermisste er wichtigste Geschmacksgenüsse. Kleine Nebenblitze, die in sein großes Leid fegten.

Kann eine Katze ohne Zunge überleben, fragte sich Paul. Ein Chamäleon oder eine Eidechse? Sogar ein Fisch hat eine Zunge. Obwohl, stumm wie ein Fisch, hieß es. Und der Kolibri? Die Nachtigall?

Nein, eine Welt ohne Zungen, undenkbar! Und genau in dieser Welt sollte er nun leben? Überleben? Konnte man ohne Zunge riechen, schmecken, pfeifen. Konnte man Querflöte spielen oder ein Pferd antreiben?

Warum dachte Paul an eine Querflöte, er hatte sich nie für dieses Instrument interessiert, warum jetzt? Und der Reitsport war ihm zuwider.

Ein Kuss war kein Kuss mehr, wenn man dieses, stets von Schleimhaut überzogene muskulöse Organ, das zum Kauen, Saugen oder zur Artikulation der Laute diente, nicht mehr besaß. Hatte man diesen hässlichen Lappen in seinem Mund vorzuweisen, konnte ein Kuss selbstverständlich auch ohne dieses Ding hoch bewertet werden.

Er würde nie wieder küssen! Natürlich nicht, denn Aisha war tot. Würde er eine Blindheit der Zungenlosigkeit vorziehen? Auch das fragte sich Paul

In früheren, noch nicht allzu fernen Zeiten, hätte man den dreisten Gesetzesbrecher in einem Fall wie dem seinen, noch zusätzlich geblendet. Man hätte ihm glühende Eisen in die Augen gebohrt, um somit, außer der Strafe der Erblindung, jedem weiteren Blick auf die Angebetete ein zuverlässiges Ende zu bereiten. Darauf hatte man bei Paul verzichtet. Sollte er dankbar sein?

Die Welt hatte sich für Paul gefährlich abgekühlt, es gab diese Momente, in welchen er den Akt seiner gestohlenen Zunge beinahe als gerechte Strafe empfand. Wie ein Geschoss von außen, erlegte dieser wirre Gedanke dann für Sekunden seinen Willen. Dann konnte er sogar die Schande erkennen, die er über Aishas Familie gebracht hatte. Eine Schande, die er mit beleidigenden Worten, an die er sich nicht mehr genau erinnerte, lautstark unterstrichen hatte. War es vielleicht doch gerechtfertigt, dass man ihm jedes künftige Wort gestohlen hatte?

So stand es um Paul, und die zusätzliche Tragik an seinen grundverschiedenen Gedankengängen war, dass er den einen Zustand herbeisehnte, während er nach seinem Gegenteil äugte, es ebenso wünschte oder vertrat. Als könne man das Leben und den Tod gleichzeitig wahrnehmen, sich beidem gleichzeitig hingeben, oder sich von beidem zurückziehen. Als sei alles nur ein gelungener oder verpatzter Schachzug auf dem Brett des Daseins.

Seine Sinne tänzelten schwebend zwischen den Welten. Wie ein Seiltänzer bewegten sie sich, ein Seiltänzer, der auf seinem zum Zerreißen gespannten Seil eine unschätzbare Tiefe zu überqueren versucht, um ein vom dichten Nebel der Unmöglichkeit versunkenes Gegenüber zu erreichen.

Diese entschlossene Unentschlossenheit radierte ihn beinahe aus. Es gab kein Zurück und eine Ankunft war nicht erklärbar. Wo lag das Dazwischen? Wo steckte dieser, stetig von der Zeit verfolgte, winzige Punkt, der eine nicht nennbare Weite beinhaltet, der alle Möglichkeiten der Welt zu einer einzigen Welle des Überlebens über ihn schwappen lassen könnte.

Und dann hatte ihn dieser Duft ergriffen! Der einzigartige Duft, neben ihm, im Autobus der Linie achtundzwanzig, Richtung Flughafen.

Das verlorene Gespräch

Wenige Tage vor Aishas Tod, und wenige Wochen bevor Pauls Zunge einem gezielt und fachgerecht eingesetzten Skalpell zum Opfer gefallen war, ereignete sich der Überfall auf die Redaktion des Satire Magazins, Charlie Hebdo, in Paris.

