Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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From the series: edition lendemains #44
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Et l’émeute aura beau tempêter à ma vitre,

Je ne lèverai pas le front de mon pupitre.

Et ne bougerai plus de l’antique fauteuil,

Où je veux composer pour un jeune cercueil

(Il faut charmer nos morts dans leurs noires retraites)

De doux vers tout fumants comme des cassolettes.

(V. 21–26)17

Über die Identität dieses „jeune cercueil“ ist viel spekuliert worden, allerdings mit widersprüchlichem und unsicherem Ergebnis18, und es muss für das Motiv auch nicht unbedingt einen Anlaß im biographischen Umfeld Baudelaires gegeben haben. Im Rahmen des poetischen Großstadterlebnisses kann es sich dabei ganz allgemein um das menschliche „drame“ oder „malheur“ handeln, in dem – wie etwa in den Méryon-Stichen, in Le Crépuscule du soir und in Les Fenêtres – für Baudelaire die Schönheit der Stadt ihre Vollendung fand, und die besondere Artikulation des „malheur“ als Klage um einen teuren Toten kann aus der Idylle bzw. der Ekloge stammen, in der solche Klagen seit der Antike ihre Tradition hatten19. Baudelaire hätte dann im Zuge seiner Überlegungen zur Poetisierung der Großstadt, in diesem Fall der Analogie von Großstadtdichtung und Idylle, die „lamentations humaines“, die sich ihm, wie im Brief an Desnoyers zu lesen ist, noch in der größten Natureinsamkeit aufdrängten, zunächst in die genretypische Form der Klage über einen „(jeune) cerceuil“ gebracht, und zwar ganz allgemein und ohne konkreten biographischen Anlass20. Als dann jedoch 1861 sein Konzept des Großstadterlebnisses ausgereift und bereits in mehreren Gedichten erprobt war, wobei auch der menschliche Aspekt seine Berücksichtigung gefunden hatte, muss ihm das bukolische Motiv des „jeune cerceuil“ als zu literarisch erschienen sein, und er zog es nunmehr vor, stattdessen die Kraft der dichterischen Phantasie herauszustellen21. Deshalb lässt er das Ich in der endgültigen Fassung voller Inbrunst den Frühling heraufbeschwören und die „volupté“ dieses konstruktiven Phantasieaktes betonen:

Car je serai plongé dans cette volupté,

D’évoquer le Printemps avec ma volonté,

De tirer un soleil de mon cœur, et de faire

De mes pensers brûlants une tiède atmosphère.

(V. 23ff.)

Der Höhenflug, zu dem die poetische Phantasie sich hier aufschwingt, rückt die Entstehung von Paysage unübersehbar in die Nähe des Salon de 1859, in dem Baudelaire die Phantasie als höchste menschliche Fähigkeit gefeiert hat, und dies hat für die Datierung und Bedeutung des Gedichts mehr Aussagekraft als die biographischen Spekulationen über den „jeune cercueil“.

Noch eine weitere Aussage zum Bild des phantasierenden Dichters ist in Paysage bemerkenswert. Im fünften Vers präsentiert sich das Ich mit den Händen am Kinn in einer Haltung, die an das „Stryge“ genannte geflügelte und gehörnte, teufelsähnliche Fabelwesen hat denken lassen, das mit dieser Gebärde von der Galerie des Südturms von Notre-Dame auf die Stadt Paris hinabschaut22. Diese und die anderen Grotesken, mit denen Viollet-le-Duc seit der Mitte der 40er Jahre die Fassade der Kathedrale verziert hat, dürften Baudelaires Aufmerksamkeit kaum entgangen sein, und da sie auf der Galérie des Chimères in unmittelbarer Nachbarschaft der Türme standen, könnte die „Stryge“ durchaus sowohl die Haltung als auch die Positionierung („voisin des clochers“, V. 3) des lyrischen Ichs angeregt haben23. Dessen Haltung ist von Mehnert als Variante der klassischen Melancholikerhaltung – mit einer Hand am Kinn – gedeutet worden24, was ebenfalls eine nicht auszuschließende Konnotation ist. In jedem Fall scheint der Haltung des Ichs in Paysage eine besondere Bedeutung zuzukommen, umso mehr als Baudelaire in anderen Fällen des Blicks aus einem Mansardenfenster über die Stadt (Les Fenêtres, Recueillement) keine vergleichbare Bemerkung gemacht hat. Nimmt man die beiden Hinweise zusammen – und solche Verschränkungen vielfältiger poetischer Assoziationen liebte Baudelaire –, dann wird hinter der vermeintlich harmlosen Haltung und Positionierung des Ichs seine vertraute melancholisch-satanische Dichterpose erkennbar, die noch in der idyllischen Stadtverwandlung von Paysage präsent bleibt.

