Ein feines Haus

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From the series: Die Rougon-Macquart #10
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»Das gnädige Fräulein ist wirklich eine erstklassige Künstlerin«, sagte Octave, der in seinen Betrachtungen gestört wurde. »Niemals hat mir jemand ein solches Vergnügen bereitet.«

»Nicht wahr, mein Herr?« rief Frau Josserand entzückt aus. »Sie macht ihre Sache ganz gut, das muß man doch zugeben ... Mein Gott, wir haben ihr ja auch nichts versagt, der Kleinen: sie ist unser Schatz! Alle Talente, die sie sich gewünscht hat, hat sie ... Ach, Herr Mouret, wenn Sie sie erst kennen würden ...«

Von neuem erfüllte verworrener Stimmenlärm den Salon. Seelenruhig nahm Berthe die Lobreden entgegen; und sie entfernte sich nicht vom Klavier, wartete, bis ihre Mutter sie von ihrer Fron entband. Schon erzählte diese Octave, auf welche erstaunliche und schmissige Art und Weise ihre Tochter »Die Schnitter«, einen brillanten Galopp, vorzutragen pflege, da versetzten dumpfe und ferne Schläge die Gäste in Aufregung. Seit einem Weilchen waren die Stöße immer heftiger geworden, als sei jemand mit aller Anstrengung dabei, eine Tür einzuschlagen. Alle verstummten und blickten einander fragend an.

»Was ist denn das?« wagte Valérie zu fragen. »Das hat vorhin schon gegen Schluß des Musikstückes so geklopft.«

Frau Josserand war ganz bleich geworden. Sie hatte erkannt, daß Saturnin da mit der Schulter gegen die Tür stieß. Oh, dieser elende Übergeschnappte! Und sie sah ihn mitten in die Gesellschaft hineinplatzen. Wenn er weiterbumste, war wieder mal eine Partie vermasselt!

»Das ist die Küchentür, die klappt«, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. »Adèle kann sie niemals richtig zumachen ... Schau doch mal nach, Berthe.«

Auch das junge Mädchen hatte begriffen. Sie erhob sich und verschwand. Sogleich hörten die Stöße auf, aber Berthe kam nicht sofort wieder zurück. Onkel Bachelard, der die »Ufer der Oise« in skandalöser Weise durch laute Bemerkungen gestört hatte, brachte seine Schwester vollends aus der Fassung, indem er Gueulin zurief, man öde ihn an und er gehe einen Grog trinken. Beide kehrten ins Eßzimmer zurück, dessen Tür sie geräuschvoll hinter sich schlossen.

»Der gute Narcisse, immer originell!« sagte Frau Josserand zu Frau Juzeur und zu Valérie, zwischen die sie sich setzte. »Seine Geschäfte nehmen ihn so sehr in Anspruch! Wissen Sie, er hat dieses Jahr an die hunderttausend Francs verdient!«

Octave, der endlich frei war, hatte sich eilends wieder zu dem auf dem Kanapee eingeschlummerten Trublot gesellt. In der Nähe der beiden stand inmitten einer Gruppe Doktor Juillerat, ein alter Arzt aus dem Stadtviertel, ein mittelmäßiger Mensch, der mit der Zeit aber ein guter praktischer Arzt geworden war und der allen diesen Damen bei der Entbindung beigestanden und alle diese Fräulein behandelt hatte. Er befaßte sich speziell mit Frauenkrankheiten, weshalb er abends in einer Salonecke von den Ehemännern umworben zu werden pflegte, die auf eine kostenlose Konsultation aus waren.

Eben sagte Théophile zu ihm, Valérie habe am Vortage schon wieder einen Anfall gehabt; sie bekomme dann immer keine Luft, sie klage über einen Knoten, der ihr in die Kehle steige; und auch ihm gehe es nicht gut, aber das sei ja nicht dasselbe. Da sprach er nur noch von seiner eigenen Person, erzählte von seinen Verdrießlichkeiten: er habe Jura zu studieren begonnen, habe es in der Industrie bei einem Gießer versucht, habe es in den Büros des Leihhauses mit der Verwaltung probiert; dann habe er sich mit Photographieren beschäftigt und glaubte eine Erfindung gemacht zu haben, wie nämlich Wagen von ganz allein fortbewegt werden könnten; mittlerweile vertreibe er aus Gefälligkeit Flötenklaviere, eine andere Erfindung eines seiner Freunde. Und er kam wieder auf seine Frau zu sprechen; ihre Schuld sei es, wenn bei ihnen zu Hause nichts klappe; sie bringe ihn um mit ihren dauernden Nervenzuständen.

