Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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From the series: edition lendemains #44
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Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute
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Elisabeth Schulze-Witzenrath

Großstadt und dichterischer Enthusiasmus

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0050-2


Inhalt

  für Joachim

  Vorbemerkung

 I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadta) Ästhetische und anthropologische Voraussetzungenb) Baudelaires Vorstellung vom SchönenDie Entdeckung des ekstatischen Erlebnisses der Großstadt (‚Journaux intimes‘. ‚Les Foules‘)Ein Beispiel für künstlerischen Enthusiasmus in der Großstadt: ‚Le Peintre de la vie moderne‘Die Entwicklung eines poetischen Großstadterlebnisses in den Gedichten vor dem ‚Spleen de Paris‘‚Le Vin des chiffonniers‘Die ‚Crépuscule‘-Gedichte‚Paysage‘‚Fantômes parisiens‘‚Le Cygne‘f) „Tableaux parisiens“Die Erweiterung der poetischen Inspiration im ‚Spleen de Paris‘a) Die Wende zur Prosab) Ein neues Thema: „soubresauts de la conscience“c) „une prose poétique“4) Resümee

 Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ und Baudelaires Vorstellung vom Dichter in der Großstadt1. Einleitung2. „sehen lernen“3. „entrer dans le personnage de chacun“4. „imagination active“5. Baudelaire und die Anerkennung des ‚argen Wirklichen‘6. Kindheit und Künstlertum7. Liebe8. Rilkes „Prosabuch“9. Resümee

 Dichterische Selbstfindung auf den Spuren Baudelaires und Rilkes: Nathalie Sarraute, ‚Portrait d’un inconnu‘1. EinleitungVorstufen: Die „femmes maltraitées“ und Baudelaires ‚Les Petites Vieilles‘3. Stadterlebnis und gestörte Inspirationa) ‚l’autre aspect‘ oder die Suche nach dem dichterischen Enthusiasmusb) Die Begegnung mit „elle“ und das Scheitern der Imagination4. Der Tropismus der Inspiration in der Stadt Baudelairesa) Besuch beim „spécialiste“, ‚Genesung‘ und ‚Rückkehr in die Kindheit‘Der Besuch im Museum und das unvollendete ‚Portrait d’un inconnu‘5. Von den „pierres“ und „pans de murs“ zu den Tropismen6. Stadterlebnis und entfesselte Inspirationa) Im Tropismenrauschb) Die Vater-Tochter-Szene7. Die Rückkehr des Dichters in die Normalität8. Resümee

  IV. Zusammenfassung

 V. Bibliographie1. Baudelaire2. Rilke3. Sarraute

für Joachim

Vorbemerkung

Das vorliegende Buch geht von einem Problem der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts aus. Genauer gesagt von einem Problem der Lyrik, nämlich der Frage, welche Haltung die lyrische Dichtung in Zeiten der nachwirkenden Romantik und der Naturbegeisterung gegenüber dem neuen Phänomen des Lebens in der Großstadt einzunehmen habe. Diese Frage, die sich in ihrer Zuspitzung besonders in Frankreich mit seiner aufblühenden Metropole Paris stellte, ist ein Teil des großen Epochenumbruchs und der ästhetischen Wende des 19. Jahrhunderts. Sie hat ihre Antwort im Zuge der allgemeinen Klärung und Herausdifferenzierung des Selbstverständnisses der Kunst sowie der Auflösung und Angleichung der poetischen Genera gefunden.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte, zunächst in England, die industrielle Revolution eingesetzt, die dank der Mechanisierung der Produktionsmittel den wirtschaftlichen Fortschritt beschleunigte und die Bevölkerung stark anwachsen ließ. Sie führte zu verdichteten Lebensräumen und zur Entstehung von Großstädten, der alsbald eine Verstädterung der Lebensformen folgte. Die erste europäische Großstadt internationalen Ansehens war London, das im 19. Jahrhundert bald von Paris überflügelt wurde, besonders seit dessen städtebaulicher Umgestaltung unter Napoleon III. durch den Präfekten Georges-Eugène Hauss­mann.