Paul war damals ein gefragter Mann, da er der Sohn eines noch gefragteren Mannes seiner Stadt war. Seine Meinung hatte zwar einen geringeren Wert als die seines Vaters, doch man war sicher, dass er sich ähnlich zu den alles dominierenden Vorfällen der letzten Tage äußern würde.

Sein Vater hatte sich unwohl gefühlt und Paul gebeten, in einem von ihm schon zugesagten Interview, für ihn einzuspringen. Paul stellte sich zunächst murrend als Ersatzmann zur Verfügung. Während der Life-Übertragung ereiferte er sich jedoch ungewohnt und äußerte eine überraschende Meinung zu dem Attentat in Paris und seiner weltweiten Reaktion darauf. Eine Meinung, die auf allgemeine Empörung stieß und zahlreiche seiner Bewunderer vergraulte. Er zeigte sich nicht, wie vom regionalen Sender erwartet, als okzidental geprägter Racheengel, sondern bewertete die allgemeine Reaktion auf diese Tragödie als Hysterie. Die unangebrachte Hysterie einer Gesellschaft, die essentielle Probleme verdränge und die öffentliche Aufmerksamkeit auf Nebenkriegsschauplätze lenke und sich dabei mit peinlichen Plakatsprüchen in Szene setze.

 

Pauls Vater, der selbstgefällig der Loyalität seines Sohnes sicher gewesen war, stürzte vom Thron des stolzen Vaters. Er war mehr als empört, er war entsetzt und fühlte sich außerdem von seinem Sohn hintergangen. Dieses Interview lag gedruckt vor ihm, er fieberte danach, Paul zur Rede zu stellen, ihm die Leviten zu lesen.

„Auf welcher Seite stehst du neuerdings, mein Sohn,“ fragte er sehr ernst in seinem gewohnt überheblichen Ton, der keinen Widerspruch duldete. Das Wort Sohn klang drohend.

„Wie kannst du nur solch eine katastrophale Meinung öffentlich äußern. Es ist nicht nur völlig absurd, verblendet und idiotisch, pietätlos und fern einer realistischen Einschätzung der Bedrohung des Terrorismus, was du da von dir gegeben hast ist auch höchst verantwortungslos. Du hast schließlich eine wichtige Position, bist zu politischer Korrektheit unserer Gesellschaft gegenüber verpflichtet. Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen? Es geht hier nicht um deine persönliche Meinung, die mich sehr erstaunt und die ich verachtenswert finde. Mir ist außerdem längst zu Ohren gekommen, dass du schon eine ungehörige Weile mit einer Moslimin herumziehst, was ich als äußerst unpassend erachte, in deiner gesellschaftlichen Stellung ganz besonders. Wahrscheinlich ist sie scharf auf eine Heirat, auf deine Nationalität, auf deinen Namen, auf unser Geld. Ich hatte gehofft, dieses abscheuliche Verbrechen in Paris würde dir die Augen öffnen und dir nebenbei klar machen, dass eine Muslimin in unserer Familie fehl am Platz ist. Um das hiermit direkt klarzustellen, islamische Gesinnung hat unter meinem Dach nichts zu suchen! Ganz abgesehen davon, dass man wie auf einer Bombe säße. Weißt du, was in den Köpfen ihrer Familie wirklich vorgeht? Und meine Enkel mit Koran verseuchtem Blut in den Adern? Nicht auszudenken! Ohne mich!

Paul ignorierte nur scheinbar das „Koran verseuchte Blut“. Doch diese Bemerkung war in ihn geprescht, er fühlte sich persönlich angegriffen und hatte ein unverhüllt empfundenes, nie gekanntes Kontra gegen den Vater mobilisiert. „Und du? Auf welcher Seite stehst du, Vater? Demnächst wirst du noch der PEGIDA Beifall klatschen. Du kannst doch wohl nicht leugnen, dass es sich hier um eine Massenhysterie handelt. Eine Verteuflung des Islam auf der Basis haarsträubender Unwissenheit. Den Islam und die Islamisten kann man doch nicht in einem Atemzug nennen.

