Ein feines Haus

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From the series: Die Rougon-Macquart #10
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»Uff! Es ist aus!« sagte Trublot.

Man beglückwünschte Clotilde. Frau Josserand, die herbeigestürzt war, drückte ihr beide Hände, während die Männer erleichtert ihre Unterhaltung wiederaufnahmen und die Damen sich mit lebhafterer Hand Luft zufächelten. Duveyrier wagte sich nun wieder in den kleinen Salon zurück, wohin Trublot und Octave ihm folgten. Inmitten der Röcke beugte sich Trublot zu Octaves Ohr hinüber.

»Schauen Sie mal nach rechts ... Da fängt die Ankoberei schon an.«

Es war Frau Josserand, die Berthe auf Auguste hetzte. Er war so unvorsichtig gewesen, heranzutreten und die Damen zu begrüßen. An diesem Abend ließ ihn sein Kopf so ziemlich in Ruhe; er spürte nur einen neuralgischen Punkt im linken Auge; aber er fürchtete sich vor dem Ende der Gesellschaft, denn es sollte gesungen werden, und nichts war schlimmer für ihn.

»Berthe«, sagte die Mutter, »sag doch dem Herrn das Mittel, das du für ihn aus einem Buch abgeschrieben hast ... Oh, es wirkt unfehlbar gegen Migräne!«

Und nachdem die Partie eröffnet war, ließ sie die beiden neben einem Fenster stehen.

»Zum Teufel! Wenn sie schon bei der Apotheke angelangt sind!« murmelte Trublot.

Im kleinen Salon war Herr Josserand in dem Bestreben, seine Frau zufriedenzustellen, ganz verlegen vor Herrn Vabre stehengeblieben, denn der Greis schlief, und er wagte ihn nicht zu wecken, um sich sodann liebenswürdig erweisen zu können. Aber als die Musik aufhörte, schlug Herr Vabre die Lider auf. Er war klein und dick, vollkommen kahlköpfig, hatte zwei Büschel weißer Haare über den Ohren, ein rotes Gesicht mit wulstigen Lippen und runden Glotzaugen. Nachdem Herr Josserand sich höflich nach seiner Gesundheit erkundigt hatte, kam das Gespräch in Fluß. Der ehemalige Notar, dessen vier oder fünf Gedanken sich stets in derselben Reihenfolge abwickelten, ließ zunächst einen Satz über Versailles fallen, wo er vierzig Jahre lang seinen Beruf ausgeübt hatte; darauf sprach er von seinen Söhnen, bedauerte abermals, daß weder der ältere noch der jüngere sich fähig genug gezeigt hätte, um seine Kanzlei zu übernehmen, was ihn bewogen hatte, das Notariat zu verkaufen und nach Paris zu ziehen; schließlich kam die Geschichte seines Hauses, dessen Bau der Roman seines Daseins blieb.

»Dreihunderttausend Francs habe ich da hineingesteckt, mein Herr. Eine herrliche Spekulation, pflegte mein Architekt zu sagen. Heute habe ich große Mühe, mein Geld wieder hereinzubekommen, zumal sich alle meine Kinder bei mir einquartiert haben, mit der Absicht, mir nichts zu bezahlen, und ich nie eine Miete einnehmen würde, wenn ich mich nicht selber am Fünfzehnten meldete ... Zum Glück tröstet mich die Arbeit.«

»Sie arbeiten immer noch viel?« fragte Herr Josserand.

»Immer noch, immer noch, mein Herr«, erwiderte der Greis mit verzweifelter Energie. »Arbeit ist mein Leben.« Und er erläuterte sein großes Werk. Seit zehn Jahren werte er jedes Jahr den amtlichen Katalog der Gemäldeausstellung aus, trage unter dem Namen jeden Malers die ausgestellten Bilder auf Karteikarten ein. Er sprach darüber mit müder und gequälter Miene; das Jahr sei kaum lang genug für ihn, oft sei es eine so knifflige Arbeit, daß sie ihn überwältige: so zum Beispiel, wenn eine Künstlerin heirate und dann unter dem Namen ihres Mannes ausstelle; wie sollte er sich da noch auskennen? »Nie wird meine Arbeit vollständig fertig sein, gerade das bringt mich ja um«, murmelte er.

»Sie interessieren sich für Kunst?« fragte Herr Josserand, um ihm zu schmeicheln.

Herr Vabre schaute ihn voller Überraschung an.