»Verschreiben Sie ihr doch etwas, Herr Doktor!« flehte er mit haßentflammten Augen, hustend und greinend in der weinerlichen Wut darüber, daß er nichts zustande brachte.

Trublot musterte ihn voller Verachtung; und als er Octave anschaute, lachte er kurz im stillen.

Unterdessen fand Doktor Juillerat nichtssagende und beruhigende Worte: freilich, man werde der lieben gnädigen Frau Erleichterung verschaffen. Schon mit vierzehn Jahren hatte sie in dem Laden in der Rue Neuve-Saint-Augustin keine Luft bekommen; er hatte sie wegen Schwindelanfällen behandelt, die mit Nasenbluten zu enden pflegten; und als Théophile voller Verzweiflung an ihre schmachtende Sanftmut erinnerte, die sie als junges Mädchen gehabt, während sie ihn jetzt mit ihrer Wunderlichkeit peinige und sich ihre Laune zwanzigmal am Tage ändere, begnügte sich der Doktor mit einem Nicken. Nicht allen Frauen bekäme die Ehe gut.

»Mein Gott noch mal!« murmelte Trublot. »Ein Vater, der dreißig Jahre lang Nadeln und Zwirn verkauft hat und dabei zum Vieh abgestumpft ist, eine Mutter, die das Gesicht ständig voller Pickel hat, und das in einem luftlosen Loch des alten Paris – wie soll denn so was annehmbare Töchter machen?«

Octave, saß überrascht da. Er verlor ein wenig von seiner Achtung vor diesem Salon, den er als Provinzler voller Erregung betreten hatte. Neugier erwachte in ihm, als er Campardon erblickte, der nun ebenfalls den Doktor konsultierte, aber ganz leise, als ein gesetzter Mensch, der bestrebt ist, niemand in die Mißgeschicke seiner Ehe einzuweihen.

»Was ich sagen wollte, Sie wissen doch Bescheid«, bat er Trublot. »Sagen Sie mal, was für eine Krankheit hat Frau Campardon eigentlich? Ich sehe doch, daß die Leute ein untröstliches Gesicht machen, wenn von ihr die Rede ist.«

»Aber, mein Lieber«, erwiderte der junge Mann, »sie hat ...« Und er neigte sich zu Octaves Ohr.

Octave lauschte, sein Gesicht lächelte zuerst, wurde dann länger und länger, nahm den Ausdruck tiefer Verblüffung an.

»Nicht möglich!« sagte er.

Da schwor Trublot bei seinem Ehrenwort. Er kenne eine andere Dame, der es genauso gehe.

»Übrigens«, fuhr er fort, »kommt es als Folge einer Entbindung manchmal vor, daß ...« Und er begann wieder leise zu sprechen.

Octave war überzeugt und wurde traurig. Er, der einen Augenblick so allerlei Ideen gehabt, der sich einen Roman ausgedacht hatte: der Architekt sei anderswo gebunden und treibe ihn seiner Frau zu, um ihr Ablenkung zu verschaffen! Auf jeden Fall wußte er nun, daß sie wohlbehütet war. In der Erregung über diese Damenunterwäsche, in der sie wühlten, rieben sich die beiden jungen Leute aneinander und vergaßen, daß man sie hören konnte.

Gerade war Frau Juzeur dabei, Frau Josserand anzuvertrauen, welchen Eindruck Octave auf sie gemacht hatte. Sie halte ihn zweifellos für sehr anständig, aber ihr sei Herr Auguste Vabre lieber. Dieser stand in einer Ecke des Salons und verhielt sich schweigsam, weil er unbedeutend und von seiner allabendlichen Migräne geplagt war.

»Mich wundert aber doch, liebe Madame Josserand, daß Sie für Ihre Berthe nicht an ihn gedacht haben. Ein Junggeselle voller Klugheit, der sein eigenes Geschäft hat. Und er braucht eine Frau, ich weiß, daß er sich zu verheiraten trachtet.«

Frau Josserand hörte überrascht zu. In der Tat, an den Modewarenhändler hätte sie nie gedacht.

