Krisenspirale oder Neustart?

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Krisenspirale oder Neustart?
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Impressum:

Lange, Bernd-Peter:

Krisenspirale oder Neustart ?

Aktuelle sozio-ökomische Analysen und wirtschaftspolitische Perspektiven für Europa

Koblenz, August 2015

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor:

Universitätsprofessor (Em.) Bernd-Peter Lange – Universität Osnabrück

Privat: Über’m Rath 29

56072 Koblenz

Erstauflage

ISBN: 978-3-7375-6263-8

Krisenspirale oder Neustart ?
Aktuelle sozio-ökomische Analysen und wirtschaftspolitische Perspektiven für Europa

Der Autor ist Jurist und emeritierter Professor für Wirtschaftstheorie am Fachbereich

Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.

1974/75 Mitglied der Bundeskommission zum Ausbau des technischen Kommunikationssystems (KtK) für den Bereich Wirtschaft

1984 - 1989 Stellvertretender Vorsitzender der Begleitforschungskommission zum Kabelpilotprojekt Dortmund - Abschlussbericht in 3 Bänden

1990-1995 Vorsitzender der ISDN Forschungskommission des Landes NRW

Von 1993 bis 1999 Generaldirektor des Europäischen Medieninstituts in Düsseldorf.

Wichtige Veröffentlichungen:

Bernd-Peter Lange et al., Konzentrationspolitik in den USA, Tübingen 1972

Bernd-Peter Lange, Kommerzielle Ziele und binnenpluralistische Organisation von

Rundfunkveranstaltern, Frankfurt am Main/Berlin 1980

Bernd-Peter Lange et al., Sozialpolitische Chancen der Informationstechnik, Frankfurt/New York 1982

Bernd-Peter Lange et al., ISDN in Unternehmen und Verwaltungen, Trends, Chancen und Risiken , Opladen 1996

Bernd-Peter Lange, David Ward, The Media and Elections, Mahwah, New Jersey/London 2004

Bernd-Peter Lange, Medienwettbewerb, Konzentration und Gesellschaft, Wiesbaden 2008

"The heritage of the past is the seed that brings forth the harvest of the future."

(National Archives, Washington DC)

Vorwort

1984 auf einer Japan-Forschungsreise hat der Verfasser Geldwäsche in aller Öffentlichkeit miterlebt. An einem sonnigen Sonntag standen festlich gekleidete, meist ältere Herren in einer langen Schlange vor einem religiösen Schrein. Waren sie vor ihm angelangt, zogen sie ihre Brieftasche heraus, entnahmen ihr in gemessenem Tempo Geldscheine mit hohen Summen und tauchten sie in ein kleines rituelles Becken, ähnlich einem Weihwasserbecken in katholischen Kirchen, dass die Gläubigen beim Betreten der Kirche benutzen, um ihre Finger zu benetzen und um sich zu bekreuzigen. Waren die Geldscheine durchs "heilige" Wasser gezogen, so wurden sie abgetropft. Die Herren in den dunklen Anzügen verneigten sich ehrerbietig in Richtung Schrein und kehrten, die Geldscheine sorgfältig an Ort und Stelle wieder verstaut, mit gefalteten Händen zu ihren abseits wartenden Familien zurück. Nach der Herkunft des Geldes fragte hier niemand, auch kein Priester. Sie blieb im Dunkeln.

Geldwäsche im ökonomisch-juristischen Sinne bedeutet, dass illegal erworbenes Vermögen in den normalen Geldkreislauf eingeschleust wird und dann die Herkunft nicht mehr zurückverfolgt werden kann. Wenn es dann noch religiös gereinigt wird, beruhigt das auch noch das Gewissen.

Diese Anekdote verdeutlicht, wie eng das Finanzwesen eines Landes in das gesellschaftliche, religiöse und ethische System eingebettet ist, welchen historischen Traditionen es vordergründig verpflichtet ist und wie Geldwäsche in aller Öffentlichkeit praktiziert wird.