»Aber nein, die Bilder brauche ich nicht zu sehen. Es handelt sich um eine statistische Arbeit ... Ach, es ist besser, wenn ich schlafen gehe, da habe ich morgen einen unbeschwerteren Kopf. Guten Abend, mein Herr.« Er stützte sich auf einen Stock, den er selbst in der Wohnung bei sich behielt, und sich mühsam fortbewegend, das Kreuz bereits halb gelähmt, zog er sich zurück.

Herr Josserand stand verdattert da: er hatte nicht recht begriffen, er fürchtete, nicht begeistert genug von den Karteikarten gesprochen zu haben.

Aber ein leichtes Stimmengewirr, das aus dem großen Salon herüberscholl, brachte Trublot und Octave wieder in die Nähe der Tür zurück. Sie sahen eine etwa fünfzigjährige Dame eintreten, sehr stark und noch immer schön, der ein korrekter, ernst aussehender junger Mann folgte.

»Was! Sie kommen zusammen!« murmelte Trublot. »Na gut, tut euch bloß keinen Zwang mehr an!«

Es waren Frau Dambreville und Léon Josserand. Sie sollte ihn verheiraten: dann hatte sie ihn einstweilen zum eigenen Gebrauch behalten; und sie waren mitten in den Flitterwochen, sie brachten sich in den bürgerlichen Salons ins Gerede. Ein Gezischel machte die Runde unter den Müttern, die Töchter an den Mann zu bringen hatten. Aber Frau Duveyrier ging Frau Dambreville entgegen, die ihr junge Leute für ihre Chöre lieferte. Sogleich entführte Frau Josserand sie ihr und überhäufte sie mit Höflichkeiten, weil sie bedachte, sie werde sie brauchen können. Léon wechselte einige kühle Worte mit seiner Mutter; gleichwohl begann diese seit seinem Verhältnis zu glauben, er werde es doch noch zu etwas bringen.

»Berthe sieht Sie gar nicht«, sagte sie zu Frau Dambreville. »Verzeihen Sie ihr bitte, sie ist im Begriff, Herrn Auguste ein Heilmittel zu nennen.«

»Aber sie vertragen sich ja sehr gut miteinander, lassen wir sie doch«, erwiderte die Dame, die auf einen Blick hin begriff.

Mütterlich betrachteten sie beide Berthe. Diese hatte Auguste schließlich in die Fensternische manövriert, wo sie ihn mit ihrem netten Gehabe festhielt. Er kam in Wallung, er nahm die Migräne in Kauf.

Währenddessen unterhielt sich eine Gruppe ernster Männer im kleinen Salon über Politik. Am Tage vorher hatte im Senat wegen der römischen Frage24 eine stürmische Sitzung stattgefunden, in der es zu einer Debatte über die Adresse25 gekommen war; und Doktor Juillerat, der atheistisch und revolutionär gesinnt war, behauptete, man müsse Rom dem König von Italien26 überlassen, während Abbé Mauduit, einer der führenden Köpfe der ultramontanen Partei, die finstersten Katastrophen voraussah, wenn Frankreich nicht sein Blut bis zum letzten Tropfen für die weltliche Macht der Päpste vergieße.

»Vielleicht könnte man noch einen beiderseits annehmbaren Modus vivendi27 finden«, bemerkte Léon Josserand, der gerade hinzutrat.

Er war zur Zeit Sekretär eines berühmten Rechtsanwalts und Abgeordneten der Linken. Da er auf keinerlei Unterstützung seitens seiner Eltern hoffen durfte, deren mittelmäßige Lebensstellung ihn überdies zur Raserei brachte, war er zwei Jahre lang im Quartier Latin28 mit blutdürstigen demagogischen Reden hausieren gegangen. Seitdem er aber Zugang bei Dambrevilles gefunden hatte, wo er seinen ersten Hunger stillte, beruhigte er sich, wandelte er sich zum doktrinären Republikaner.

»Nein, es ist keine Einigung möglich«, sagte der Priester. »Die Kirche kann keinen Vergleich schließen.«

»Dann wird sie eben verschwinden!« rief der Doktor aus.

Und obgleich sie sehr befreundet waren, da sie sich im ganzen Viertel Saint-Roch an Sterbebetten getroffen hatten, schienen sie beide – der hagere und nervöse Arzt und der feiste und leutselige Vikar – unversöhnlich zu sein. Der Priester wahrte stets, selbst wenn er die bestimmtesten Behauptungen aufstellte, ein höfliches Lächeln, als Weltmann, der dem Jammer des Daseins gegenüber tolerant war, aber auch als Katholik, der nicht gewillt war, vom Dogma etwas preiszugeben.