Paysage ist, wie schon aus den Absichtserklärungen („Je veux“, „Je verrai“) zu erkennen, Baudelaires erste explizite Poetik seiner neuen Dichtung der Großstadt, in der er sich noch darauf beschränkt zu zeigen, wie mit Hilfe der schöpferischen Phantasie auch die Großstadt in einen poetischen Gegenstand verwandelt werden kann. Auffällig ist dabei sein Bestreben, der Großstadtdichtung durch Anschluss an die literarische Tradition Dignität zu verleihen, indem er sie hier als eine doppelte ‚translatio poesiae‘ aus der Antike in die Moderne und von der Natur in die Großstadt propagiert. In Les Foules wird er sie dann an Rousseau und die neuzeitliche Einsamkeitslyrik anschließen. Das neue Dichtungskonzept wird mit dem Attribut „parisien“ angezeigt, das zuerst 1857 in dem ursprünglichen Titel von Paysage erscheint, bevor es gut drei Jahre später im Namen der gesamten Abteilung „Tableaux parisiens“ wiederkehrt und dafür in Paysage getilgt ist. Noch vor dieser Namensgebung findet man es in der Verbindung Fantômes parisiens als Überschrift zweier Gedichte, die sich den Menschen der Großstadt und der „pensée de tous les drames“ widmen, die sich in ihr abspielen, und die eine weitere Etappe auf Baudelaires Weg zur Großstadtdichtung markieren.

d) Fantômes parisiens

Fantômes parisiens ist, einem Brief Baudelaires von Ende Mai/Anfang Juni 1859 zufolge1, der Titel eines Gedichts, das seit der zweiten Auflage der Fleurs du mal als Les Sept Vieillards bekannt ist. Im September desselben Jahres wird es unter seinem neuen Titel zusammen mit Les Petites Vieilles in der Revue contemporaine veröffentlicht, und Fantômes parisiens ist jetzt gemeinsamer Obertitel für beide Gedichte, jeweils mit dem Zusatz I bzw. II. In dem genannten Begleitbrief an Jean Morel, den Direktor der Revue française, in welcher der Abdruck zunächst geplant war, hat Baudelaire von dem älteren Gedicht als von „le premier numéro d’une nouvelle série que je veux tenter“ gesprochen2. Zu dieser angekündigten „Serie“ rechnet man üblicherweise noch Les Petites Vieilles und das etwa zur gleichen Zeit entstandene Le Cygne, also insgesamt drei Gedichte, die auch in den Fleurs du mal eine Gruppe bilden (Nr. LXXXIX–XCI), wenn auch in veränderter Reihenfolge, da Le Cygne dort den beiden Fantômes-Gedichten vorausgeht. Was macht diese Gedichte zu einer „Serie“ und was ist das „Neue“ an ihnen?

Les Sept Vieillards

Les Sept Vieillards

Fourmillante cité, cité pleine de rêves,

Où le spectre en plein jour raccroche le passant!

Les mystères partout coulent comme des sèves

Dans les canaux étroits du colosse puissant.

Un matin, cependant que dans la triste rue

Les maisons, dont la brume allongeait la hauteur,

Simulaient les deux quais d’une rivière accrue,

Et que, décor semblable à l’âme de l’acteur,

Un brouillard sale et jaune inondait tout l’espace,

Je suivais, roidissant mes nerfs comme un héros

Et discutant avec mon âme déjà lasse,

Le faubourg secoué par les lourds tombereaux.