Paul hatte den Ausdruck des Interviews, in dem man ihn um seine Meinung zu dem „Je suis Charlie“ gebeten hatte, vor sich liegen. Er überflog kurz den Text:

„Selbst ein politisch ungebildeter Mensch wie ich, ein normal Berieselter der Tagesschau, riecht, dass an diesem Braten etwas faul ist, dass hier etwas in die falsche, aber doch so erwünschte Richtung läuft. Eigentlich fühle ich mich nicht zu öffentlichen Stellungnahmen berufen, aber hierzu möchte ich mich doch äußern.

Die Masse scheint vor den Bauch gebundene Parolen mit hysterischen Slogans dringend zu benötigen. Ein jämmerlicher Versuch das Gefühl der Machtlosigkeit gegen den Terror zu übertünchen. Einer Machtlosigkeit, die mit einem über Nacht millionenfach gedruckten Slogan eine Gegenmacht formieren soll. Ein Aufruf zur Solidarität, genährt von der Furcht vor der angeblichen Unberechenbarkeit alles Fremden. Dazu die Sensationsgier einer bis in die Fingerspitzen manipulierten Gesellschaft und ihrer erwünschten Ablenkung von individuellem Leid. Eine aufgeheizte Empörung, die kollektive Geborgenheit vermittelt, geborgen im Kampf gegen den aufs Tablett gesprungenen Feind. Reaktion gegen die Furcht des Unkontrollierbaren? Eine uralte Geschichte. „Je suis Charlie“, ein Ablenkungsslogan. Die von wenigen Händen gebastelte Ablenkung einer Scheinsolidarität mit dem Schrei nach unantastbarer Pressefreiheit und angeblichem Schutz der Demokratie. Diese Reaktion drückt in keiner Weise Trauer für die Toten aus. Aus ihr klingt lediglich der Ruf nach Rache.“

An dieser Stelle des Interviews war Paul mit der Frage, wie man seiner Meinung nach den Slogan hätte gestalten sollen, unterbrochen worden.

„Das kleine und doch so mächtige Wort „suis“ ist aus dem Ruder gelaufen, es ist alles andere als eine Trauerbekenntnis. Um wirklich das offiziell dargestellte Mitempfinden auszudrücken, hätte es besser, „Ich trauere um Charlie“ oder ähnlich heißen sollen. Nun wurde ein Trauer- und Solidaritätsslogan zum „Ausländer raus“, zum „Nieder mit dem Islam“ oder im nicht allzu weitem Sinn ein „Heil Hitler“. Wo steckt hier das Bekenntnis zur Demokratie, zur Meinungs- oder Pressefreiheit, wo die Trauer um den gewaltsamen Tod der Journalisten? Dieser Solidaritätsslogan, der einigen Menschen im ersten Moment rührend erscheinen mochte, als ginge es um ein Tierschutzprogramm, wurde zum Schlachtruf gegen alles, was mit dem Islam zu tun hat.

Jede Parole kann missbräuchlich gedeutet werden. Birgt das in Zukunft die Gefahr, dass ein Schild um den Hals gehängt, mit dem Hinweis „Jesus lebt“, eine Rechtfertigung für einen fanatischen Islamisten wäre, um das Feuer zu eröffnen? Ein „Atomkraft nein danke“ oder „Make Love, Not War“, signalisiert gefährlichen Terror von Links? „Mein Bauch gehört mir“ eine Provokation für die Verfechter der Todesstrafe? Wir ersticken am Detail.

Der Mensch trachtet nach einem Feindbild, am liebsten einem für das Kollektiv geschaffene. Es dient der Vorspiegelung eigener Unfehlbarkeit und verschafft Zugehörigkeit, selbst wenn diese durch einen Schlachtruf manifestiert werden sollte. Somit scheint er weiterhin die Intelligenz eines Einzellers zu repräsentieren. Wie sonst kann man erklären, dass er sich so hartnäckig weigert die wahren Überlebensprobleme der Menschheit zu erkennen, um ihnen gemeinsam entgegenzutreten. „Je suis Charlie“, ein für unser Zeitalter völlig unpassender Aufruf, für mich nicht weniger besorgniserregend als Boko-Haram.“

Paul lächelte seinem Vater zu und gab ihm den Ausdruck zurück.