»Die Kirche verschwinden, na, das wäre ja noch schöner!« sagte Campardon mit wütender Miene, um dem Priester, von dem er Aufträge erwartete, den Hof zu machen.

Im übrigen war dies die Ansicht aller dieser Herren: die Kirche dürfe nicht verschwinden.

Théophile Vabre, der hustend und spuckend, vor Fieber schlotternd, vom allgemeinen Glück durch Errichtung einer menschenbeglückenden Republik träumte, war der einzige, der behauptete, sie könne sich vielleicht wandeln.

Der Priester versetzte mit seiner sanften Stimme: »Das Kaiserreich bringt sich selber um. Nächstes Jahr bei den Wahlen wird man es ja erleben.«

»Ach, was das Kaiserreich anbetrifft, so dürfen Sie uns davon befreien«, sagte der Doktor unumwunden. »Das wäre eine große Gefälligkeit.«

Da schüttelte Duveyrier, der mit unergründlicher Miene zuhörte, den Kopf. Er stammte zwar aus orléanistischer29 Familie, aber er verdankte dem Kaiserreich alles und erachtete es für angemessen, es zu verteidigen.

»Glauben Sie mir«, erklärte er schließlich streng, »erschüttern Sie nicht die Grundpfeiler der Gesellschaft, oder es stürzt alles zusammen ... Solche Katastrophen würden unausweichlich gerade uns treffen.«

»Sehr richtig!« sagte Herr Josserand, der gar keine Meinung hatte, sich aber an die Befehle seiner Frau erinnerte.

Alle sprachen auf einmal. Das Kaiserreich liebte keiner. Doktor Juillerat verurteilte die mexikanische Expedition30, der Abbé Mauduit tadelte die Anerkennung des Königreichs Italien. Doch Théophile Vabre und selbst Léon standen unruhig da, als Duveyrier ihnen mit einem neuen 179331 drohte. Wozu diese fortwährenden Revolutionen? War die Freiheit denn nicht errungen? Und der Haß auf die neuartigen Ideen, die Furcht vor dem Volke, das seinen Anteil haben wollte, dämpften den Liberalismus dieser satten Spießbürger. Wie dem auch sei, sie erklärten alle, sie würden gegen den Kaiser32 stimmen, denn ihm tue eine Lehre not.

»Ach was, die öden mich an!« sagte Trublot, der sich seit einer Weile bemühte, etwas zu verstehen.

Octave bewog ihn, zu den Damen zurückzukehren.

In der Fensternische machte Berthe Auguste mit ihrem Gelächter ganz benommen. Dieser blaßblütige große Bursche vergaß seine Angst vor den Frauen und wurde ganz rot unter den Angriffen dieses schönen Mädchens, dessen Atem ihm das Gesicht erhitzte. Frau Josserand mußte indessen wohl finden, daß sich die Dinge in die Länge zogen, denn sie sah Hortense starr an; und gehorsam ging Hortense, ihrer Schwester Beistand zu leisten.

 

»Sind Sie völlig wiederhergestellt, Madame?« wagte Octave Valérie zu fragen.

»Völlig, mein Herr, ich danke Ihnen«, erwiderte sie ruhig, als erinnere sie sich an nichts.

Frau Juzeur sprach mit dem jungen Mann über eine alte Spitze, die sie ihm zu zeigen wünschte, um seine Ansicht zu erfahren; und er mußte versprechen, am nächsten Tag einen Augenblick zu ihr hereinzukommen. Als dann Abbé Mauduit in den Salon zurückkehrte, rief sie ihn herbei und veranlaßte ihn mit verzückter Miene, Platz zu nehmen.

Aber die Unterhaltung war wieder in Fluß gekommen. Die Damen plauderten über ihre Dienstboten.

»Mein Gott, ja«, fuhr Frau Duveyrier fort, »mit Clémence bin ich zufrieden, ein sehr sauberes, sehr aufgewecktes Mädchen.«

»Und Ihr Hippolyte?« fragte Frau Josserand. »Wollten Sie ihn nicht entlassen?«

Hippolyte, der Kammerdiener, reichte soeben Eis. Er war groß und stark, sah blühend aus, und als er sich entfernt hatte, erwiderte Clotilde verlegen:

»Wir behalten ihn. Es ist so unangenehm, dauernd zu wechseln! Wissen Sie, die Dienstboten gewöhnen sich zusammen ein, und ich halte große Stücke auf Clémence ...«