Indessen ließ Frau Juzeur nicht locker, denn sie hatte in all ihrem Unglück die Leidenschaft, auf die Glückseligkeit anderer Frauen hinzuarbeiten, weshalb sie sich um alle Herzensangelegenheiten im Hause kümmerte. Sie versicherte, Auguste schaue Berthe unaufhörlich an. Schließlich berief sie sich auf ihre Erfahrung mit Männern: Herr Mouret werde sich niemals einfangen lassen, während dieser biedere Herr Vabre sehr bequem, sehr vorteilhaft zu haben sei.

Aber Frau Josserand, die Herrn Vabre mit dem Blick abschätzte, kam entschieden zu dem Urteil, daß ein solcher Schwiegersohn nicht gerade ein Prunkstück für ihren Salon sein würde.

»Meine Tochter kann ihn nicht ausstehen«, sagte sie, »und ich werde niemals ihrem Herzen zuwiderhandeln!«

Ein großes, mageres Fräulein hatte soeben eine Phantasie über die »Weiße Dame15« vorgetragen. Da Onkel Bachelard im Eßzimmer eingeschlafen war, kam Gueulin wieder mit seiner Flöte zum Vorschein und machte eine Nachtigall nach. Man hörte übrigens nicht zu, Bonnauds Geschichte hatte sich herumgesprochen. Herr Josserand saß erschüttert da, die Väter hoben die Arme, den Müttern blieb die Luft weg. Wie? Bonnauds Schwiegersohn war ein Clown? Wem sollte man da noch trauen? Und die Eltern bekamen in ihrer Verheiratungsgier Alpträume von vornehmen Zuchthäuslern im Frack. Bonnaud hatte sich in der Tat so sehr gefreut, seine Tochter unterzubringen, daß er sich trotz seiner strengen Vorsicht als peinlich genauer Chef der Buchhaltungsabteilung begnügt hatte, flüchtige Erkundigungen einzuziehen.

»Mama, der Tee ist serviert«, sagte Berthe, die mit Adèle die beiden Türflügel öffnete.

Und während die Gäste langsam ins Eßzimmer hinübergingen, trat sie zu ihrer Mutter und flüsterte: »Jetzt langtʼs mir aber! Er will, daß ich dableibe und ihm Geschichten erzähle, sonst will er alles kurz und klein schlagen, sagt er!«

Auf einem zu schmalen grauen Tischtuch war eines jener mühselig angerichteten Teegedecke zu sehen, eine bei einem benachbarten Bäcker gekaufte Brioche, die von Petits Fours und belegten Brötchen flankiert war. An beiden Tischenden verdeckte eine Blumenpracht, wundervolle und teure Rosen, die Mittelmäßigkeit der Butter und den alten Staub auf den Biskuits. Man brach in Bewunderung aus. Neidgefühle wurden entfacht: diese Josserands richteten sich bestimmt noch zugrunde, um ihre Töchter unter die Haube zu bringen. Und während die Gäste scheele Blicke auf die Blumensträuße warfen, kippten sie sich mit saurem Tee voll, fielen ohne Vorsicht über die altbackenen Kuchen und die nicht durchgebackene Brioche her, da sie wenig zu Abend gegessen hatten und nur noch daran dachten, mit vollem Bauch schlafen zu gehen. Für diejenigen, die keinen Tee mochten, reichte Adèle Gläser mit Johannisbeersaft herum. Er sei köstlich, wurde erklärt.

 

Währenddessen schlief der Onkel in einer Ecke. Man weckte ihn nicht, höflich tat man sogar so, als sehe man ihn nicht. Eine Dame sprach von den Strapazen des Geschäftslebens. Berthe war eifrig bemüht, sie bot belegte Brötchen an, trug Tassen mit Tee umher, fragte die Herren, ob sie noch etwas Zucker wünschten. Aber sie konnte es nicht bewältigen, und Frau Josserand suchte ihre Tochter Hortense, da gewahrte sie diese mitten im menschenleeren Salon, wo sie mit einem Herrn plauderte, von dem nur der Rücken zu sehen war.

»Na ja«, stieß sie zornentbrannt hervor. »Endlich kommt er ja!«

Gezischel lief um. Das war dieser Verdier, der seit fünfzehn Jahren mit einer Frau zusammen lebte und darauf wartete, Hortense heiraten zu können. Jeder kannte die Geschichte, die jungen Damen wechselten Blicke; aber man vermied es, davon zu sprechen, man kniff schicklichkeitshalber die Lippen zusammen. Octave, der in Kenntnis gesetzt worden war, betrachtete mit interessierter Miene den Rücken des Herrn. Trublot kannte die Geliebte, ein braves Mädchen, eine ehemalige Fose, die solide geworden sei, die jetzt, wie er sagte, ehrbarer sei als die allerehrbarste Bürgersfrau, ihren Mann umhegte und seine Wäsche in Schuß halte; und er war von brüderlicher Sympathie für sie erfüllt. Während man sie beide vom Eßzimmer aus musterte, machte Hortense mit der ihr eigenen Verdrießlichkeit eines unberührten und wohlerzogenen Mädchens Verdier wegen seiner Verspätung eine Szene.