Schon im 18. Jahrhundert hatte der Journalist und Romancier Louis Sébastien Mercier in seinem Tableau de Paris (1781–1788) in mehr als 1000 Kapiteln seine Eindrücke aus dem Alltagsleben der Stadt Paris festgehalten. Im Rückgriff auf das Diderotsche Konzept des ‚tableau‘ als pathetischer Zusammenfassung eines ‚drame‘ wollte er die vielfältigen Sitten und Gebräuche der Stadt, ihre physische und moralische Physiognomie mit ihren Gegensätzen möglichst getreu aufzeichnen1. Nach diesem überaus erfolgreichen feuilletonistischen Beginn, dem bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts zahlreiche weitere tableaux-Sammlungen folgten, fand die Großstadt Paris bald auch Eingang in die schöne Literatur, allem voran in Balzacs Comédie humaine. Balzac hatte nach ersten Versuchen in unterschiedlichen Genera Anfang der 30er Jahre begonnen, Stadtnovellen und Stadtromane zu schreiben, in denen er die vorgefundenen Schemata des historischen, des Schauer- und Geheimnisromans und des ‚drame‘ in einer städtischen Umgebung ansiedelte. Paris wurde ihm zum zentralen Ort seiner ‚menschlichen Komödie‘, die die gegenwärtige Gesellschaft mit ihren natürlichen und sozialen Arten, ihrem „Mobiliar“ und ihren Gebrauchsgegenständen, ihren Tugenden und Lastern und den in ihr gelebten ‚drames‘ wiedergeben und so die in der Historie fehlende Geschichte der Sitten liefern sollte2.

In der Lyrik ließ ein Pendant von gleicher Bedeutung lange auf sich warten, obgleich die romantischen Lyriker durchaus am ‚Mythos Paris‘ und seiner poetischen Sprache mitwirkten, der sich nach 1830 über mehr als ein Jahrzehnt entwickelte3. Nach 1850 entdeckte Victor Hugo im Exil seine Liebe zu Paris, und die „poètes noctambules“, mit denen Baudelaire sympathisierte, besangen die kleinen Leute, die Handwerker und sozialen Randerscheinungen der Hauptstadt4. Aber erst Baudelaire ging das Thema grundsätzlich an, indem er die Frage nach dem spezifischen Schönen der modernen Großstadt stellte. Die ersten Überlegungen zum „héroїsme de la vie moderne“ und zur „modernité“ in seinen kunstkritischen Schriften stehen noch erkennbar unter dem Einfluss Balzacs. Doch der Lyriker Baudelaire besann sich bald auf die besondere Funktion der Dichtung und fand vom romantischen Konzept der Ekstase in der Natur (Mme de Staёl, Chateaubriand) über Poe zu einem lyrischen Enthusiasmus, der auch in der Großstadt wirken kann, weil er auf die inneren Phantasiebilder und auf den Menschen setzt. Das führte ihn in der Zweitauflage seiner Fleurs du mal (1861) zu der neuen Abteilung „Tableaux parisiens“ und in einem weiteren Schritt zum Spleen de Paris, einer Sammlung von Prosagedichten mit einer anpassungsfähigen ungebundenen Sprache, in der er bewusst auf den romanhaften „fil interminable d’une intrigue superflue“ verzichtete (À Arsène Houssaye). Damit hatte Baudelaire für die Großstadtdichtung einen Ausdruck gefunden, an dem fortan niemand mehr vorbeigehen konnte.

Dies widerfuhr ein halbes Jahrhundert später auch dem jungen Rilke, der nach ersten literarischen Versuchen mittellos und hoffnungsvoll aus der deutschen Provinz nach Paris kam, um dort seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das Erlebnis der als feindlich empfundenen fremden Großstadt und die ästhetische Auseinandersetzung Baudelaires mit dieser Welt waren für ihn so tiefgreifende und widersprüchliche Erfahrungen, dass er sie in einem eigenen Werk, den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, verarbeitete. Sein Stellvertreter-Ich Malte, das darin um seinen dichterischen Weg ringt, und das Bild des Dichters, das Rilke mit dieser Figur zeichnet, folgen in einem bisher unerkannt gebliebenen Maße Baudelaires Vorstellungen vom „homme sensible moderne“. Zudem ist wohl auch bei Rilkes Entscheidung für ein „Prosabuch“, das mit Prosagedichten und erzählenden Stücken an der Grenze zwischen Lyrik und Roman angesiedelt ist, das Vorbild Baudelaires im Spiel gewesen.