Frau Josserand beeilte sich, dem zuzustimmen, weil sie fühlte, daß dies ein heikles Gebiet war. Man hoffte, die beiden dereinst miteinander zu verheiraten; und Abbé Mauduit, den Duveyriers in dieser Angelegenheit um Rat gefragt hatten, nickte sanft, um gleichsam über eine dem ganzen Haus bekannte Situation, von der aber niemand sprach, den Mantel der Liebe zu breiten. Die Damen schütteten übrigens ihr Herz aus: Valérie hatte am Vormittag schon wieder ein Dienstmädchen entlassen, das dritte in acht Tagen; Frau Juzeur hatte sich vor kurzem entschlossen, eine fünfzehnjährige Kleine aus dem Findelhaus zu nehmen, um sie abzurichten; was Frau Josserand betraf, so konnte sie sich nicht genug über Adèle auslassen, eine Schmutzliese, ein Taugenichts, und sie erzählte ungewöhnliche Streiche von ihr. Und im Kerzenschimmer und Blumenduft wurden die Damen schläfrig und wühlten nun alle in diesen Vorzimmergeschichten, schwenkten die fettigen Abrechnungsbücher, erhitzten sich leidenschaftlich über die Unverschämtheiten eines Kutschers oder einer Abwaschmagd.

»Haben Sie Julie gesehen?« fragte Trublot unvermittelt Octave in geheimnisvollem Ton. Und als der andere verdutzt dastand, sagte er: »Mein Lieber, sie ist fabelhaft ... Gehen Sie hin und schauen Sie sie an. Man tut so, als verspüre man ein Bedürfnis, und huscht in die Küche ... Fabelhaft!« Er sprach von Duveyriers Köchin.

Die Unterhaltung der Damen nahm eine andere Wendung, Frau Josserand beschrieb mit überschwenglicher Begeisterung ein sehr bescheidenes Anwesen, das Duveyriers bei Villeneuve-Saint-Georges besaßen und das sie lediglich von der Eisenbahn aus erblickt hatte, als sie eines Tages nach Fontainebleau gefahren war.

Aber Clotilde liebte das Land nicht, sie wohnte so wenig wie möglich dort, wartete die Ferien ihres Sohnes Gustave ab, der zur Zeit im Lycée Bonaparte in der Unterprima war.

»Caroline hat ganz, recht, daß sie sich keine Kinder wünscht«, erklärte sie und wandte sich dabei zu Frau Hédouin um, die zwei Stühle von ihr entfernt saß. »Wie diese kleinen Geschöpfe doch alle Gewohnheiten umstoßen!«

Frau Hédouin sagte, sie habe Kinder sehr gern. Sie sei aber zu sehr in Anspruch genommen; ihr Mann reise unaufhörlich an allen vier Enden Frankreichs herum; und die ganze Firma ruhe auf ihren Schultern.

Octave, der hinter ihrem Stuhl stand, durchwühlte mit einem schrägen Blick ihr kurzes, gekräuseltes tintenschwarzes Nackenhaar und in dem sehr tief ausgeschnittenen Kleid das schneeige Weiß ihres Busens, der sich in einer Woge von Spitzen verlor. Sie, die so ruhig war, brachte ihn mit ihren knappen Worten und ihrem steten schönen Lächeln vollends in Verwirrung; niemals war er einem solchen Geschöpf begegnet, selbst in Marseille nicht. Die Sache war entschieden der Überlegung wert, und wenn man noch so lange daran arbeiten sollte.

»Kinder richten die Frauen so schnell zugrunde!« sagte er, sich zu ihrem Ohr herabbeugend, da er sie durchaus ansprechen wollte und ihm nichts anderes einfiel.

Langsam blickte sie mit ihren großen Augen empor, erwiderte dann mit der schlichten Miene, mit der sie ihm im Laden eine Anweisung zu erteilen pflegte: »O nein, Herr Octave; bei mir ist es nicht deshalb ... Zeit müßte man haben, das ist alles.«

Aber Frau Duveyrier schaltete sich ein. Sie hatte den jungen Mann, als Campardon ihn ihr vorgestellt hatte, mit einem leichten Gruß empfangen; und jetzt musterte sie ihn, hörte ihm zu, ohne daß sie ihr jähes Interesse zu verbergen suchte. Als sie ihn mit ihrer Freundin plaudern hörte, konnte sie sich nicht enthalten, ihn zu fragen: »Mein Gott! Verzeihen Sie, mein Herr ... Was für eine Stimme haben Sie?«

Er begriff nicht sogleich, schließlich sagte er, er habe eine Tenorstimme.