„Wir haben doch ganz andere Probleme, als zu Millionen für die Pressefreiheit auf die Straße zu gehen und sentimental für die sogenannte Demokratie in geordneten Reihen über den Asphalt zu marschieren. Was genau siehst du an meiner Meinung als so verwerflich an?“

„Schämst du dich nicht“, sagte sein Vater gebieterisch. „Du ziehst über die Menschen her, die sich mutig auf die Straße wagten, im Gedenken an die Opfer. Und besonders um der Bedrohung des Islam auf unsere geordnete Welt Paroli zu bieten. Einer Bedrohung, die danach trachtet unserer christlichen Gesellschaft ihre Regeln aufzuzwingen und uns mit Terror zu erpressen versucht. Fundamentalisten, Islamisten, Terroristen, was spielen diese Begriffe für eine Rolle, es sind gefährliche Menschen, die sich auf Gott berufen und in ihrer Gottlosigkeit nicht zu überbieten sind. Wir lassen Flüchtlinge in unser Europa, in unser Land und bieten Hilfe an, und sie werden zu Trojanischen Pferden. Ich bin gegen den Einlass von Flüchtlingen aus den Kampfgebieten der islamischen Staaten, damit eröffnen wir eine innerwestliche Front, das dürfte sogar dir klar sein. Wir holen uns den Krieg ins Haus, mit jedem Moslem, den wir aufnehmen. Toleranz darf hier nicht zur Selbstgefährdung unseres christlichen Zusammenlebens führen. Wir können solche Gefahrenpotenziale nicht in unseren Reihen dulden. Führende Vertreter aus Politik und Gesellschaft haben diesen Subjekten den Kampf angesagt, sie werden sich um ihre Vernichtung kümmern. Diese wichtigen, verantwortungsbewussten Menschen sind sich mit Millionen anderer Bürger einig, sie haben gemeinsam gebetet und eine Mahnwache gehalten. Das sind Menschen, die an unsere christlichen Werte glauben und dafür einstehen. Wir können doch nicht schweigend zusehen, wie der Islam uns bedroht und eines Tages überrollt.“

Paul sah seinen Vater mitleidig an. „Der Untergang des Abendlandes durch den Islam? Du irrst, der Islam ist keine Bedrohung, er ist es vielleicht in gleichem Maße, oder nicht, wie jede andere Religion auf der Welt auch. Falls du Al-Qaida meinst, ISIS oder Hisbollah, sie stehen im Schatten der nuklearen Abschreckung unserer Zeit. Es sind ein paar tausend Wirrköpfe, die sich heilige Krieger nennen und sich im Namen des Islam in den Kampf begeben haben. Eine Menge weniger Krieger, als die Kreuzritter zu ihrer Zeit im Namen des Christentums und eine Menge weniger Tote.“ Es trat eine kurze Stille ein. Sein Vater sah ihn fassungslos an.

„Paul, du kannst doch nicht ernsthaft das Mittelalter aus weiter Ferne heran zitieren und mit unserer hochzivilisierten Welt in einem Atemzug nennen. Allerdings kannst du die Mentalität des Islam sehr wohl mittelalterlich nennen, der Islam ist dort steckengeblieben, obwohl er sich der neuesten Technik unseres Zeitalters bedient, das hat sich als unheilvolle Mischung bestätigt.

„Hochzivilisiert? Und das Mittelalter unserer Gesellschaft in weiter Ferne? Eine verdammt kurze Distanz im Rahmen der Zeit, in welcher der Mensch sein Unwesen gegeneinander treibt, aber immerhin genug, um sich der Menschwerdung zu nähern. Was leider bisher nicht gelungen scheint. Gesetze und Auffassungen der Religionen haben sich seitdem kaum verändert, ein paar Modifikationen, aber im Grunde geht es immer noch hauptsächlich um Abwehr und Macht, um Unterwerfung oder Töten. Für jede Religion wird getötet. Wird es je eine Zivilisation geben? Ein einheitliches Gesetz nach dem sich die gesamte Menschheit richtet, ihren individuellen Glauben hinten anzustellen weiß, um sich dem gemeinsamen Überleben zu widmen? Vielleicht kannst du mir ja erklären, wo das von dir so gepriesene Christentum und die Zivilisation sich versteckt hält, wenn bei Militäreinsätzen, wissentlich voll besetzte Hospitäler bombardiert, dem Erdboden gleich gemacht werden. Wenn Kranke, Verletzte, Kinder, Personal und Ärzte sterben, weil sich möglicherweise eine Handvoll sogenannter Terroristen in dem Gebäude aufhält?