 

Der Name Nathalie Sarrautes, die zum französischen ‚nouveau roman‘ der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gezählt wird, mag in der hier genannten Reihe zunächst erstaunen. Doch war es Sarrautes erster Roman Portrait d’un inconnu mit seinen wiederholten Anspielungen auf Baudelaire und auf Rilkes Malte Laurids Brigge, der mich auf die Spur des dichterischen Enthusiasmus in der Großstadt gebracht hat. Denn bald drängte sich die Vermutung auf, dass es sich hier nicht um punktuelle Nennungen oder zufällige Lesefrüchte handelte, sondern um den maßgeblichen ästhetischen Kontext, in dem das Erzähler-Ich des Romans die Suche nach seinem neuen Erzählgegenstand der Tropismen sieht und in den Sarraute selbst ihren Erstling einordnete. Tatsächlich stehen Sarrautes Anfänge als Schriftstellerin (Tropismes, 1938) der Lyrik nahe, da die Tropismen allgemein menschliche seelische Regungen sind, freilich nicht nur solche eines Ichs, sondern ebenso die eines Anderen, eines Gegenübers und die jeweiligen Reaktionen darauf. Das Prosagedicht war daher für Sarraute eine natürliche Form, die sie aber bald überschritt. Auch war die Großstadt mit ihrer Vielfalt an Menschen, die einen reichen Nährboden für Tropismen liefert, ein selbstverständlicher Lebensraum für sie. Baudelaire und Rilke wurden ihr da zum expliziten Leitbild, wo es um den Dichter, seine Inspiration und deren Auslösemechanismen ging. Unter ihrem Einfluss gelang es Sarraute, in Portrait d’un inconnu den poetischen ‚neuen Roman‘ zu schreiben, der eine „poésie capable de s’expliciter elle-même, [de] montrer elle-même quelle est sa situation“ (Michel Butor) ist.

Meiner ersten Lektüre von Portrait d’un inconnu sind im Laufe der Jahre weitere gefolgt, von denen jede die Gestalt des Werks ein Stück klarer hat werden lassen. Ähnlich ist es mit Baudelaires und Rilkes einschlägigen Werken und Positionen gegangen, die ebenfalls dem Verständnis nicht wenige Schwierigkeiten bereiteten, sowie mit dem bisweilen einseitigen Bild, das man sich von ihnen in der Forschung gemacht hat, etwa Walter Benjamins Vorstellung vom „Chock“-Erlebnis der Großstadt. Schließlich hat sich herausgestellt, dass eine eingehende chronologische Darstellung den Verlauf des so ermittelten poetischen ‚Staffellaufs‘ der drei Autoren und die damit verbundene Annäherung von Lyrik und Roman am besten wiedergeben würde.

I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses
1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt
a) Ästhetische und anthropologische Voraussetzungen

Paul Valéry hat in seinen Überlegungen zur „Situation de Baudelaire“ auf die Bedeutung hingewiesen, die die Beschäftigung mit Edgar Allan Poe für die dichterische Selbstfindung Baudelaires hatte. Poe, der im experimentierfreudigen Umfeld der Neuen Welt den dichterischen Prozess mit einer bis dahin ungewohnten Unvoreingenommenheit und Scharfsichtigkeit analysiert hatte, habe mit seinen Überlegungen zu Ziel und Methode moderner Dichtung Baudelaire aus der Seele gesprochen und ihm bei der Lösung des Problems geholfen, ein großer Dichter zu werden, ohne in die Spuren Lamartines, Hugos oder Mussets zu treten1.