Da geriet Clotilde in Begeisterung: eine Tenorstimme, wahrhaftig! Das sei aber ein Glück, Tenorstimmen würden so selten! So habe sie für die »Schwerterweihe33«, die man gleich singen werde, in ihrer Gesellschaft nie mehr als drei Tenöre auftreiben können, wo sie doch mindestens fünf gebraucht hätte. Und auf einmal war sie ganz aufgeregt, hatte leuchtende Augen und mußte an sich halten, um sich nicht unverzüglich an den Flügel zu setzen und Octaves Stimme auszuprobieren.

Er mußte versprechen, eines Abends zu kommen.

Trublot, der hinter ihm stand, stieß ihn mit dem Ellbogen an, und er genoß in seiner Unbeteiligtheit grimmige Freuden.

»Na, jetzt sind Sie dran!« flüsterte er, als sie sich entfernt hatte. »Bei mir, mein Lieber, hat sie zuerst eine Baritonstimme entdeckt; als sie dann sah, daß es nicht klappte, hat sie es mit mir als Tenor probiert; das hat auch nicht besser geklappt, und sie hat beschlossen, mich heute abend als Baß einzusetzen ... Ich spiele einen Mönch.«

Aber er mußte Octave verlassen, eben rief ihn Frau Duveyrier, man schickte sich an, den Chor zu singen, die Glanznummer des Abends. Es gab ein allgemeines Stuhlrücken. Etwa fünfzehn Männer – alles Musikliebhaber, alle unter den Gästen des Hauses angeworben – bahnten sich inmitten der Damen mühsam einen Weg, um sich vor dem Flügel zu versammeln. Sie blieben stehen, entschuldigten sich, ihre Stimmen wurden vom summenden Lärm der Gespräche erstickt, während sich die Fächer in der zunehmenden Hitze schneller bewegten. Schließlich zählte Frau Duveyrier die Sänger ab, es waren alle da; und sie verteilte die Noten unter sie, die sie selbst abgeschrieben hatte. Campardon stellte den Saint-Bris dar, einem jungen Auditeur34 im Staatsrat waren die wenigen Takte des Nevers übertragen worden; dann kamen acht Edelleute, vier Schöffen, drei Mönche, mit deren Rollen Rechtsanwälte, Beamte und einfache Hausbesitzer betraut waren. Sie selbst, die die Sänger auf dem Flügel begleitete, hatte sich außerdem die Partie der Valentine vorbehalten und stieß beim Anschlagen der Akkorde leidenschaftliche Schreie aus; denn sie wollte keine andere Frau in den Kreis dieser Herren hineinlassen, deren ergebene Schar sie mit der Grobheit eines Kapellmeisters leitete.

Währenddessen gingen die Gespräche weiter, ein unerträglicher Lärm kam vor allem aus dem kleinen Salon, wo die politischen Diskussionen anscheinend immer erbitterter wurden. Da zog Clotilde einen Schlüssel aus der Tasche und klopfte mehrmals leicht damit auf den Flügel. Ein Gemurmel lief um, die Stimmen ebbten ab, erneut fluteten zwei Wogen schwarzer Fracks zu den Türen herein; und über die Köpfe hinweg gewahrte man einen Augenblick Duveyriers rotgeflecktes Gesicht, auf dem ein Ausdruck von Angst lag. Octave war hinter Frau Hédouin stehengeblieben, den Blick auf die tief in die Spitzen verlorenen Schatten ihres Busens gesenkt. Aber als Schweigen eintrat, brach plötzlich ein Gelächter los, und er hob den Kopf. Das Gelächter kam von Berthe, die sich an einem Scherz Augustes ergötzte, dessen dünnes Blut sie so weit erhitzt hatte, daß er anzüglich wurde. Der Salon schaute zu ihnen hin, Mütter wurden ernst, Angehörige der Familie wechselten einen Blick.

»Ist sie denn närrisch!« murmelte Frau Josserand mit zärtlicher Miene, so laut, daß man sie hören konnte.

Hortense, die neben ihrer Schwester stand, half ihr mit willfähriger Selbstverleugnung, feuerte ihr Gelächter an, schob sie an den jungen Mann heran, während hinter ihnen durch das halboffene Fenster ein leichtes Lüftchen die großen rotseidenen Vorhänge hin und her bewegte.