Im Sommer 2015 pokert der bankrotte griechische Staat darum, möglichst viele günstige Kredite von den internationalen Gläubigern - IWF, EZB und EU-Kommission - möglichst ohne dringend notwendige Gegenleistungen zu erhalten. Die linksradikale Regierung in einer Koalition mit einer rechtsradikalen, nationalistischen Partei ist dabei, nach über 5 Jahren offenbar gescheiterter Rettungspolitik gegenüber Griechenland die Eurozone in eine existentielle Krise zu stürzen. Der mögliche Grexit und der nicht auszuschließende Brexit - der Austritt Großbritanniens aus der EU nach dem spätestens für 2017 angekündigten Referendum - gefährden grundsätzlich weitere notwendige Schritte der europäischen Integration, bzw. sie gefährden den erreichten Stand des europäischen Zusammenhalts.

Vor einem derartigen Hintergrund geht es in dieser Publikation darum, mit sozialwissenschaftlicher Akribie den Krisen der Gegenwart - internationale Finanzkrise, Euro-Krise, Staatsschuldenkrise und Krise der europäischen Integration - nachzuspüren und hinter den vielfältigen Erscheinungsformen der Realität nach Gesetzmäßigkeiten und Machtstrukturen zu fragen. Dabei ist zu klären, welche historischen Wurzeln die Krisen haben, denn sie ergeben sich aus vergangenen strukturellen Fehlentwicklungen.

Der Begriff der Krise enthält immer auch den der Chance: Was können Gesellschaften aus Krisen lernen, was können und müssen sie in Zukunft grundsätzlich besser machen. Handelt es sich um tiefgehende und lang andauernde Krisen, so ist ein grundsätzlicher Neustart auf ordnungspolitischer Basis erforderlich.

Wenn man einen so dramatischen Titel für ein wissenschaftliches Werk wählt, muss viel auf dem Spiel stehen:

- Selten war so viel Zusammenbruch - der Glaube an die freie Selbstregulierung der Märkte ist durch die andauernde Finanzkrise tief erschüttert; selten war so viel Umbruch - die Suche nach neuen auch internationalen Regulierungsstrukturen kennzeichnet die Zeit nach der Deregulierung; selten war so viel Aufbruch - die EU befindet sich am Scheideweg: zurück zum Nationalismus oder vorwärts zu den Vereinigten Staaten von Europa?

- Gelingt es, gegenüber einem räuberischen internationalen Finanzkapital zu einer demokratisch legitimierten Ordnungspolitik auf der Basis der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zurückzukehren?

- Lässt sich die Euro-Krise dauerhaft durch notwendige Strukturreformen überwinden oder fallen wir zurück auf nationale Währungen als Spielbälle der internationalen Spekulation?

- Gibt es Wege, um die weiter ansteigende Staatsverschuldung in den Ländern der Europäischen Union zu stoppen und zurückzufahren oder belasten wir uns folgende Generationen immer stärker?

- Fallen wir in Europa zurück in einen verheerenden Nationalismus oder schreiten wir fort im Friedensprozess der solidarischen europäischen Integration?

- Wie können um sich greifende Korruption und ein illegitimer Lobbyismus mächtiger Einzelinteressen zurückgedrängt werden zur Wiederherstellung des demokratisch legitimierten Rechts?

Die sozio-ökonomische Methode hat der Autor in mehr als 25 Jahren Lehrtätigkeit entwickelt und praktiziert. Hier geht es um die Anwendung auf vier brandaktuelle und sich gegenseitig befeuernde Krisen, die sowohl die Wissenschaft als auch die Politik herausfordern. Nur wenn man sie in ihrer Komplexität versteht, kann man sich selber ein Bild machen und informiert handeln im Sinne der nachhaltigen Überwindung der Krisen.

Hier geht es darum, die Leser mit sozio-ökonomischem Denken so vertraut zu machen, dass Sie am Ende in der Lage sind, mit diesen Analysemethoden diese zusammenhängenden Krisen und auch andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme zu verstehen und Reformvorschläge kritisch zu bewerten.