Tout à coup, un vieillard dont les guenilles jaunes

Imitaient la couleur de ce ciel pluvieux,

Et dont l’aspect aurait fait pleuvoir les aumônes,

Sans la méchanceté qui luisait dans ses yeux,

M’apparut. On eût dit sa prunelle trempée

Dans le fiel; son regard aiguisait les frimas,

Et sa barbe à longs poils, roide comme une épée,

Se projetait, pareille à celle d’un Judas.

Il n’était pas voûté, mais cassé, son échine

Faisant avec sa jambe un parfait angle droit,

Si bien que son bâton, parachevant sa mine,

Lui donnait la tournure et le pas maladroit

D’un quadrupède infirme ou d’un juif à trois pattes.

Dans la neige et la boue il allait s’empêtrant,

Comme s’il écrasait des morts sous ses savates,

Hostile à l’univers plutôt qu’indifférent.

Son pareil le suivait: barbe, œil, dos, bâton, loques,

Nul trait ne distinguait, du même enfer venu,

Ce jumeau centenaire, et ces spectres baroques

Marchaient du même pas vers un but inconnu.

À quel complot infâme étais-je donc en butte,

Ou quel méchant hasard ainsi m’humiliait?

Car je comptai sept fois, de minute en minute,

Ce sinistre vieillard qui se multipliait!

Que celui-là qui rit de mon inquiétude,

Et qui n’est pas saisi d’un frisson fraternel,

Songe bien que malgré tant de décrépitude

Ces sept monstres hideux avaient l’air éternel!

Aurais-je, sans mourir, contemplé le huitième,

Sosie inexorable, ironique et fatal,

Dégoûtant Phénix, fils et père de lui-même?

– Mais je tournai le dos au cortège infernal.

Exaspéré comme un ivrogne qui voit double,

Je rentrai, je fermai ma porte, épouvanté,

Malade et morfondu, l’esprit fiévreux et trouble,

Blessé par le mystère et par l’absurdité.

Vainement ma raison voulait prendre la barre;

 

La tempête en jouant déroutait ses efforts,

Et mon âme dansait, dansait, vieille gabarre

Sans mâts, sur une mer monstrueuse et sans bords!1

In der riesigen Stadt, die von Menschen und ihren Träumen wimmelt und deren Lebensadern strotzen vom Saft phantasieanregender Geheimnisse2, erleidet das Dichter-Ich an einem neblig trüben Tag eine Halluzination3. In den Gassen, die es durchwandert, ragen die Häuser im Dunst riesig auf wie die gemauerten Ufer eines angeschwollenen Flusses. Die menschenleere Vorstadt wird nur vom Lärm der schweren Lastkarren erschüttert, und über allem liegt ein schmutzig gelber Nebel, der ein Abbild des inneren Zustands des Ichs ist, das unter heldenhafter Anspannung seiner Nerven mit seiner schon ermatteten Seele ringt. Dieser Vergleich der dichterischen Stimmungslage mit den äußeren meteorologischen Gegebenheiten wird verständlicher, wenn man Baudelaires Selbstinszenierung als Dichter heranzieht, die auf einer erweiterten Lehre von den Temperamenten gründet.

Wie bereits gesehen, hat der „homme sensible moderne“, Baudelaires idealer Charakter für poetische Erfahrungen, ein „tempérament moitié nerveux, moitié bilieux“4. In dieser Formulierung ist der althergebrachte, der Humorallehre entstammende Begriff „mélancolique“ oder „schwarzgallig“, mit dem seit der Antike das Genie und bevorzugt der Dichter charakterisiert wurde, durch den neuen Begriff „nerveux“ ersetzt, der die Vibrationen von Nervenfibern an inneren Organen bezeichnet, die über den Sympathicus auf das Gehirn einwirken5. Das melancholisch-nervöse Temperament gilt als leicht beeindruckbar („impressionable“), während das (gelb)gallige („bilieux“), das der cholerischen Gemütslage entspricht, leicht erregbar ist („irritable“)6. Nach Baudelaires Vorstellung macht eine Mischung aus beiden Temperamenten den idealen Dichter aus. In Les Sept Vieillards weisen die angespannten Nerven des Ichs auf eine melancholisch-nervöse Disposition, wobei es sich möglicherweise bereits um einen überreizten Zustand handelt, weil die Nerven erstarren („roidissant mes nerfs“)7. Auf die Mitbeteiligung des reizbaren gelbgalligen Temperaments weist hingegen der „brouillard sale et jaune“ des Vergleichs („décor semblable à l’âme de l’acteur“), zumal „jaune“ einige Verse später unter Hinweis auf die atmosphärische Farbe noch einmal wiederholt wird:

Tout à coup, un vieillard dont les guenilles jaunes

Imitaient la couleur de ce ciel pluvieux,

[…]

Zum Verhältnis von Temperament und der hier einsetzenden Halluzination findet man bei Brierre de Boismont die Feststellung, dass unter berühmten Männern, die Halluzinationen ausgesetzt seien, das (gelb)gallige Temperament der vorherrschende Typ sei, aber auch Melancholiker neigten dazu, ihre Vorstellungen zu materialisieren und zu wahrnehmbaren Gegenständen zu transformieren8. Generell würden Halluzinationen bei geistig Gesunden durch intellektuelle Überanstrengung sowie durch körperliche Schwächezustände, Genesung nach einer Krankheit und Ähnliches begünstigt9. In Les Sept Vieillards ist nach der Aussage des Ichs die vorgegebene Neigung des Temperaments durch eine Überanstrengung der „âme déjà lasse“ verstärkt.

Auch der Nebel (V. 6, V. 9) oder der Schnee (V. 26), der die Straßen der Stadt überschwemmt oder bedeckt, lässt sich im Rahmen der Humorallehre verstehen, die schon früh Grundqualitäten (warm, kalt, trocken, feucht), Jahreszeiten, Lebensalter und Anderes in das System der Körperflüssigkeiten einbezogen hat10. Wasser und (kalte) Feuchtigkeit wurden dabei dem phlegmatischen Temperament zugeordnet, das nach Baudelaire der Inspiration des Dichters abträglich ist. So trägt etwa im vierten Spleen-Gedicht der Regen zur depressiven und unproduktiven Stimmung des Dichters bei:

Quand la pluie étalant ses immenses traînées

D’une vaste prison imite les barreaux,

[…]11

In Les Sept Vieillards hat das Gemüt des Ichs die schmutzig-gelbe Farbe des regnerischen Himmels („le ciel pluvieux“), was wohl bedeutet, dass sein eigentlich feurig-galliges Temperament abgeschwächt ist. Jedenfalls indizieren die humoralpathologischen Bilder und die direkte Aussage zum Seelenzustand des Dichters eine aus dem Gleichgewicht geratene Mischung der Körpersäfte und einen ebensolchen Gemütszustand. Damit sind die Voraussetzungen für das Scheitern der Inspiration und das Erlebnis der Halluzination gegeben.

Das Ich sieht plötzlich einen Greis in gelben Lumpen vor sich, armselig anzuschauen, aber mit bösem, stechendem Blick, spitzbärtig und grotesk gebeugt, der voller Hass durch Schnee und Schmutz schlurft. Es bleibt unklar, ob dieses „fantôme“ oder „spectre“ (V. 2) eine „hallucination pure“ ohne Anlass in der Realität12 oder eine durch einen „prétexte“ angeregte Halluzination ist, wie Baudelaire sie für den Haschischrausch festgestellt hat:

Dans le second cas l’hallucination est progressive, presque volontaire, et elle ne devient parfaite, elle ne se mûrit que par l’action de l’imagination. Enfin elle a un prétexte. Le son parlera, dira des choses distinctes, mais il y avait un son […]13

In jedem Fall ist seine Phantasie an der Erscheinung des „monstre hideux“ stark beteiligt14, wofür die ausführliche Beschreibung in vier Strophen spricht, die auch zeigt, dass das Ich von der Vorstellung der körperlichen und moralischen Defekte des Greises – von der Bösartigkeit über die ‚Dreibeinigkeit‘ bis zur Vorstellung vom ‚ewigen Juden‘ – zunächst fasziniert ist. Seine Phantasie gibt sich jedoch mit dem einmaligen Bild nicht zufrieden, sondern arbeitet weiter, indem sie die Erscheinung erst verdoppelt und dann noch fünf weitere Male folgen lässt. Die „multiplication“ („Ce sinistre vieillard qui se multipliait!“, V. 36) war in Fusée I als Ursache des „plaisir d’être dans les foules“ erkannt worden15, im vorliegenden Falle bringt sie dem Ich aber keinen Zugewinn an Glück, sondern die Vervielfältigung des Schreckens und vor allem die Wiederholung des Immergleichen, die ein Zeichen für das Versagen der dichterischen Phantasie ist. Daher seine ohnmächtige Frage, wer ihm solches angetan habe (V. 3316) und warum es so gedemütigt werde (V. 34) sowie die Bitte an den Leser um brüderliches Mitgefühl mit seiner anwachsenden Unruhe und Angst angesichts der Möglichkeit, dass die Fantasmagorie sich unendlich fortsetzen könnte:

Ces sept monstres hideux avaient l’air éternel!

Aurais-je, sans mourir, contemplé le huitième,

Sosie inexorable, ironique et fatal,

Dégoûtant Phénix, fils et père de lui-même?

(V. 40ff.)

Diese Angst reicht bis zur Todesangst (V. 41)17, die hier natürlich primär die Angst vor dem Tod als Dichter ist, so wie ja auch nicht die Vorstellung des abscheulichen Greises an sich den Schrecken erzeugt, sondern erst ihre Vervielfältigung als Wiederholung des Immergleichen. Von der Bedrohung der dichterischen Phantasie zeugen im Übrigen auch die kargen zwei Strophen, die auf den zweiten Teil der Halluzination und die wiederkehrenden Greise verwendet werden (V. 29ff.). In Panik und tief verletzt in seinem Selbstvertrauen flüchtet das Ich nach Hause, doch es kommt nicht gegen den Fiebersturm an, in dem seine Seele vernunft- und steuerlos treibt wie ein alter, abgetakelter Lastkahn in einem aufgewühlten Meer, wo kein Land in Sicht ist. An dem abschließenden Bild vom Fiebersturm hat Baudelaire lange gearbeitet. In der ersten Fassung war der Fieberanfall klar benannt (meine Hervorhebung):

Ma raison vainement réclamait son empire;

La fièvre en se jouant abattait ses efforts,

[…]

(V. 49f.)

In der dritten Fassung ist dann aber, nach einem sogleich wieder verworfenen „Le délire“, das endgültige „La tempête“ an die Stelle von „La fièvre“ getreten, zugleich mit der Ersetzung des früheren „l’esprit hagard et trouble“ (V. 47) durch „l’esprit fiévreux et trouble“. Damit ist die medizinische Vorstellung einer Fieberhalluzination zurückgedrängt worden, und mit dem Bild des Schiffes in Seenot beherrscht seitdem die seelische Verstörtheit des Ichs die ganze letzte Strophe18. Da aber die Schifffahrt eine bekannte Dichtungsmetapher ist, drückt dieses Bild die spezifische Verstörtheit eines Dichters aus, der auf einer „mer monstrueuse et sans bords“ kein Land und keinen Hafen vor sich sieht19.

In seinem Begleitbrief zur ersten Fassung hat Baudelaire einen eher skeptischen Kommentar zu seinem Gedicht gegeben:

… lignes soigneusement quand vous donnerez ces vers à l’impression – si vous les donnez – car tout ce que j’en pense est que la peine qu’ils m’ont coûtée ne prouve absolument rien quant à leur qualité; c’est le premier numéro d’une nouvelle série que je veux tenter, et je crains bien d’avoir simplement réussi à dépasser les limites assignées à la Poésie.20

Die Skepsis war nicht unbegründet, da in Les Sept Vieillards ersichtlich kein enthusiastischer Aufschwung festgehalten ist, den der Dichter herbeigeführt und mit seiner Phantasie gestaltet hätte, sondern ein vergebliches Mühen und ein Scheitern in der Wiederholung der immer gleichen Wahnvorstellung. So kann das Gedicht auch dem Leser kaum eine enthusiastische Seelenerregung vermitteln, wie es für Baudelaire eigentlich Aufgabe der Dichtung war.