»Aha, Johannisbeersaft!« sagte Trublot, als er Adèle mit dem Tablett in der Hand vor sich sah. Er schnupperte daran, wollte keinen haben. Als das Dienstmädchen sich aber umdrehte, wurde es vom Ellbogen einer dicken Dame gegen Trublot gedrückt, und er kniff das Mädchen heftig ins Kreuz.

Adèle lächelte, sie kam mit dem Tablett zurück.

»Danke, nein«, erklärte er. »Nachher.«

Rings um den Tisch hatten Damen Platz genommen, während die Herren hinter ihnen im Stehen aßen. Ausrufe wurden laut, eine Begeisterung äußerte sich, die in den vollen Mündern erstickte.

Die Herren wurden herbeigerufen.

Frau Josserand rief: »Ach ja, richtig, daran habe ich gar nicht mehr gedacht ... sehen Sie doch, Herr Mouret, Sie sind doch ein Kunstliebhaber.«

»Passen Sie auf, der Dreh mit dem Aquarell!« flüsterte Trublot, der das Haus kannte.

Es war etwas Besseres als ein Aquarell. Wie zufällig stand eine Porzellanschale auf dem Tisch; auf dem Boden der Schale war, eingerahmt in die nagelneue Fassung aus überfirnißter Bronze, das »Junge Mädchen mit dem zerbrochenen Krug« in verwaschenen Farbtönen gemalt, die von hellem Lila bis zu zartem Blau reichten. Berthe lächelte inmitten des Lobes.

»Das gnädige Fräulein hat ja alle Talente«, sagte Octave mit seiner liebenswürdigen Art. »Oh, wie das abgetönt ist, und ganz genau, ganz genau!«

»Was die Zeichnung betrifft, so verbürge ich mich für sie!« erklärte Frau Josserand triumphierend. »Es ist kein Haar mehr oder weniger vorhanden ... Berthe hat das hier nach einem Stich kopiert. Im Louvre16 sind wirklich gar zu viele Aktbilder zu sehen, und das Publikum ist dort manchmal so gemischt!«

Um diese Wertung abgeben zu können, hatte sie die Stimme gedämpft, von dem Wunsch erfüllt, den jungen Mann davon in Kenntnis zu setzen, daß es, wenn ihre Tochter auch Künstlerin war, durchaus nicht in Schamlosigkeit ausartete. Übrigens mußte Octave kühl auf sie wirken, sie fühlte, daß die Schale nicht zog, und sie begann ihn mit unruhiger Miene zu belauern, während Valérie und Frau Juzeur, die bei ihrer vierten Tasse Tee angelangt waren, die Malerei mit leisen Rufen der Bewunderung musterten.

»Sie schauen sie ja immer noch an«, sagte Trublot zu Octave, als er merkte, daß dieser die Augen wieder auf Valérie geheftet hatte.

»Freilich«, erwiderte er ein wenig verlegen. »Komisch, in diesem Augenblick ist sie hübsch ... Eine feurige Frau, das sieht man ... Sagen Sie mal, ob man es riskieren könnte?«

Trublot blies die Backen auf.

»Feurig, das weiß man nie ... Merkwürdiger Geschmack! Auf alle Fälle ist das besser, als die Kleine zu heiraten!«

»Welche Kleine?« rief Octave, der sich vergaß. »Wie! Glauben Sie, ich werde mich einwickeln lassen? Aber niemals! Mein Bester, wir Marseiller heiraten nicht!«

Frau Josserand war näher getreten. Der Satz traf sie mitten ins Herz. Wieder mal ein vergeblicher Feldzug! Wieder mal ein verlorener Abend! Der Schlag war so stark, daß sie sich an einen Stuhl lehnen mußte; verzweifelt betrachtete sie den abgeputzten Tisch, auf dem nur noch das verbrannte Kopfende der Brioche herumlag. Sie zählte ihre Niederlagen schon nicht mehr, aber diese sollte die letzte sein, darauf leistete sie einen entsetzlichen Eid, und sie schwor, sie wollte nicht länger Leuten etwas vorsetzen, die einzig und allein deshalb zu ihr kamen, um sich den Bauch vollzuschlagen. Und fassungslos, erbittert überflog sie mit dem Blick das Eßzimmer, sie forschte, welchem Mann sie ihre Tochter wohl in die Arme werfen könnte, da gewahrte sie an der Wand Auguste, der ergeben dastand und nichts zu sich genommen hatte.