Es sind im Kern vier Essays über die oft verzweifelten politischen Versuche, gesellschaftliches Chaos und menschliche Hybris und maßlose Gier durch nachhaltige Ordnung zu disziplinieren. Welche Chance hat heute der Versuch, durch demokratisch legitimierte Entscheidungen dem Gemeinwohl auf nationalstaatlicher und auf EU-Ebene zu dienen?

Wertvolle Anregungen und Verbesserungsvorschläge verdanke ich meiner Frau, Dr. Jutta Lange-Quassowski. Verbleibende Unkorrektheiten oder Fehler gehen ausschließlich zu meinen Lasten.

Ich wünsche der Publikation eine weite Verbreitung. Möge sie zu einer breiten Diskussion beitragen.

Koblenz, im Sommer 2015

Bernd-Peter Lange

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1.1 Warum diese Form der interdisziplinären Analyse?

1.2 Was ist der Anspruch dieser Art der Analyse?

2 Globale Finanzmarktkrise seit Ende 2007 und internationale Ordnungspolitik

2.1 Kurzer Überblick über die Geschichte des Bankwesens

2.2 Die wichtigsten Krisen des Bankenwesens im Laufe der Geschichte

2.3 Die weltweite Bankenkrise seit 2007: ein chronologischer Überblick

2.3.1 Die Besonderheiten des US-amerikanischen Immobilienmarktes

2.3.2 Die US-amerikanische Politik des billigen Geldes zur Stimulierung des Konsums

2.3.3 Die Entwicklung der Immobilienblase

2.3.4 Die Zockerei der Investmentbanker - was sind das für Menschen?

 

2.3.5 Der Finanzmarktcrash als eine über internationale Märkte rollende Lawine

2.3.6 Krisenprofile einzelner ausgewählter Großbanken

2.3.7 JP Morgan Chase (USA)

2.3.8 Goldman-Sachs (USA)

2.3.9 Bank of America (USA)

2.3.10 Lehman Brothers (USA)

2.3.11 Fannie Mae und Freddie Mac (USA)

2.3.12 UBS ( Schweiz)

2.3.13 Credit Suisse (Schweiz)

2.3.14 HSBC (Hongkong & Shanghai Banking Corporation Holdings PLC) mit Sitz in London.

2.3.15 Royal Bank of Scotland (RBS) (Großbritannien)

2.3.16 Barclays (Großbritannien)

2.3.17 BNP Paribas (Frankreich)

2.3.18 Bankia (Spanien)

2.3.19 Schattenbanken

2.3.20 Hypo Real Estate (HRE) (Deutschland)

2.3.21 Landesbanken in Deutschland (LBBW, Nord LB, Bayern LB, West LB)

2.3.22 Geschichte der Deutschen Bank bis heute

2.3.23 Sozio-ökonomische Thesen zur Deutschen Bank

2.4 Die Auswirkungen im Finanzsektor und in der Realwirtschaft

2.5 Systematisierung der Krisenursachen

2.6 Reaktionen der Politik in den USA und in Europa.

2.6.1 Staatliche Bankenrettung

2.6.2 Einrichtung von Bad Banks

2.6.3 Die FED und die EZB und die Politik des billigen Geldes

2.6.4 Die Verschärfung der Regulierung in den USA und in der EU

2.6.5 Die Kontroversen um die Erhöhung von Eigenkapitalanforderungen

2.6.6 Die Kontroverse um das Trennbankensystem

2.6.7 Die Einschränkung des Eigenhandels (Volcker-rule in den USA)

2.6.8 Die Verbote von Leerverkäufen

2.6.9 Die Begrenzung von Bonuszahlungen

2.6.10 Das Vorgehen gegen Schattenbanken

2.6.11 Die Problematik des Hochfrequenzhandels und das Manipulationspotential

2.6.12 Regulierung der Ratingagenturen ?

2.6.13 Die Kontroversen über die Einführung einer Finanztransaktionssteuer

2.6.14 Schärfere US-Regeln für Auslandsbanken

2.7 Die Skandale und ihre juristische Aufarbeitung.

2.8 Regulierung, Deregulierung, Re-Regulierung: Effizienz der Ordnungspolitik und die Frage nach staatlicher Souveränität.