„Paul“, rief sein Vater heiser, „wir stecken mitten in einem kometenhaften Aufstieg des Islam, eine ungeheure Macht, die Gesetzlosigkeit breitet sich rasend schnell aus, weltweit. Wie peinlich oberflächlich und einseitig informiert du bist, falsch informiert! Diese Verrückten schlachten sich doch auch gegenseitig ab, lassen ganze sunnitische Moscheen, gefüllt mit Moslems, in die Luft fliegen. Du verdrehst Tatsachen und siehst sie mit den Augen deiner Muslimin. Zu diesen von dir erwähnten Angriffen hat sich der I.S. bekannt, so etwas würden zivilisierte Militärs niemals befehlen.“

„Dann sind es eben ganze Hochzeitsgesellschaften, die, um einen einzigen angeblichen Terroristen zu erwischen, mit Mann und Maus zerfetzt werden. Durch zivilisiert gelenkte Drohneneinsätze der USA, die von Europa gutgeheißen werden. Wie nennst du es, wenn diplomatische Schläfrigkeit mit militärischen Mitteln unterstützt wird. Wenn modernste Instrumente der Machtpolitik, wie die Drohne, als Botschafter des Friedens betitelt werden. Wenn unzählig rechtmäßige Auftritte, deiner so gelobten christlichen Zivilisation, gegen die bösen Muslime stattfinden, die samt und sonder, als gefährliche Subjekte eines religiös und kulturell verhärteten Kerns der arabisch islamischen Welt beschimpft und gefürchtet werden. Und was wurde nicht alles, in nicht allzu weiter Vergangenheit, unter den Kolonialmächten mit moslemischer Bevölkerung angestellt! Nicht im fernen Mittelalter, wie du es nennst, sondern noch in unserer Zeit, als du schon auf der Welt warst.

Der Krieg in Syrien? Wo ist die Wurzel des Übels, und wie hoch motiviert am Erhalt verschiedener Übel sind deine Christen? Ein besonderes Interesse deiner Zivilisation möchte ich gerne noch hervorheben, nämlich die höchst erwünschte und erfolgreich durchgesetzte Wachstumsquote der Waffenexportgeschäfte. Hier in unserem Lande, mit ganz besonderem Aufgebot. Unsere effiziente, allerorts gelobte Rüstungsindustrie stellt gerne alles Nötige zur Verfügung, über Umwege, natürlich, und im Namen des Friedens, dem Schutz der Demokratie und für den Kampf gegen den Terrorismus. Man hätte das Potenzial gehabt dieses Dilemma zu verhindern. Nun haben wir zusätzlich zu den Flüchtlingen aus Afrika, deren Hälfte man im Mittelmeer ersaufen lässt wie überflüssige Welpen, eine Völkerwanderung aus Syrien und dem Irak. Aus allen möglichen Ländern und Kontinenten kommen sie hereingeströmt, Schutz und Nahrung suchend und ein wenig Würde. Jene Würde, die einem großen Teil von ihnen und ihren Ahnen in der ausgebeuteten Heimat von den zivilisierten Christen gestohlen worden ist. Aus aller Welt strömen sie nun herbei und fordern unsere Hilfe, benötigen die gepriesene Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit. Deine Zivilisation reagiert, erstens, als sei es eine große Überraschung, zweitens, als sei sie an dieser Fluchtsituation anderer völlig unschuldig, und drittens, als hätten diese Fliehenden die Pest. Oder was noch viel verwirrender ist, als hätten all diese Menschen, die in Panik ihre Heimat verlassen mussten, unter ihren Hemden Bomben auf eine selbstmörderische Brust geschnallt. Diese, so überaus überraschte christliche Welt zeigt genau so viel Hochmut den Flüchtlingen gegenüber, wie sie es an christlicher Gesinnung hapern lässt. Wer sich erhöht wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt wird erhöht werden. Das Wort Jesu, vielleicht erinnerst du dich? Warum diese Überheblichkeit! Aus Angst? Aus Angst an Wohlstand zu verlieren, etwas abzugeben, was auf Jahrhunderte langem Diebstahl basiert. Aus Angst zu teilen und eventuell die verlogene Ordnung zu beunruhigen und festgefahrene Traditionen zu verwässern? Oder aus Angst vor den Gesetzen des Islam, die keiner all der Ängstlichen auch nur annähernd kennt?“