Mit der Darstellung einer Halluzination setzt Baudelaire in Les Sept Vieillards die im Vin des chiffonniers begonnene Reihe von Rausch- und Phantasiedarstellungen in der Großstadt fort und führt alle Vorstellungen, die er bis dahin zum Großstadterlebnis des Dichters entwickelt hatte, zusammen, allerdings in negativer Form: Er zeigt nicht den „poète actif et fécond“, sondern einen Dichter mit geschwächter Phantasie, und er lässt die beglückende „multiplication“ der Großstadt sich in eine groteske, beklemmende Vielzahl verwandeln. Das Dichter-Ich kommt nicht zur gewünschten Empathie mit dem Wahrgenommenen, sondern klagt im Gegenteil das Mitgefühl des Lesers für sich selbst ein (V. 37ff.), und das Erlebnis endet statt mit einer „ribote de vitalité“ (Les Foules) mit dem Schrecken eines verwirrten, kranken Geistes. Auf diese Weise vermittelt das Gedicht ex negativo ein erstes komplettes Bild von Baudelaires poetischem Großstadtkonzept.

Les Petites Vieilles

Nach der Karikatur von Les Sept Vieillards war der Augenblick für ein positives poetisches Großstadterlebnis gekommen. Ein solches ereignet sich im zweiten Fantômes-Gedicht in der Begegnung des Ichs mit einer Menschengruppe, für die Baudelaire eine besondere Sympathie empfand, nämlich den „petites vieilles“. Man sollte meinen, dass er, als er Les Petites Vieilles verfasste, keiner fremden Anregungen für seine Großstadtdichtung mehr bedurfte, aber in dem Brief, mit dem er Ende September 1859 die beiden Fantômes-Gedichte Victor Hugo widmet, heißt es, dass er diesen im zweiten Gedicht zu imitieren versucht habe:

Les vers que je joins à cette lettre se jouaient depuis longtemps dans mon cerveau. Le second morceau a été fait en vue de vous imiter (riez de ma fatuité, j’en ris moi-même) après avoir relu quelques pièces de vos recueils, où une charité si magnifique se mêle à une familiarité si touchante.1

Wenig später hat er dies in einem Brief an seinen Herausgeber Poulet-Malassis wiederholt, wobei er einen Zusammenhang zwischen seiner Widmung und der gleichzeitig an Hugo gerichteten Bitte hergestellt hat, dieser möge eine Würdigung seines – Baudelaires – Artikels über Théophile Gautier verfassen:

Ce que je lui [à Victor Hugo] ai demandé est un vrai travail. – Il ne peut pas, je crois, me le refuser. Je lui dédie les deux fantômes parisiens, et la vérité est que, dans le deuxième morceau, j’ai essayé d’imiter sa manière.2

Ob und wie weit der Behauptung einer Imitatio tatsächlich Glauben zu schenken ist, kann eine genauere Betrachtung des Gedichts zeigen.

Les Petites Vieilles

À Victor Hugo

I

Dans les plis sinueux des vieilles capitales,

Où tout, même l’horreur, tourne aux enchantements,

Je guette, obéissant à mes humeurs fatales,

Des êtres singuliers, décrépits et charmants.

Ces monstres disloqués furent jadis des femmes,

Éponine ou Laïs! Monstres brisés, bossus

Ou tordus, aimons-les! Ce sont encor des âmes.

Sous des jupons troués et sous des froids tissus

 

Ils rampent, flagellés par les bises iniques,

Frémissant au fracas roulant des omnibus,

Et serrant sur leur flanc, ainsi que des reliques,

Un petit sac brodé de fleurs ou de rébus;

Ils trottent, tout pareils à des marionnettes;

Se traînent, comme font les animaux blessés,

Ou dansent, sans vouloir danser, pauvres sonnettes

Où se pend un Démon sans pitié! Tout cassés

Qu’ils sont, ils ont des yeux perçants comme une vrille,

Luisants comme ces trous où l’eau dort dans la nuit;

Ils ont les yeux divins de la petite fille

Qui s’étonne et qui rit à tout ce qui reluit.

– Avez-vous observé que maints cercueils de vieilles

Sont presque aussi petits que celui d’un enfant?