2.9 Die Kontroversen zwischen Neo-Liberalen und Keynesianern und die jeweiligen Interessenpositionen

2.10 Der Beitrag der Institutionalisten

2.11 Zur Kritik des "homo oeconomicus"

2.12 Perspektiven der angestrebten Bankenunion in Europa.

2.13 Sozio-ökonomische Analyse von Rechtssetzung und -anwendung

2.14 Sozio-ökonomische Thesen zu den Erfahrungen der aktuellen Finanzmarktkrise - better safe than sorry -

2.15 Welches sind die Kosten - finanziell und gesellschaftlich - und wer trägt sie?

2.15.1 Kosten der Bankenrettung in den USA und in Europa

2.15.2 Kosten der Stützung der Realwirtschaft - Steigerung der Staatsschulden

2.15.3 Kosten durch Wohlstandsverluste

2.15.4 Gesellschaftliche Kosten: Erschüttertes Vertrauen in den Finanzsektor und in die Funktionsweise der Marktwirtschaft

2.15.5 Erhöhter und andauernder Stress für die Politik

2.16 Ausblick: Lehren aus der Krise?

2.17 Schritte auf dem Wege zu einer internationalen Ordnungspolitik

3 Eurokrise und die Notwendigkeit einer europäischen Wirtschaftspolitik oder der Test darauf, wie dünn die Decke einer solidarischen Zivilisation ist