Eben bewegte sich Berthe mit einer Tasse Tee in der Hand lächelnd auf Octave zu. Sie setzte den Feldzug fort, sie gehorchte ihrer Mutter.

Aber diese packte sie am Arm und schalt sie ganz leise eine dumme Gans.

»Bring diese Tasse doch Herrn Vabre, der seit einer Stunde wartet«, sagte sie sehr laut voller Anmut. Dann flüsterte sie ihr wieder ins Ohr und sah sie dabei mit ihrem Schlachtenblick an: »Sei nett, sonst kriegst du es mit mir zu tun!«

Einen Augenblick war Berthe aus der Fassung gebracht, fing sich jedoch sogleich wieder. So änderte sich das oft dreimal an einem Abend. Mit dem Lächeln, das sie für Octave aufgesetzt hatte, brachte sie Auguste die Tasse Tee; sie war nett, sprach von Lyoner Seiden, gab sich zuvorkommend wie eine Frau, die sich sehr gut hinter einem Ladentisch ausnehmen würde.

Augustes Hände zitterten ein wenig, und er war rot, denn er litt an diesem Abend an heftigen Kopfschmerzen.

Aus Höflichkeit kehrten einige Leute in den Salon zurück, um noch einen Augenblick Platz zu nehmen. Man hatte gegessen, man konnte aufbrechen. Als man Verdier suchte, war er bereits fortgegangen; und mißmutig nahmen mehrere junge Mädchen nur das verschwommene Bild seines Rückens mit. Ohne auf Octave zu warten, entfernte sich Campardon mit dem Doktor, den er auf dem Treppenabsatz noch zurückhielt, um ihn zu fragen, ob wirklich keine Hoffnung mehr bestehe. Während des Tees war die eine Lampe ausgegangen und verbreitete nun einen Geruch nach ranzigem öl; und die andere Lampe, deren Docht blakte, erhellte den Raum mit einem so schauerlichen Schein, daß sich sogar Vabres trotz der Liebenswürdigkeiten erhoben, mit denen Frau Josserand sie überhäufte. Octave war ihnen in die Diele vorausgegangen, wo er eine Überraschung erlebte: Trublot, der seinen Hut nahm, war auf einmal verschwunden. Er konnte sich nur über den zur Küche führenden Gang aus dem Staub gemacht haben.

»Nanu, wo steckt er denn? Er benutzt den Dienstbotenaufgang!« murmelte der junge Mann. Aber er grübelte über dieses Vorkommnis nicht weiter nach.

Valérie war da und suchte nach einem Halstuch aus Crêpe de Chine. Die beiden Brüder, Théophile und Auguste, gingen hinab, ohne sich um sie zu kümmern.

Da Octave das Halstuch gefunden hatte, gab er es ihr nun mit der entzückten Miene, mit der er die hübschen Kundinnen im »Paradies der Damen« zu bedienen pflegte. Sie schaute ihn an, und er war überzeugt, daß ihre Augen Flammen gesprüht, als sie fest in seine Augen geschaut hatten.

»Sie sind zu liebenswürdig, mein Herr«, sagte sie einfach.

Frau Juzeur, die zuletzt aufbrach, umhüllte sie beide mit einem zärtlichen und diskreten Lächeln.

Und als Octave ganz erhitzt wieder in seinem kalten Zimmer angelangt war, betrachtete er sich einen Augenblick im Spiegel: Wahrhaftig, er konnte das Ding riskieren!

Unterdessen raste Frau Josserand stumm, wie von einem Gewittersturm fortgerissen, durch die öde Wohnung. Sie hatte ungestüm das Klavier zugeklappt, die letzte Lampe ausgelöscht; dann war sie ins Eßzimmer hinübergegangen und hatte begonnen, mit so kräftigem Atem die Kerzen auszublasen, daß die Hängelampe dabei erbebte. Der Anblick der kahlgegessenen Tafel mit ihrem wüsten Durcheinander von leeren Tellern und Tassen brachte sie noch mehr zur Raserei; und sie ging umher, warf fürchterliche Blicke auf ihre Tochter Hortense, die seelenruhig dasaß und das verbrannte Kopfende der Brioche aufaß.