Aber eine Grabesstimme erbebte, alle Köpfe wandten sich dem Flügel zu. Den Mund rund geformt, den Bart in einem lyrischen Windstoß vorgereckt, schleuderte Campardon den ersten Vers heraus: »Ja, uns versammelt hier unsrer Königin Wille.« Sogleich kletterte Clotilde eine Tonleiter hoch und wieder hinab; dann stieß sie, die Augen zur Decke gerichtet, mit einem Ausdruck des Entsetzens den Schrei aus: »Nur stille!«

Und die Szene ging an; die Nase in ihren Noten, schworen die acht Rechtsanwälte, Beamten und Hausbesitzer in der Haltung von Schülern, die eine Seite Griechisch herstottern, sie seien bereit, Frankreich zu befreien. Dieses erste Auftreten bot eine Überraschung, denn die Stimmen erstickten unter der niedrigen Decke, man vernahm nur ein Brummen, das wie das Gerassel mit Pflastersteinen beladener Karren klang, bei dem die Fensterscheiben klirrten. Aber als Saint-Brisʼ melodisches Motiv »Geheiligt sei die Rache, gehorcht der guten Sache!« das Hauptthema entwickelte, kannten sich einige Damen aus und nickten mit verständnisinniger Miene. Der Salon erhitzte sich, die Edelleute schrien mit voller Lautstärke: »So schwören wir! Wir folgen dir!«; und das gab jedesmal eine Explosion, die jeden Gast mitten in die Brust traf.

»Die singen zu laut«, flüsterte Octave Frau Hédouin ins Ohr.

Sie rührte sich nicht.

Da Neversʼ und Valentines Erklärungen Octave langweilten, zumal der Auditeur im Staatsrat ein falscher Bariton war, nahm er nun mit Trublot Verbindung auf, der ihn, in Erwartung des Auftritts der Mönche, mit einem Zusammenkneifen der Augenlider zur Fensternische hinwies, wo Berthe Auguste weiter gefangenhielt.

Jetzt waren sie allein dort in der von draußen hereinkommenden frischen Luft, während Hortense gespannt lauschend weiter vorn stand, sich an den Vorhang schmiegte, an dessen Halteschnur sie mechanisch drehte. Niemand sah mehr zu ihnen hin, selbst Frau Josserand und Frau Dambreville hatten nach einem instinktiven Blickwechsel die Augen abgewandt.

Unterdessen streckte Clotilde, die die Hände auf den Tasten hatte, mitgerissen war und keine Geste wagen konnte, den Hals vor, wobei sie folgenden für Nevers bestimmten Schwur an den Notenhalter richtete: »Für dich mein Blut von nun an spricht!«

Die Schöffen waren aufgetreten: ein Staatsanwaltsvertreter, zwei Anwälte und ein Notar. Das Quartett tobte los, das Motiv »Geheiligt sei die Rache, gehorcht der guten Sache!« kehrte erweitert, von der Hälfte des Chors gestützt, in einem steten Erblühen wieder. Campardon, der den Mund immer runder und hohler machte, erteilte mit einem fürchterlichen Rollen der Silben die Befehle zum Kampf. Und auf einmal brach der Gesang der Mönche los: Trublot psalmodierte mit dem Bauch, um die tiefen Töne herauszubekommen.

Octave, der neugierig darauf gewesen war, Trublot singen zu sehen, war ganz überrascht, als er seine Augen wieder zum Fenster hin wandte.

Vom Chor gleichsam in Wallung gebracht, hatte Hortense soeben mit einer Bewegung, die unbeabsichtigt sein mochte, die Halteschnur gelöst; und der herabfallende große rotseidene Vorhang hatte Auguste und Berthe vollständig verhüllt. Mit den Ellbogen auf die Schutzstange gestützt, standen sie dahinter, ohne daß eine Bewegung ihre Anwesenheit verriet.

Octave kümmerte sich nicht mehr um Trublot, der gerade die Schwerter weihte: »Waffen, wir segnen, heilge Waffen, euch.« Was mochten die beiden bloß hinter diesem Vorhang tun? Es begann die Stretta; auf das Gebrumm der Mönche antwortete der Chor: »Schlagt tot! Schlagt tot! Schlagt tot!«

Und Auguste und Berthe rührten sich nicht, vielleicht betrachteten sie, da ihnen heiß geworden war, lediglich die vorüberfahrenden Droschken.