3.1 Das Konzept eines einheitlichen Währungsraumes in Europa und die dazu gehörigen Rahmenbedingungen

3.2 Die Einführung des Euro und die Entwicklungsgeschichte

3.3 Die Eurokrise

3.3.1 Die Erscheinungsformen und die Chronologie

3.3.2 Die Kontroversen über die Ursachen

3.4 Besondere Krisenländer

3.4.1 Griechenland

3.4.2 Portugal

3.4.3 Irland

3.4.4 Italien

3.4.5 Frankreich

3.4.6 Zypern

3.5 Strategien zur Bekämpfung der Krise und ihre jeweiligen Nebenwirkungen

3.5.1 Rettungsschirme und Strukturreformen

3.5.2 EZB-Leitzinssenkungen und Aufkauf von Staatsschuldtiteln

3.5.3 Entwicklung eines klar definierten Rechtsrahmens für Staatspleiten

3.5.4 Koordination der Wirtschafts- und Haushaltspolitik im Euroraum?

3.5.5 Die Reichweite des Fiskalpaktes

3.5.6 Wirkungen und Nebenwirkungen

3.5.7 Wer zahlt für die Krise: schleichende Entwertung von Geldvermögen und Haftung als Steuerzahler

3.5.8 Keine Perspektiven für die Jugend: Hohe Arbeitslosigkeit in Europa

3.6 Welche Zukunft hat der Euro?

3.6.1 Einführung von Euro Bonds?

3.6.2 Aufspaltung der Eurozone in einen Nord- und einen Südeuro?

3.6.3 Entschuldung durch einen Schuldenschnitt und/oder eine einmalige Vermögensabgabe?

3.6.4 Exkurs: Entgangene Steuereinnahmen durch Schattenwirtschaft, Verschwendung und Korruption

3.7 Die Kontroversen zwischen Konservativen und Konjunkturförderern

3.8 Sozio-ökonomische Evaluation der Euro-Krise: Lassen sich die Geburtsfehler beheben?

3.9 Weitere Schritte zur europäischen Wirtschaftspolitik

4 Internationale Staatschuldenkrise und Wertewandel

4.1 Was sind Staatsschulden, wie werden sie erfasst und wie werden sie bewertet?

4.2 Die Entwicklung der Staatsschulden in verschiedenen Ländern - ein Überblick

4.2.1 Deutschland

4.2.2 Frankreich

4.2.3 Italien

4.2.4 Spanien

4.2.5 Griechenland

4.2.6 Portugal

4.2.7 Irland

4.2.8 Großbritannien

4.2.9 EU insgesamt und Vergleich der einzelnen Länder

4.2.10 Japan

4.2.11 USA

4.2.12 Kanada

4.2.13 Exkurs: Steuergeschenke, Klientelpolitik, Verschwendung , Steuerhinterziehung, Korruption

4.3 Die europäischen Regeln zur Begrenzung der Staatsschulden und warum sie bisher nicht eingehalten wurden

4.4 Perspektiven von Neuverschuldungsbremsen und Haushaltskonsolidierungen

4.5 Lösungsansatz: Schuldenschnitt?

4.6 Politische Zwänge zwischen Haushaltskonsolidierung, Zukunftsinvestitionen und Anforderungen an Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit

 

4.7 Sozio-ökonomische Evaluation der internationalen Staatsschuldenkrise

4.8 Den notwendigen Wertewandel befördern

5 Krise der Europäischen Integration und Zukunft der Vereinigten Staaten von Europa Geschichtsvergessenheit oder aus der Geschichte lernen?

5.1 Geschichtlicher Überblick:

5.1.1 Von den 6 Gründungsmitgliedern zur EU der 28

5.1.2 Die Befriedung bzw. Integration von Balkan Staaten

5.1.3 Die EU Nachbarschaftspolitik

5.1.4 Die inhaltlichen Integrationsfortschritte

5.2 Die EU in der Entwicklung: ihre Verfassung, ihre Dimensionen, ihre Probleme und ihre Wahrnehmung

5.3 Zentrifugale Kräfte im Innern und Bedrohungen von außen

5.3.1 Das Wiedererstarken nationalistischer und rechtsradikaler Kräfte

5.3.2 Großbritannien: ein "Störenfried" oder ein nützlicher Reformmotor?

5.3.3 Die Bedrohung durch Russland

5.3.4 Beitrittsperspektiven für die Türkei, für Serbien und die Ukraine?

5.4 Kontroverse Reformkonzepte und pergierende Interessen

5.5 Die Vereinigten Staaten von Europa: ein zukunftsfähiges Konzept?

5.5.1 Ein überzeugendes Narrativ?

5.5.2 Eine europäische Öffentlichkeit als Integrationselement ?

5.5.3 Die Behauptung der EU als Friedens- , wirtschafts-, sozialpolitisches und sozio-kulturelles Projekt im Konzert der Weltmächte im 21. Jahrhundert?