La Mort savante met dans ces bières pareilles

Un symbole d’un goût bizarre et captivant,

Et lorsque j’entrevois un fantôme débile

Traversant de Paris le fourmillant tableau,

Il me semble toujours que cet être fragile

S’en va tout doucement vers un nouveau berceau;

À moins que, méditant sur la géométrie,

Je ne cherche, à l’aspect de ces membres discords,

Combien de fois il faut que l’ouvrier varie

La forme de la boîte où l’on met tous ces corps.

– Ces yeux sont des puits faits d’un million de larmes,

Des creusets qu’un métal refroidi pailleta …

Ces yeux mystérieux ont d’invincibles charmes

Pour celui que l’austère Infortune allaita!

(V. 1–36)3

In den verschlungenen Gassen der großen alten Städte, wo selbst der Schrecken zu einer Bezauberung wird, geht das Dichter-Ich den Neigungen nach, die ihm durch seine humorale Komplexion vom Schicksal verhängt worden sind, und sucht, mit den Worten aus Les Foules gesprochen, nach dem „imprévu qui se montre“ und dem „inconnu qui passe“, um sich ihm mit „poésie et charité“ hinzugeben. Diesmal richtet sich seine Aufmerksamkeit auf Frauen, wobei die Auswahl, die es trifft, wie nicht anders zu erwarten, dem Prinzip des „malheur“, des Elends, folgt. Es erspäht in der Menschenmenge seltsame Wesen, hinfällig und charmant, bucklige, verrenkte Monstren, die, einstmals bewunderte Heldinnen und Huren, jetzt in zerschlissenen Röcken einherschlurfen und vom Straßenlärm verängstigt ihre bestickten kleinen Taschen4 an sich pressen. Dabei trippeln sie mechanisch wie Marionetten, schleppen sich wie verwundete Tiere oder tanzen wie Glöckchen, die ein Dämon hin und her bewegt. Der Anblick dieser vom Ich wiederholt „monstres“ genannten alten Frauen ist kaum weniger grotesk als der des Greises in Les Sept Vieillards, versetzt aber, anders als jener, das Ich nicht in Schrecken, sondern fasziniert es. Das geschieht insbesondere aufgrund ihrer Augen, die, auch wenn die Frauen im ersten Teil des Gedichts durchgehend mit „ils“ – bezogen auf „monstres“, V. 5f. – bezeichnet werden, also ihrer Weiblichkeit beraubt scheinen5, doch die Augen von Frauen sind, die Baudelaire grundsätzlich fasziniert haben und deren Kraft und übersinnliche Wirkung er stets bewundert hat. So hat er sie bald eine „fenêtre ouverte sur l’infini“ genannt und von ihrer „clarté mystique“ gesprochen6, bald in ihnen eine lebendige Fackel gesehen, die ihn sicher und bestimmt den Weg zum Schönen führe7, und gern hat er sie mit Metallen, Edelsteinen usw. verglichen8. Auch hier regt ihr Anblick die Phantasie des Ichs an, das sie zunächst durchdringend wie einen Bohrer und leuchtend wie dunkles Wasser nennt und sie dann mit den „göttlichen Augen“ eines kleinen Mädchens vergleicht, das sich staunend über alles freut, was glänzt. Die naive Liebe und Freude, die Kinder und Wilde für alles und an allem haben, was glänzend und geschmückt ist, hat Baudelaire im Peintre de la vie moderne gerühmt und daraus einen Hang zum Artifiziellen abgeleitet, in dem sich der „dégoût pour le réel“ ausdrücke, der von ihrer unsterblichen Seele zeuge9. Ebenfalls im Peintre de la vie moderne hat er im Zusammenhang mit der besonderen Wahrnehmungsfähigkeit des Genies das „œil fixe et animalement extatique“ des Kindes angeführt, in dem sich ein neugieriges und freudiges Staunen über alles Neue zeige, weshalb das Kind ständig trunken („ivre“) sei, sich also in dem Ausnahmezustand der Sinne und des Geistes befinde, den er im Poème du hachisch im Vergleich zu den Mühen des alltäglichen Lebens paradiesisch genannt hat10. Der Vergleich mit den „göttlichen“ Augen eines Kindes dürfte hier also zumindest eines mit Sicherheit bedeuten, nämlich dass die verhutzelten alten Frauen in ihrer Art, in die Welt zu blicken, ‚wieder geworden sind wie die Kinder‘ und damit dem Himmelreich nahe gekommen sind.