Aber Saint-Brisʼ melodisches Motiv tauchte nochmals auf, nach und nach schleuderten es alle Stimmen in einer Steigerung, in einem Schlußgeschmetter von außerordentlicher Gewalt aus voller Kehle heraus. Es war gleichsam eine Bö, die sich im Hintergrund der zu engen Wohnung verfing, die Kerzen verstört flackern ließ, die Gäste, denen schier die Ohren platzten, zum Erblassen brachte. Wütend hämmerte Clotilde auf den Flügel ein, riß die Herren mit dem Blick mit; dann besänftigten sich die Stimmen, wisperten: »Leis und still! Habet acht! Mitternacht!«, und sie fuhr allein fort, sie gebrauchte das Pianopedal, ließ die taktmäßigen und verlorenen Schritte einer sich entfernenden Streifwache ertönen.

 

Da, in dieser ersterbenden Musik, in dieser Erleichterung nach so viel Radau, hörte man jäh eine Stimme sagen: »Sie tun mir ja weh!«

Wiederum hatten sich alle Köpfe dem Fenster zugewandt. Frau Dambreville hatte sich freundlicherweise nützlich gemacht, indem sie hinging und den Vorhang hochschob. Und der Salon betrachtete den verwirrten Auguste und die hochrot gewordene Berthe, die beide noch immer an der Schutzstange des Fensters lehnten.

»Was gibtʼs denn, mein Schatz?« fragte Frau Josserand mit eifriger Miene.

»Nichts, Mama ... Herr Auguste hat mir mit dem Fenster gegen den Arm gestoßen ... Mir war so heiß!« Sie errötete noch mehr. Es wurde verkniffen gelächelt, man verzog indigniert den Mund. Frau Duveyrier, die ihren Bruder seit einem Monat von Berthe abzubringen suchte, saß ganz blaß da, zumal der Zwischenfall die Wirkung ihres Chors beschnitten hatte. Doch nach dem ersten Augenblick der Überraschung klatschte man Beifall, beglückwünschte man sie, ließ liebenswürdige Worte für die Herren mit einfließen. Wie sie gesungen hätten! Wieviel Mühe hatte sich wohl Frau Duveyrier geben müssen, damit sie mit dieser Ensemblewirkung sangen! Wahrhaftig, im Theater erzielte man keinen größeren Erfolg! Aber unter diesen Lobeserhebungen hörte sie sehr wohl das im Salon umlaufende Gezischel: das junge Mädchen war zu sehr kompromittiert, die Heirat war perfekt.

»Eingewickelt, was!« sagte Trublot, der auf Octave zukam. »So ein Trottel! Während unserer Grölerei, da hätte er sie kneifen sollen! Ich dachte, er würde das ausnutzen. Wissen Sie, in den Salons, wo gesungen wird, da kneift man eine Dame eben, und wenn sie schreit, dann ist einem das schnuppe! Es hörtʼs ja niemand.«

Berthe, die jetzt sehr ruhig war, lachte wiederum, während Hortense mit der ihr eigenen mürrischen Miene einer jungen Dame mit Lehrerinnendiplom Auguste betrachtete; und im Triumph der beiden kamen die Lehren ihrer Mutter wieder zum Vorschein, die offen zur Schau getragene Verachtung für den Mann.

Die geladenen Herren hatten den Salon überflutet und mischten sich nun laut redend unter die Damen.

Herr Josserand, dessen Herz Berthes Abenteuer mit Unruhe erfüllte, hatte sich wieder seiner Frau genähert. Mit Unbehagen hörte er zu, wie sie Frau Dambreville für die Gütebeweise dankte, mit der diese ihren Sohn Léon überhäufte, den sie ganz entschieden zu seinem Vorteil verändere. Aber dieses Unbehagen verstärkte sich noch, als er hörte, wie sie wieder auf ihre Töchter zu sprechen kam. Sie tat so, als unterhalte sie sich leise mit Frau Juzeur, während sie für Valérie und Clotilde sprach, die in ihrer Nähe standen.

»Mein Gott, ja, heute hat es uns ihr Onkel schon wieder geschrieben: Berthe bekommt fünfzigtausend Francs. Das ist zweifellos nicht viel, aber wenn das Geld da ist, und zwar tatsächlich da ist!«

Diese Lüge empörte ihn. Er konnte sich nicht enthalten, verstohlen ihre Schulter zu berühren.

Sie schaute ihn an, zwang ihn, vor dem entschlossenen Ausdruck ihres Gesichts die Augen niederzuschlagen. Als sich dann Frau Duveyrier, die liebenswürdiger geworden war, umgedreht hatte, erkundigte sie sich interessiert bei ihr nach dem Befinden ihres Vaters.