5.6 Sozio-ökonomische Evaluation und die notwendigen Reformschritte

6 Interdependenzen, Problemkumulation und wissenschaftliche und politische Herausforderungen

6.1 Die Zusammenhänge der vier Krisen

6.2 Die neue Unübersichtlichkeit in globaler Perspektive - die zunehmende Bedeutung von Resilienz und Nachhaltigkeit

6.3 Vor dem Scherbenhaufen der herrschenden Wirtschaftswissenschaften - was nun?

6.4 Politische Neuorientierung und Rückbesinnung auf Werte

6.4.1 Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert

6.4.2 Grundfreiheiten in der EU

6.4.3 Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips

6.4.4 Stärkung der Demokratie - Zurückdrängung des Lobbyismus und Korruptionsbekämpfung

6.4.5 Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit

6.5 Hat sich der sozio-ökonomische Ansatz bewährt?

7 Anhang 1: Weitere Krisenprofile wichtiger internationaler Banken

7.1 USA

7.1.1 Wells Fargo

7.1.2 Morgan Stanley

7.1.3 Citigroup

7.2 Großbritannien

7.2.1 Lloyds Banking Group

7.2.2 Northern Rock

7.2.3 Ermittlungen gegen die Bank of England

7.3 Deutschland

7.3.1 Commerzbank

7.4 Niederlande

7.4.1 SNS Reaal

7.5 Schweiz

7.5.1 Wegelin

7.6 Vatikanstaat

7.6.1 Instituto per le Opere di Religione (IOR, Vatikanbank Rom)

8 Anhang 2: Sozio-Ökonomie und ähnliche Ansätze und Vorläufer

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Wiederholungen sind unvermeidbar, weil jeder der vier Teile für sich verständlich sein soll. Deshalb werden die Entwicklungen in besonderen Krisenländern mehrfach geschildert allerdings mit je spezifischem Akzent. Die jeweiligen Zahlen können voneinander geringfügig abweichen, weil zum Teil unterschiedliche Quellen verwandt worden sind.

Einleitung

Wir schrieben vor einem Jahr das Jahr 2014: 200 Jahre nach dem Wiener Kongress als Reaktion auf die napoleonischen Kriege, - der Wiener Kongress als der 2. Versuch nach dem westfälischen Frieden eine "dauerhafte" Friedensordnung in Europa zu etablieren -, 100 Jahre nach Beginn des 1. Weltkrieges, 75 Jahre nach Beginn des 2. Weltkrieges, der mit dem 1. Weltkrieg zusammenhängt und den Tiefpunkt jeder zivilisierten Entwicklung in Europa markiert. 2014 sind aber auch 65 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vergangen, der freiheitlichsten Verfassung in Deutschland, die es je gab, und 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union und des Mauerfalls in Berlin. Dieses freudige Ereignis ermöglichte inzwischen 9 osteuropäischen Staaten, der Europäischen Union beizutreten, und damit nach Europa zurückzukehren. 2014 fanden auch Wahlen zum europäischen Parlament statt und es wurde eine neue EU Kommission unter ihrem Präsidenten Jean Claude Juncker gebildet. Die Europäische Union seit 1956 gewachsen, auch und gerade jetzt unter Einschluss osteuropäischer Staaten und Slovenien und Kroatien, ist gemessen an den Kriegen vorher und den Zeiten des "kalten Krieges" und gemessen an früherem Nationalismus ein "Wunder" und ist sowohl politisch als auch ökonomisch ein historisch einmaliges Freiheits- und Friedenswerk in Bezug auf die Integration ganz verschiedener Völker und Länder nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Am 10. Dezember 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis - nicht nur eine Anerkennung des bisher Geleisteten sondern auch eine Verpflichtung für die Zukunft!

Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 haben aber auch zwei besorgniserregende Ergebnisse gezeitigt; zum einen war die Wahlbeteiligung in einigen Ländern wie z.B. in der Slowakei sehr gering, zum anderen haben Parteien mit dezidiert antieuropäischen Programmen starken Zulauf erhalten: So wurde die Front National in Frankreich dort die stärkste Partei, ebenso die UKIP in Großbritannien. Dies zeigt, dass die Begeisterung für das europäische Integrationsprojekt stark nachgelassen hat. Die Revolution in der Ukraine in diesem gleichen Jahr ist trotzdem auch ein Zeichen, welche Strahlkraft die Europäische Union zumindest nach außen nach wie vor entfaltet, auch wenn die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Destabilisierung zumindest der Ostukraine durch Russland unter Führung von Putin ein barbarischer Rückfall ins 19. bzw. 20. Jahrhundert darstellt. Diese Entwicklungen gemahnen, den erreichten Stand der europäischen Integration nach innen nicht als selbstverständlich und auf Dauer gesichert anzusehen und nach außen weiterhin konsequent eine offene Nachbarschaftspolitik auch und gerade der Ukraine gegenüber zu betreiben. Dies ist leicht gesagt aber schwer zu realisieren: Für ein vereintes Europa und ein Europa der friedlichen Nachbarschaft muss auf allen Ebenen der Politik und Zivilgesellschaft geworben und gekämpft werden.