Die Phantasie des Ichs malt sich die Kindlichkeit der alten Frauen dann noch weiter aus, indem es sie durch die Beobachtung ergänzt, dass die Särge mancher Alten Kindersärgen gleichen, sie also auch äußerlich zu Kindern werden – ein Symbol, das es der Weisheit des Todes zuschreibt. Daher geht in seinen Augen manche gebrechliche Alte im Menschengewimmel der Stadt sanft einer neuen Wiege entgegen. Ein Manuskript dieser beiden Strophen (V. 21–28), das man in einem Exemplar der Erstausgabe der Fleurs du mal gefunden hat, könnte darauf hindeuten, dass sie separat und früher als das restliche Gedicht entstanden sind11, zumal das Motiv der Kindersärge an den „jeune cerceuil“ aus der frühen Version von Paysage erinnert. Die Wendung „un nouveau berceau“ (V. 28) assoziiert jedoch unweigerlich die Vorstellung von einem neuen Leben, bringt also den Gedanken an die Auferstehung dieser „être[s] fragile[s]“ ins Spiel und führt damit den durch die Augen angeregten Gedanken vom nahen Himmelreich fort. In einer dritten Strophe zum Motiv der Särge (V. 29–32), die sich erst in der Ausgabe von 1861 findet, hat Baudelaire seine Phantasie dann noch weiter spielen lassen, nun allerdings mit den höchst irdischen Überlegungen über die verschiedenen Formen, welche die Sargtischler für die verdrehten Gliedmaßen der Alten erfinden müssten12.

Die letzte Strophe dieses Teils nimmt noch einmal das Augenmotiv auf und vergleicht die Augen der kleinen Alten mit Brunnen aus Millionen von Tränen und mit Schmelztiegeln, in denen sich erkaltete glitzernde Metallplättchen abgesetzt haben. Auch mit dieser aus Leid herrührenden Schönheit vermögen die Augen der Frauen zu faszinieren, weil sie so die „invincibles charmes“ des „malheur“, des im Leben angehäuften Unglücks, haben, das nach der Kindlichkeit und dem (verlorenen) Frausein das dritte Moment der Faszination ist, die ihr Anblick beim Dichter als einem im Unglück Erfahrenen auslöst. In dieser kaum zu übertreffenden Steigerung kommt die „unwiderstehliche Sympathie“ zum Ausdruck, die Baudelaire nach eigener Aussage für alte Frauen empfand13 und die er hier auf sein lyrisches Ich übertragen hat. In Les Foules hatte er von „Orten“ gesprochen, die dem Dichter scheinbar verschlossen bleiben, weil ihr Besuch in seinen Augen nicht der Mühe wert erscheint. Die „petites vieilles“ waren für ihn offenbar ein „Ort“, den aufzusuchen sich lohnte, weil sie seine Anteilnahme und seine dichterische Phantasie in besonderem Maße weckten und anregten, und zur Anteilnahme hat er denn auch seine Leser ausdrücklich aufgefordert: „aimons-les!“

Wie sehr sich das Aufsuchen dieses „Ortes“ für Baudelaire gelohnt hat, zeigt sich darin, dass auf den ersten Teil des Gedichts noch drei weitere folgen. Hier zunächst die beiden kürzeren mittleren:

II

De Frascati défunt Vestale enamourée;

Prêtresse de Thalie, hélas! dont le souffleur

Enterré sait le nom; célèbre évaporée

Que Tivoli jadis ombragea dans sa fleur,

Toutes m’enivrent! mais parmi ces êtres frêles

Il en est qui, faisant de la douleur un miel,

Ont dit au Dévouement qui leur prêtait ses ailes:

Hippogriffe puissant, mène-moi jusqu’au ciel!

L’une, par sa patrie au malheur exercée,

L’autre, que son époux surchargea de douleurs,

L’autre, par son enfant Madone transpercée,

Toutes auraient pu faire un fleuve avec leurs pleurs!

III

Ah! que j’en ai suivi de ces petites vieilles!

Une, entre autres, à l’heure où le soleil tombant

Ensanglante le ciel de blessures vermeilles,