»Oh, Papa muß schlafen gegangen sein«, erwiderte die junge Frau völlig gewonnen. »Er arbeitet so viel!«

Herr Josserand sagte, Herr Vabre habe sich in der Tat zurückgezogen, um morgen einen klaren Kopf zu haben. Und er stotterte: ein recht beachtlicher Verstand, außerordentliche Fähigkeiten, wobei er sich fragte, wo er diese Mitgift hernehmen solle und wie er wohl am Tag des Ehevertragsabschlusses dastehen würde.

Aber Stühlerücken erfüllte den Salon mit großem Lärm. Die Damen gingen ins Eßzimmer hinüber, wo der Tee serviert war. Siegreich begab sich Frau Josserand dorthin, umgeben von ihren Töchtern und der Familie Vabre. Bald blieb inmitten des heillosen Durcheinanders der Sessel nur noch die Gruppe der ernsten Männer zurück. Campardon hatte sich des Abbés Mauduit bemächtigt: es handelte sich um eine Reparatur an der Kalvarienkapelle von der Kirche Saint-Roch. Der Architekt erklärte sich gern bereit, diese Reparatur zu übernehmen, denn seine Diözese Evreux mache ihm wenig Arbeit. Dort lägen bloß der Bau einer Kanzel und der Einbau einer Heizung und neuer Herde in Monsignores35 Küchen vor, Arbeiten, zu deren Beaufsichtigung sein Inspektor genüge. Da versprach der Priester, die Angelegenheit gleich bei der nächsten Versammlung des Kirchenvorstands endgültig durchzusetzen. Und sie gesellten sich beide wieder zu der Gruppe, wo man Duveyrier eben zu der Abfassung eines Urteils beglückwünschte, als dessen Verfasser er sich bekannte; der Präsident, der sein Freund war, pflegte gewisse leichte und glanzvolle Arbeiten für ihn zu reservieren, um ihn öffentlich herauszustellen.

»Haben Sie diesen neuen Roman gelesen?« fragte Léon, der in einem Exemplar der »Revue des Deux- Mondes36« Blätterte, das auf einem Tisch herumlag. »Er ist gut geschrieben; aber schon wieder ein Ehebruch, das wird am Ende wahrhaftig langweilig!«

Und das Gespräch wandte sich der Moral zu. Es gebe sehr ehrbare Frauen, sagte Campardon. Alle stimmten zu. Übrigens komme man, nach Meinung des Architekten, in einer Ehe trotz allem zurecht, wenn man es verstehe, sich miteinander zu vertragen. Ohne sich deutlicher auszudrücken, bemerkte Théophile Vabre, das hänge von der Frau ab. Man wollte Doktor Juillerats Ansicht hören, der vor sich hin lächelte; aber er entschuldigte sich: für ihn liege die Tugend in der Gesundheit. Währenddessen stand Duveyrier versonnen da.

»Mein Gott!« murmelte er schließlich. »Diese Schriftsteller übertreiben ja, in den gebildeten Ständen ist der Ehebruch sehr selten ... Wenn eine Frau aus guter Familie stammt, so hat sie eine Blume in der Seele ...« Er war für großartige Gefühle, das Wort »Ideal« sprach er mit einer Gemütsbewegung aus, die seinen Blick verschleierte. Und er gab dem Abbé Mauduit recht, als dieser von der Notwendigkeit religiösen Glaubens bei der Gattin und Mutter sprach.

So wurde die Unterhaltung auf die Religion und die Politik zurückgeführt, zu dem Punkt also, an dem die Herren sie abgebrochen hatten. Niemals werde die Kirche verschwinden, weil sie die Grundlage der Familie und die natürliche Stütze der Regierungen sei.

»Als Aufpasserin laß ich sie meinetwegen gelten«, murmelte der Doktor.

Duveyrier liebte es übrigens gar nicht, daß bei ihm über Politik gesprochen wurde, und einen Blick ins Eßzimmer werfend, wo Berthe und Hortense Auguste mit belegten Brötchen vollstopften, begnügte er sich, streng zu erklären: »Eines ist bewiesene Tatsache, meine Herren, die alles entscheidet: die Religion gibt der Ehe eine sittliche Grundlage.«

Im gleichen Augenblick beugte sich Trublot, der auf einem Kanapee neben Octave saß, zu diesem hinüber.

»Übrigens«, fragte er, »soll ich Ihnen eine Einladung zu einer Dame verschaffen, bei der man sich amüsiert?« Und als sein Gefährte zu wissen wünschte, was für eine Art Dame das sei, setzte er, auf den Appellationsgerichtsrat deutend, hinzu: »Seine Geliebte.«

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