Im Jahre 2000 hatte die EU das Ziel formuliert, bis zum Jahre 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Dies ist nicht gelungen. Im Gegenteil: Die EU steckt heute in der tiefsten Krise ihrer Geschichte, geprägt durch demographischen Wandel - Europa ist der einzige Erdteil, dessen Bevölkerung sinkt -, hohe, bisher immer noch wachsende Staatsverschuldung, politische Krisen in wichtigen Ländern der EU wie z. B. Griechenland, Italien oder Spanien, eine hartnäckige globale Finanzmarkt- und eine tiefgehende Eurokrise mit zentrifugalen Desintegrationskräften, schwaches und uneinheitliches Wirtschaftswachstum und strukturelle Arbeitslosigkeit mit besonders einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50% wie in Spanien. Außerdem stellen in vielen Ländern Europas rechts-populistische Parteien verstärkt die europäische Integration grundsätzlich in Frage.

Es stellt sich also die Frage, wie es zu diesen Europäischen Krisen kommen konnte, wieso strategische integrationspolitische Orientierungen sowohl auf EU- als auch auf nationalstaatlicher Ebene ins Leere liefen, wieso Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik offenbar versagt haben und vor diesem Erfahrungshintergrund welche Perspektiven es auf dem Weg zur Sicherung der europäischen Integration zu wieder dynamischem Wirtschaftswachstum, hoher Beschäftigung, ausgeglichener Einkommens- und Vermögensverteilung, Abbau der Staatsverschuldung und wirtschaftlicher und politischer Stabilität gibt. Grundsätzlich ist nach einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft, nach Regulierungsanforderungen besonders für Banken und nach ordnungspolitischer Neuorientierung besonders in der Eurozone zu fragen. Es geht um nicht weniger als um den weiteren Zusammenhalt der europäischen Union. Dabei müssen auch die Interdependenzen zwischen den Krisen herausgearbeitet werden: Wie weit haben die Rettungspakete für Banken in Schieflage die Staatsverschuldung weiter vorangetrieben? Ist dadurch die Eurokrise überhaupt erst ausgebrochen? Ist die Rettungspolitik gegenüber Griechenland gescheitert? Wenn ja, was dann? Haben Staatsschulden- und Eurokrise die drohende Spaltung Europas in einen prosperierenden Norden und einen kranken Süden beschleunigt? Nur wenn diese Fragen beantwortet sind, lässt sich auch eine umfassende Strategie zur Bekämpfung der verschiedenen, und doch zusammenhängenden Krisen diskutieren. Der Begriff der Krise umfasst daher zwei Perspektiven: Zum einen geht es um die Erfassung sich zuspitzender Fehlentwicklungen im Sinne einer abwärts gerichteten Spirale, zum anderen geht es um die Auslotung der Bedingungen eines Neuanfangs, um die Chancen, die Krise zu überwinden und in Zukunft zu verhindern.

Die Verwendung des Begriffes "Sozio-Ökonomie" ist Ausdruck eines Programms: Es geht darum, einen Beitrag zur Re - Formulierung der herrschenden Wirtschaftstheorie des Modell- orientierten "zeitlosen" Neo-Liberalismus zu leisten. Nur so können die Wirtschaftswissenschaften wieder als Sozialwissenschaften etabliert werden. Dies bedeutet, dass Kategorien wie Machtausübung und Herrschaft zentral für die sozio-ökonomischen Analysen sein müssen. Dies bedeutet weiterhin, dass wirtschaftliche Entwicklungen in ihrem jeweiligen historischen und sozialen Kontexten zu behandeln und dabei psychologische, soziologische, politische und juristisch-regulatorische Aspekte zu berücksichtigen sind. Daher ist ein interdisziplinärer Ansatz geboten.