 

Paul war nicht sonderlich erregt, er sprach beinahe ruhig und lenkte sich zurück auf den Ausgangspunkt dieser Unterhaltung. Er wies lässig mit seiner Hand auf das Schreiben, das er kurz zuvor noch einmal überflogen hatte, ein Zettel, der in den Augen seines Vaters wie ein blutiges Schwert zwischen ihnen lag.

„Vater, ich bitte dich, ist es denn wirklich unter dem heutigen, immer noch bedauerlich beschränkten Menschheitsbewusstsein so verwunderlich, wenn sich jemand mit übergroßem Eifer in ein Glashaus setzt, das ihm als Hauptstützpunkt dient, wie in dem Fall Hebdo, um wild von dort heraus um sich zu ballern, und wenn dieser Jemand dann irgendwann mit samt seinem Glashaus in die Luft fliegt?“

Sein Vater zitterte vor Empörung.

„Das sind pietätlose Argumente und ein unsinniger Vergleich. Auf einer Seite handelt es sich allenfalls um psychische Verletzung, um verletzte Gefühle, um Worte oder Karikaturen, um journalistische Kugeln die keinen Blutstrom hervorrufen. Beim Gegenangriff aber, um wahre Schüsse und um wahre Tote. Dafür gibt es…, dafür kann man keine Rechtfertigung dulden. Und ausgerechnet mein Sohn bastelt sich eine Rechtfertigung zusammen, die auch noch auf Unwissen und falschen Informationen basiert, und die aus der Narrheit, sich einer Moslemin zu nähern, geboren wurde!“

„Nur um Gefühle?“, antwortete Paul lahm, den letzten Satz ignorierend. „Nur? Warum ermordet ein Ehepartner den andern? Meist wegen „nur“ verletzter Gefühle. Das ist leider menschlich. Gerade du als Arzt müsstest wissen, dass psychische Kugeln nicht nur wie ein Schwelbrand wirken können, sondern wie eine Bombe. Ich wüsste nebenbei auch gerne, warum diese Journalisten immer wie Heilige behandelt werden. Warum stöhnt die Masse betroffener und empörter auf, wenn ein Journalist ermordet wird, als wenn es einen Normalsterblichen erwischt hat. Womit haben Journalisten ihre Sonderrechte verdient? Damit, dass sie sich angeblich um der Wahrheit Willen, um der Weltinformation Willen, in Lebensgefahr begeben? Welcher Journalist tut das schon? Es gibt eine Handvoll Journalisten und Berichterstatter, die das so sehen und wirklich wagen, der Rest handelt wenig uneigennützig. Genau besehen sind wir alle in ständiger Lebensgefahr. Jeder Autofahrer begibt sich täglich in weitaus größere Gefahr, wenn er morgens in seinen Wagen steigt, als einer dieser weniger an Wahrheit als an Sensation interessierter Schreiberlinge. Es ist doch kein Geheimnis, dass der größte Teil der Leute dieser Berufsgruppe, am allerwenigsten aus dem Bedürfnis heraus die Welt zu unterrichten oder auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen angetrieben wird, sondern eher von der Sensation und dem rücksichtslosen Wunsch der Erste zu sein. Es geht hauptsächlich darum ständig etwas Neues zu bringen. Ja, bringen, nennen sie es. Und für diese wird nun solch ein Spektakel veranstaltet?“

Sein Vater räusperte sich ungehalten, während seine Gesichtsfarbe von einem gelblich grünen Blass zu einem bläulichen Rot übergesprungen war. Dieses Farbenspiel war Paul nicht entgangen. Völlig emotionslos kreuzte ein Chamäleon seine Gedanken, bevor sein Vater lautstark das Wort ergriff. Das erstaunte Paul, diese Lautstärke kannte er nicht an seinem Vater, er war eher an diese, von Vaters Zeit bestimmten Unterhaltungen in einem freundlich drohenden, stets beherrschten Ton gewöhnt. Nun brüllten seine Worte gegen Paul.