Die Forschung hat Valérys Urteil über das Verhältnis Baudelaires zu Poe und die Geistesverwandtschaft beider Dichter bestätigt und im Einzelnen nachgezeichnet, wie der Jüngere das Werk des Älteren kennen gelernt hat. Seit November 1845 erschienen in Paris die ersten französischen Übersetzungen von Poes Erzählungen, die Baudelaire so tief beeindruckten, dass er zu sammeln begann, was er über ihren Autor in Erfahrung bringen konnte2, sowie Übersetzungen von ihnen anzufertigen. Zudem verfasste er mehrere Artikel, in denen er Poe dem französischen Publikum vorstellte, den ersten im Jahr 1852 (Edgar Allan Poe, sa vie et son ouvrage3). Nachdem er zwischen 1853 und 1855 die bei Redfield, New York, seit 1850 erschienenen Bände der Ausgabe von Poes Werken4 erworben hatte, überarbeitete er, auf die dort gefundenen neuen Informationen gestützt, den früheren Artikel und stellte die neue Fassung Edgar Poe, sa vie et ses œuvres seinen unter dem Titel Histoires extraordinaires bei Lévy 1856 erscheinenden Übersetzungen voran. Die dort angekündigte Fortsetzung über Poes „opinions philosophiques et littéraires“ folgte 1857 in den Notes Nouvelles sur Edgar Poe, der Einleitung zu weiteren Übersetzungen (Nouvelles Histoires extraordinaires)5. Neben einer gekürzten Fassung der Biographie Poes enthalten die Notes Nouvelles die Darlegung seiner politischen Überzeugungen und vor allem seiner Gedanken zur Literaturkritik, insbesondere der Vorstellungen vom Dichter und der Dichtung, wie sie seinem letzten Essay The Poetic Principle zu entnehmen sind.

Seine Darlegung der ästhetischen Überzeugungen Poes im vierten und letzten Teil der Notes Nouvelles beginnt Baudelaire mit einer Übersetzung der Definition des Dichters, des „genus irritabile vatum“, aus Poes Fifty Suggestions6. Danach ist ein Dichter das, was er ist, dank seines angeborenen „sens exquis du Beau“, der ihm rauschhafte Wonnegefühle („jouissances enivrantes“) beschere, und eines „sens également exquis de toute difformité et disproportion“, der ihn auf ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit außergewöhnlich stark reagieren lasse. Die berühmte Reizbarkeit sei eine Folge seiner Wahrnehmung von Proportionen jeder Art, mithin des Schönen. Wer sie nicht besitze, sei kein Dichter7. Dann geht er auf Poes methodisches Vorgehen beim dichterischen Schaffensakt ein:

Non seulement il a dépensé des efforts considérables pour soumettre à sa volonté le démon fugitif des minutes heureuses, pour rappeler à son gré ces sensations exquises, ces appétitions spirituelles, ces états de santé poétique, si rares et si précieux qu’on pourrait vraiment les considérer comme des grâces extérieures à l’homme et comme des visitations; mais aussi il a soumis l’inspiration à la méthode, à l’analyse la plus sévère. […] Il affirmait que celui qui ne sait pas saisir l’intangible n’est pas poète; que celui-là seul est poète, qui est le maître de sa mémoire, le souverain des mots, le registre de ses propres sentiments toujours prêt à se laisser feuilleter. Tout pour le dénoûment! répète-t-il souvent. Un sonnet lui-même a besoin d’un plan, et la construction, l’armature pour ainsi dire, est la plus importante garantie de la vie mystérieuse des œuvres de l’esprit. (S. 331f.)