In dieser Einführung gehe ich nicht systematisch - also z. B. von der Mikroökonomie über die Analyse der Marktformen hin zur Makroökonomie - vor, sondern schildere am Beispiel der krisenhaften Entwicklung seit 2007, was einen sozio-ökonomischen Ansatz leisten kann. Dabei werden verschiedene Aspekte der Krise analysiert: zunächst die internationale Finanzmarktkrise, sodann die Eurokrise in verschiedenen Ländern, dann die Staatsschuldenkrise und schließlich die Krise der Europäischen Integration mit den jeweiligen Querverweisen zwischen diesen Teilbereichen. Es geht darum, hinter den Erscheinungsformen z. B. von Bankenzusammenbrüchen bzw. -rettungen die Ursachen und Folgen zu ergründen und die kontroversen politischen Antworten darzustellen und nach ex- und impliziten Interessenpositionen und den jeweiligen externen Effekten zu bewerten. Vor dieser Folie sollen dann eigene Krisenvermeidungs- bzw. Bewältigungsstrategien zur Diskussion gestellt werden.

Als der Verfasser 1963 das wirtschaftswissenschaftliche Studium an der Universität Bonn aufnahm, lehrte Professor Krelle: "Vergessen Sie Krisen. Wir haben heute ein wirtschaftswissenschaftliches Instrumentarium, um einen gleichmäßigen, aufsteigenden Wirtschaftspfad zu steuern". Es war vom Beginn des "golden age" die Rede. Vergegenwärtigt man sich diese Prophezeiungen, so muss man sich fragen: Was ist in den herrschenden Wirtschaftswissenschaften falsch gelaufen?

Das Krisenparadigma setzt begriffsnotwendig als Gegenentwurf den "Normalzustand" wirtschaftlicher Entwicklung voraus: ausgeglichene Haushalte, angemessenes Wachstum, hohes Beschäftigungsniveau, stabile Währungen und nachhaltige europäische Integration. Aus historischer Perspektive ist zu fragen, ob der postulierte Normalzustand nicht auch ein Artefakt ist. Dann wäre Krisenbewältigung bzw. -vermeidung unter anderen Perspektiven zu diskutieren, als unter der der Rückkehr zu einer wie auch immer gearteten Normalität und Stabilität. Es wäre dann besonders nach gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Resilienz gegen allfällige Krisenschocks angesichts dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung und kontinuierlichem gesellschaftlichem Wandel zu fragen.

Der Begriff der Krise enthält auch immer den Verweis auf die Chancen, die sie eröffnet: Chancen zu einem Neustart, die die Krisenerfahrung eröffnet. Diese Publikation weist bei aller oft grundsätzlichen Kritik den Weg zu praktikablen, ordnungspolitisch begründeten Reformschritten.

In diesem Zusammenhang soll auch die Kritik der vorherrschenden Wirtschaftstheorie zur Krisenerklärung entfaltet werden mit deren Artefakt des homo oeconomicus, des immer rational handelnden Menschen sowohl als Konsument als auch als Investor als auch als Banker oder Unternehmer. Dabei wird auch das Postulat sich selbst regulierender Märkte - also ohne staatliche Intervention - einem Realitätscheck unterzogen.

Auf der Basis dieser beiden Analysestränge werden dann Strategien zur Überwindung der Krisen diskutiert auf breiter interdisziplinärer Basis: es geht um juristische Regulierung und ihre jeweilige Wirksamkeit, es geht um alternative wirtschaftspolitische Konzepte auf der Basis unterschiedlicher wirtschaftstheoretischer Ansätze und spezifischen gesellschaftlicher Interessen, es geht um gesellschaftspolitische Grundvorstellungen über das Verhältnis von wirtschaftlicher Macht und demokratisch legitimierter politischer Souveränität, es geht schließlich um die Perspektiven der europäischen Integration vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen.

Kontroverse Ansätze sollen jeweils zunächst dargestellt und sodann auf ihren ideologischen Hintergrund abgeklopft werden. Ideologien sind Argumentationsstränge, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, tatsächlich aber spezifische Interessenpositionen absichern sollen.

Ziel dieser Analysen ist es

- die relevanten realen Vorgänge mit Hilfe eines sozio-ökonomischen Instrumentariums zu sezieren und ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu beschreiben,