„Durch diesen Trauer- und Protestmarsch sind für einen ganzen Tag lang alle politischen Probleme in den Hintergrund getreten. Politiker aller Welt und aller Völker und Religionen hatten sich zusammengefunden und daran teilgenommen. Das ist kein Spektakel, wie du es abfällig nennst, das verdient Respekt. Eins Komma fünf Millionen Menschen in Paris, mehr als drei Komma fünf in ganz Frankreich und unzählige in jeder Großstadt Europas und verschiedenen Kontinenten. Sie sind zusammen marschiert, zusammen gegen den „Islamischen Staat“ Es sollte ein Trauermarsch sein, und es wurde zusätzlich ein Marsch gegen den Terror und für die Demokratie, für die Pressefreiheit. Das war eine einmalige Reaktion in der Geschichte, und es war überwältigend. Und diese „Mahnwache“ gestern, ebenso einmalig. Und du meinst nun, all diese Menschen hätten sich geirrt? All diese Menschen seien mit Blindheit geschlagen und einer Schimäre aufgelaufen? Für wen hältst du dich, dass du es wagst so etwas öffentlich kundzutun!“

„Diese sogenannte Mahnwache ist etwas anderes, das geschah nach meinem Interview, obwohl mich diese Massenaufrufe gegen oder für etwas nie begeistert haben. Du scheinst da etwas grundsätzlich falsch verstanden zu haben. Ich ereifere mich nicht für oder gegen eine Meinung, ich verteidige diesen Terrorakt nicht, und ein demokratisches Gefüge, auf Gleichberechtigung und Toleranz, Wissen und Einsicht aufgebaut, heiße ich ebenso willkommen wie du. Obwohl ich glaube, dass die Umsetzung dieser Werte ins Alltagsleben niemandem leicht von der Hand geht. Es sind Parolen. Aber das ist letztlich nicht der entscheidende Punkt meines leisen Protestes, der dir so missfällt, es ist auch die Mentalität der Hammelherde, die mich besorgt. Meine Abneigung gegen dieses scheinbar nicht auszurottende gemeinsame Blöken, mit dem auch noch erfolgreich der Ausdruck individuellen Empfindens suggeriert wird. Egal, ob für Gut oder Böse im Konvoi geblökt wird. Ist das wirklich nötig? Das Anstreben von Freiheit - Brüderlichkeit - Gleichheit, wenn ich diesen Schund schon höre. Wo gibt es das Verständnis dieser edlen Begriffe denn? Und wer ist an der Umsetzung wirklich interessiert? Sieh dir doch nur die Flüchtlingslager an, wie reagiert die europäische Zivilisation mit diesem weit hergeholten Ideal der Brüderlichkeit darauf? Es ist wie es ist, menschlich, aber christlich ist es mit Sicherheit nicht. Vielleicht sollte ich mich einfach damit trösten, dass es ein Gesetz der Natur zu sein scheint, Extreme irgendwann zu vereinen und sich in Gegensätzlichkeit der Meinungen auflösen. Plötzlich sind sie vereint und bilden das Gleiche. Das kann man politisch sehen, das ist in der Gefühlswelt so, Liebe und Hass oder mit Leben und Tod. Das Extrem von Geboren-Werden ist das Sterben, und was kommt danach? Das Extrem von Tod ist das Leben, und was war davor? Davor und danach bildet die Gemeinsamkeit. Das Dazwischen entfällt dem Geschehen im Ganzen, wenn dieses sich immer wiederholende Endstadium erreicht ist.“

Paul holte tief Luft, er war vom Thema abgekommen. Sein Vater sah ihn völlig verständnislos an, als sei sein Sohn, dieser junge Mann vor ihm, mit seinem leidenschaftlichen, nie zuvor gesehenen Funkeln in den Augen, ein Fremder.