Planung, bewusste Konstruktion und die vollständige Beherrschung aller Mittel seien nach Poes Überzeugung für ein Kunstwerk unumgänglich, und so habe er selbst sie auch angewandt. Vor allem anderen bedarf es aber eines außergewöhnlichen Enthusiasmus beim Dichter. Dazu hat Poe sich eingehend in seinen Marginalia geäußert, wo er von den Fantasien („fancies“) spricht, die in Zeiten körperlichen und seelischen Wohlgefühls im Zustand zwischen Wachen und Träumen in ihm auftauchten und eine seelische Ekstase auslösten, die einen übernatürlichen und absolut neuen Charakter hatte:

There is, however, a class of fancies, of exquisite delicacy, which are not thoughts […] They seem to me rather psychal than intellectual. They arise in the soul (alas, how rarely!) only at its epochs of most intense tranquility – when the bodily and mental health are in perfection – and at those mere points of time where the confines of the waking world blend with those of the world of dreams. […]

These „fancies“ have in them a pleasurable ecstasy […] I regard the visions, even as they arise with an awe which, in some measure, moderates or tranquilizises the ecstasy – I so regard them, through a conviction […] that this ecstasy, in itself, is of a character supernal to the Human Nature – is a glimpse of the spirit’s outer world; and I arrive at this conclusion […] by a perception that the delight experienced has, as its element, but the absoluteness of novelty.8

Mit der Zeit sei es ihm gelungen, die Umstände zu kontrollieren und die „fancies“ willentlich herbeizuführen („now I can be sure […] of the supervention of the condition, and feel even the capacity of inducing or compelling it“) sowie ihre flüchtigen Momente im Gedächtnis zu verankern („and thus transfer the point itself into the realm of Memory“), wo er dann die empfangenen Eindrücke, wenn auch nur kurz, analysieren und in Worte fassen könne: „where, although for a very brief period, I can survey them with the eye of analysis“ (S. 90). Von diesen Aussagen zur Poeschen Inspirations-Methode hat Baudelaire in seiner Zusammenfassung ausgewählt, was ihn besonders ansprach und es mit Wendungen wiedergegeben, auf die er später immer wieder zurückgegriffen hat („minutes heureuses“, „sensations exquises“, „états de santé poétique, si rares et si précieux“).

Dann legt er dar, was Poe im Poetic Principle über die Dichtung und den zweifachen Irrglauben vom langen Gedicht und vom Nutzen der Dichtung sagt. Da ein Gedicht nach Poe nur in dem Maße von Wert ist, wie es die Seele erregt und erhebt – „un poème ne mérite son titre qu’autant qu’il excite, qu’il enlève l’âme“9, alle seelischen Erregungen aber notwendigerweise flüchtig und von kurzer Dauer sind10, ist der Länge eines Gedichts eine natürliche Grenze gesetzt. Damit hat das Epos als unpoetisch zu gelten, wenngleich es einer gewissen Länge bedarf, um beim Leser eine Erregung zu bewirken. Zugleich weist Poe entschieden die Vorstellung zurück, dass die Dichtung der Wahrheit oder der Moral dienen müsse. Ihr Gegenstand sei vielmehr das Schöne und nur ein um seiner selbst willen geschriebenes Gedicht sei schön, wie man aus eigener Erfahrung wissen könne – mit Baudelaires Worten:

La poésie, pour peu qu’on veuille descendre en soi-même, interroger son âme, rappeler ses souvenirs d’enthousiasme, n’a pas d’autre but qu’elle-même; elle ne peut pas en avoir d’autre, et aucun poème ne sera si grand, si noble, si véritablement digne du nom de poème, que celui qui aura été écrit uniquement pour le plaisir d’écrire un poème.11

Baudelaire negiert nicht die Möglichkeit, dass die Dichtung den Menschen letztlich besser machen könne, wohl aber, dass dies ihre Aufgabe sei. Ja, er stellt fest, dass ein Dichter, der solches anstrebt, seine poetische Kraft schwächt, so dass zu wetten stehe, dass sein Werk schlecht sei:

La poésie ne peut pas, sous peine de mort ou de défaillance, s’assimiler à la science ou à la morale; elle n’a pas la Vérité pour objet, elle n’a qu’elle-même.12

Laster und Ungerechtigkeit verstoßen jedoch gegen die universale Ordnung und Harmonie und verletzen so den Schönheitssinn des Dichters13. Dieser Sinn für das Schöne ist es, der den Menschen die universalen Zusammenhänge begreifen und die Erde als eine Entsprechung des Himmels verstehen lässt; er ist Beweis unserer Unsterblichkeit und ein Ausdruck unserer Sehnsucht nach den himmlischen Freuden:

C’est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait considérer la terre et ses spectacles comme un aperçu, comme une correspondance du Ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au delà, et que révèle la vie, est la preuve la plus vivante de notre immortalité. C’est à la fois par la poésie et à travers la poésie, par et à travers la musique que l’âme entrevoit les splendeurs situées derrière le tombeau; et quand un poème exquis amène les larmes au bord des yeux, ces larmes ne sont pas la preuve d’un excès de jouissance, elles sont bien plutôt le témoignage d’une mélancholie irritée, d’une postulation des nerfs, d’une nature exilée dans l’imparfait et qui voudrait s’emparer immédiatement, sur cette terre même, d’un paradis révélé. (S. 334)

Baudelaire gibt die Worte Poes hier kaum verändert wieder:

An immortal instinct, deep within the spirit of man, is thus, plainly, a sense of the Beautiful. […] We have still a thirst unquenchable […] This thirst belongs to the immortality of Man. It is at once a consequence and an indication of his perennial existence. […] It is no mere appreciation of the Beauty before us – but a wild effort to reach the Beauty above. […] And thus when by Poetry – or when by Music, the most entrancing of the Poetic moods – we find ourselves melted into tears – we weep then – not […] through excess of pleasure, but through a certain, petulant, impatient sorrow at our inability to grasp now, wholly, here on earth, at once and for ever, those divine and rapturous joys, of which through the poem, or through the music, we attain to but brief and indeterminate glimpses.14

 

Das Ringen um einen wenn auch nur kurzen Blick auf die höhere Schönheit hat nach Poe der Welt alles das beschert, was als poetisch empfunden wird:

The struggle to apprehend the supernal Loveliness […] has given to the world all that which it (the world) has ever been enabled at once to understand and to feel as poetic. (S. 274)

und so stellt er schließlich fest, dass sich das Poetische stets in einer erhebenden Erregung der Seele manifestiere:

It has been my surpose to suggest that, while this [Poetic] Principle itself is, strictly and simply, the Human Aspiration for Supernal Beauty, the manifestation of the Principle is always found in an elevating excitement of the Soul […] (S. 290)

Auch diese Formulierung übernimmt Baudelaire fast wörtlich:

Ainsi le principe de la poésie est, strictement et simplement, l’aspiration humaine vers une beauté supérieure, et la manifestation de ce principe est dans un enthousiasme, une excitation de l’âme […].15

Die Wendung „une excitation de l’âme“ wird er zwei Jahre später noch durch das eindeutigere „un enlèvement de l’âme“16 ersetzen, wenn er den ganzen Passus im Artikel über Théophile Gautier wiederholt und ihn dabei als Selbstzitat ankündigt17. Valéry hat dieses „Poe-Plagiat“ Baudelaires im Sinne seiner Aneignungsthese als Beleg dafür verstanden, wie sehr sich die Positionen beider Autoren deckten18.

Baudelaire ist also mit Poe der Überzeugung, dass die Dichtung – und mit ihr die anderen Künste19 – dem Menschen ekstatische Momente bescheren können, die ihm einen Blick auf höheres Glück gewähren. Mit dem Zusatz der „erhe­benden“ seelischen Erregung („an elevating excitement of the Soul“) geht Poe dabei über die Feststellungen seiner angelsächsischen Vorgänger wie etwa Coleridges hinaus, der nur vom „(pleasurable) Excitement“ gesprochen hatte und davon, dass der Dichter die menschliche Seele ganz allgemein in Erregung versetze: „The poet […] brings the whole soul of man into activity […]“20. Baudelaire folgt dagegen Poes Ansicht vom Streben nach der „Supernal Beauty“, für dessen Verwirklichung in Dichtung und Kunst er seinerseits den Begriff „surnaturel“ bzw. „surnaturalisme“ bereithält.