»Du ärgerst dir ja schon wieder die Galle an den Hals, Mama«, sagte Hortense. »Es klappt also nicht? Ich bin jedenfalls zufrieden. Er kauft ihr Hemden, damit sie endlich geht.«

Die Mutter zuckte die Achseln.

»Was? Du meinst, das beweise nichts? Also gut, steuere du dein Schifflein, wie ich das meine steuere ... Na, das ist ja eine Brioche, die sich was darauf einbilden kann, so schlecht zu sein! Da darf man wirklich nicht zimperlich sein, um so ein Dreckzeug hinunterzuschlingen.«

Herr Josserand, der nach den Abendgesellschaften seiner Frau immer wie zerschlagen war, gönnte sich auf einem Stuhl etwas Erholung; aber er bekam Angst vor einem Zusammenstoß, er fürchtete, seine Frau könnte ihn bei ihrem wütenden Gerenne mit fortreißen; und er trat zu Bachelard und Gueulin, die Hortense gegenüber am Tisch saßen. Der Onkel hatte beim Erwachen ein Fläschchen Rum entdeckt. Er leerte es, wobei er voller Bitterkeit wieder auf die zwanzig Francs zurückkam.

»Es ist nicht wegen des Geldes«, sagte er immer wieder zu seinem Neffen, »sondern wegen der Art und Weise ... Du weißt ja, wie ich zu den Frauen bin: mein Hemd würde ich ihnen geben, aber ich will nicht, daß sie es verlangen ... Sobald sie was verlangen, wurmt es mich, und ich rücke keinen roten Heller für sie raus.« Und als ihn seine Schwester an seine Versprechungen erinnern wollte, sagte er: »Sei still, Eléonore! Ich weiß, was ich für die Kleine tun muß ... Aber, siehst du, Frauen, die was verlangen, die gehen über meine Kräfte. So eine habe ich nie lange behalten können, nicht wahr, Gueulin? Und außerdem zeigt man wirklich so wenig Rücksichtnahme! Léon hat nicht einmal geruht, mir zum Namenstag Glück zu wünschen.«

Mit verkrampften Fäusten nahm Frau Josserand ihre Wanderung wieder auf. Richtig, da war ja auch noch Léon, der immer Versprechungen machte und sie wie die anderen im Stich zu lassen pflegte. Auch so einer, der keinen Abend geopfert hätte, um seine Schwestern unter die Haube zu bringen! Soeben hatte sie einen Petit Four entdeckt, der hinter die eine Vase gefallen war, und sie verschloß ihn in eine Schublade, da brachte Berthe, die hinausgegangen war, um Saturnin zu befreien, diesen mit zurück. Sie beschwichtigte ihn, während er verstört mit mißtrauischen Augen fieberhaft in den Ecken herumstöberte wie ein Hund, der lange eingesperrt gewesen ist.

»Ist der aber dumm!« sagte Berthe. »Er glaubt, man hätte mich eben unter die Haube gebracht. Und nun sucht er den Ehemann! Wahrhaftig, mein armer Saturnin, da kannst du lange suchen ... Wo ich dir doch sage, daß es schiefgegangen ist! Du weißt genau, daß es immer schiefgeht.«

Da explodierte Frau Josserand.

»Oh, ich schwöre euch, diesmal geht es nicht schief, und wenn ich selber ihm die Pfote festbinden müßte! Einer ist da, der für die anderen büßen wird ... Ja, ja, mein lieber Josserand, du kannst mich noch so sehr mustern und dabei aussehen, als ob du nicht verstehst: die Hochzeit findet statt, und zwar ohne dich, wenn es dir nicht paßt ... Hörst du, Berthe, den da brauchst du nur aufzulesen!«

Saturnin schien nicht zu verstehen. Er schaute unter den Tisch. Das junge Mädchen deutete mit einem Wink auf ihn; aber Frau Josserand machte eine Gebärde, als wolle sie erklären, daß man ihn schon verschwinden lassen werde. Und Berthe murmelte: »Du meinst also tatsächlich Herrn Vabre? Na, mir ist es gleich ... Daß man mir allerdings kein belegtes Brötchen aufgehoben hat ...!«