Das „Poetic Sentiment“, wie Poe die ekstatische Erregung der Seele durch die Betrachtung der Schönheit genannt hat21, war für Baudelaire ein besonderer Fall des „état exceptionnel de l’esprit et des sens“, der zu seinen anthropologischen Grundüberzeugungen zählte. In den Journaux intimes charakterisiert er den außergewöhnlichen Zustand des Geistes und der Sinne mit knappen Worten:

Il y a des moments de l’existence où le temps et l’étendue sont plus profonds, et le sentiment de l’existence immensément augmenté.22

Im ersten Kapitel des Poème du hachisch findet sich seine ausführliche Beschreibung. Der „état exceptionnel“, heißt es dort, sei eine Erfahrung, die jedermann zugänglich und vertraut ist:

Il est des jours où l’homme s’éveille avec un génie jeune et vigoureux. Ses paupières à peine déchargées du sommeil qui les scellait, le monde extérieur s’offre à lui avec un relief puissant, une netteté de contours, une richesse de couleurs admirables. Le monde moral ouvre ses vastes perspectives, pleines de clartés nouvelles. L’homme gratifié de cette béatitude, malheureusement rare et passagère, se sent à la fois plus artiste et plus juste, plus noble, pour tout dire en un mot.23

In diesem Zustand zeigt sich die Welt dem Menschen in einem neuen und klareren Licht. Zur äußeren Vielfalt der Formen und Farben gesellen sich unbegrenzte innere Perspektiven und Einsichten. Die seelischen Kräfte sind im Gleichgewicht („toutes les forces s’équilibrent“), die Phantasie ist auf wunderbare Weise mächtig („l’imagination […] merveilleusement puissante“), sinnliche und geistige Wahrnehmung sind geschärft („une sensibilité exquise“, „[c]ette acuité de la pensée“)24. Alle Fähigkeiten sind gesteigert und der Mensch ist im schönsten Einklang mit sich selbst:

[…] cette condition anormale de l’esprit [est] comme […] un miroir magique où l’homme est invité à se voir en beau, c’est-à-dire tel qu’il devrait et pourrait être; une espèce d’excitation angélique, un rappel à l’ordre sous forme complimenteuse. (Ebd.)

Unglücklicherweise ist dieser „paradiesische“25 Zustand selten und von kurzer Dauer26; auch lässt er sich, wie eine Gnade („comme une véritable grâce“), nicht vorhersehen und durch kein noch so wohl überlegtes Vorgehen erzwingen. Doch ist er den Menschen immer erstrebenswert erschienen, weil er sie, und sei es nur für kurze Zeit, aus ihrem „habitacle de fange“ und den „lourdes ténèbres de l’existence commune et journalière“ befreit. Daher haben sie seit jeher ihre Zuflucht zu allerlei Mitteln genommen, um ihn auf künstliche Weise zu erzeugen:

Cette acuité de la pensée, cet enthousiasme des sens et de l’esprit, ont dû, en tout temps, apparaîre à l’homme comme le premier des biens […]; c’est pourquoi, ne considérant que la volupté immédiate, il a, sans s’inquiéter de violer les lois de sa constitution, cherché dans la science physique, dans la pharmaceutique, dans les plus grosses liqueurs, dans les parfums les plus subtils, sous tous les climats et dans tous les temps, les moyens de fuir, ne fût-ce que pour quelques heures, son habitacle de fange et […] ‚d’emporter le paradis d’un seul coup‘. Hélas! les vices de l’homme, si pleins d’horreur qu’on les suppose, contiennent la preuve […] de son goût de l’infini; seulement, c’est un goût qui se trompe souvent de route. (Ebd.)

Damit bekunden sie nach seiner Überzeugung noch in ihren Lastern ihren „goût de l’infini“. „Le Goût de l’infini“ lautet denn auch der Titel dieses ersten Kapitels des Poème du hachisch, dessen Menschenbild zutiefst von der christlichen Vorstellung des Sündenfalls geprägt ist.

Baudelaire hat den „état exceptionnel“ wiederholt beschrieben und unterschiedlich benannt27. Außer den Wirkungen des Zustandes hat ihn vor allem interessiert, wodurch er ausgelöst wird. So hat er in den Paradis artificiels, den durch Wein, Haschisch oder Opium zu erlangenden „Künstlichen Paradiesen“28, ausführlich erörtert, wie die Glückseligkeit ‚aus der Apotheke‘ zu erlangen ist. Dabei hat er immer wieder Parallelen zwischen den durch Drogen bewirkten Rauschzuständen und dem ekstatischen Zustand des Dichters gezogen, denn als Dichter ging es ihm „letztlich […] um die Ergründung der äußersten Möglichkeiten eines ‚poetischen‘ Zustands“29. Daher hat man das Poème du hachisch als einen Kommentar zur dichterischen Erfahrung der Fleurs du mal lesen können30 und im „état exceptionnel“ geradezu das Herzstück der Baudelaireschen Poetik gesehen31.

In der neueren Literaturwissenschaft wird ein dem Baudelaireschen „état exceptionnel“ verwandtes Phänomen unter dem Begriff ‚Epiphanie‘ diskutiert. Dieser Begriff geht in seiner modernen Bedeutung auf James Joyce zurück, der die alte religiöse Bedeutung von ‚Epiphanie‘ als In-Erscheinung-Treten eines Gottes psychologisch und literarisch umgedeutet hat in dem Sinne, dass in gewissen Momenten die Dinge in ihrer Wesenheit erscheinen und zu erfassen sind und dass ein Autor dies zu vermitteln habe32. Als wesentliche Kriterien einer Epiphanie gelten die sinnenhafte Wahrnehmung eines alltäglichen Gegenstands oder einer alltäglichen Situation, Plötzlichkeit und Kürze der Empfindung sowie die erhellende Einsicht in eine unbekannte Wirklichkeit33. Seit der Romantik ist die Epiphanie ein Programmpunkt der Lyrik und im modernen Roman ist sie eine Konstante geworden34. Der romantische Ursprung der literarischen Epiphanie legt Verbindungslinien zu Baudelaire nahe, auch wenn die Hochgestimmtheit und das ekstatische Hochgefühl bei diesem ausgeprägter (und näher am religiösen Erleben) sind und er ausdrücklich den schöpferischen Enthusiasmus einbezieht.

In der theologischen und der künstlerischen Anthropologie waren Epiphanie und Ausnahmezustand bis in die Romantik als Enthusiasmus, als Ergriffensein vom Gott oder vom Göttlichen bekannt. Mit der Umschreibung „enthousiasme“35 schließt Baudelaire Poes „elevating excitement“ an diese ästhetische Diskussion an. In Frankreich hatte etwa Mme de Staël die Überzeugung geäußert, dass Dichtung und Kunst in der Lage seien, den flüchtigen Enthusiasmus im Menschen sowohl zu entwickeln wie auch zu bewahren:

On accuse l’enthousiasme d’être passager; l’existence serait trop heureuse si l’on pouvait retenir des émotions si belles; mais c’est parce qu’elles se dissipent aisément qu’il faut s’occuper de les conserver. La poésie et les beaux-arts servent à développer dans l’homme ce bonheur d’illustre origine qui relève les cœurs abattus, et met à la place de l’inquiète satiété de la vie le sentiment habituel de l’harmonie divine dont nous et la nature faisons partie.36

Vor allem die Lyrik kann den paradiesischen Zustand herstellen und ihm die gewünschte Dauer verleihen:

La poésie lyrique […] donne de la durée à ce moment sublime pendant lequel l’homme s’élève au-dessus des peines et des plaisirs de la vie.37

Denn der Lyriker versteht es, die tiefsten Empfindungen der Seele freizusetzen – „de dégager le sentiment prisonnier au fond de l’âme“38 – und sie durch Sprache auszudrücken. Die Bilder, die er zum poetischen Ausdruck oder „emblème“ dieser Empfindungen braucht, findet er in bestimmten Naturansichten, die von den Modernen dank ihrer „religion spiritualiste“ als erhaben empfunden werden: