Krisenspirale oder Neustart?

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- Ursachen und Wirkungszusammenhänge theoretisch zu erfassen und das heißt hinter den vielfältigen Erscheinungsformen wirtschaftlicher Entwicklungen nach Gesetzmäßigkeiten und Strukturen zu fragen,

- jeweils herauszuarbeiten, was politisch zur Krisenbekämpfung getan oder aber auch unterlassen wurde; dabei geht es auch darum zu ergründen, wem das Eine oder wem das Andere nützt.

- die notwendigen weiteren regulatorischen und politischen Reformschritte zu skizzieren;

- hierbei sollen so weit als möglich Erkenntnisse, die aus anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen fruchtbar gemacht werden können, verarbeitet werden.

Da es keine wertfreie Sozialwissenschaft gibt - schon die Auswahl der behandelten Themen stellt eine Wertentscheidung dar -, muss bei allen Analysen der jeweilige Wertehorizont so präzise wie möglich offengelegt werden. Hier spielen die im Grundgesetz verankerten Werte, wie z. B. das Selbstbestimmungsrecht jeder einzelnen Person gerade auch gegenüber mächtigen wirtschaftlichen Institutionen wie z. B. Banken, und das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, - so viel Markt wie möglich, so viel staatliche Regulierung wie nötig -, eine besondere Rolle. Hier geht es auch um die volle Entfaltung demokratischer Entscheidungen angesichts wirtschaftlicher Macht auf den verschiedenen Ebenen der Nationalstaaten, der EU und auf globaler Ebene. Die Frage lautet: Sind die institutionellen Arrangements auf diesen Ebenen bzw. ist ihr Zusammenwirken effizient genug, um global agierenden Banken und anderen Finanzinstitutionen wie Hedge Fonds - gerade auch in Bezug auf ihre engen Verflechtungen untereinander - einen festen ordnungspolitischen Rahmen vorzugeben? Sind demokratisch legitimierte Institutionen so durchsetzungsfähig, damit Krisen soweit als möglich vermieden werden können bzw. ihre negativen Auswirkungen nicht immer wieder die Allgemeinheit schwer belasten. Die weitere ordnungspolitische Frage auf der Basis eines Konzepts eines funktionsfähigen Währungsraumes lautet: Welche wirtschaftspolitischen Schritte sind erforderlich, um die Eurokrise, die von der Finanzkrise befeuert wurde, dauerhaft zu beenden. Damit zusammenhängend ist nach dem notwendigen Wertewandel in Politik und Gesellschaft auf der Basis des Konzepts von Generationengerechtigkeit zu fragen, um die weitere Ausbreitung der Staatsschuldenkrise zu stoppen. Schließlich ist zu klären, ob der weitere Weg zu vereinigten Staaten von Europa als Bundesstaat sui generis einen Ausweg aus der Krise der europäischen Integration darstellt und wenn ja, wie er konkret beschritten werden kann.

Der hier vertretene Wertehorizont geht also von der Priorität der Grundrechte und dem Demokratiegebot aus. Er orientiert sich an den ordnungspolitischen Grundentscheidungen des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Er speist sich darüber hinaus aus den Überzeugungen der friedensstiftenden Funktion der europäischen Integration.

Neben der interdisziplinären Anlage der Analysen geht es auch um einen vergleichenden Ansatz zwischen den Entwicklungen in den USA und der EU, dabei weiter differenzierend zwischen den Entwicklungen der einzelnen Mitgliedsländer.

Bei diesem Unterfangen ist eine unendliche Fülle von Materialien - Statistiken, Dokumenten, Gerichtsentscheidungen und Literatur - zu sichten und aufzuarbeiten. Dabei kann es nicht um Vollständigkeit gehen, sondern nur um eine Auswahl der für diese Analysen wesentlichen Unterlagen. Verweise auf einschlägige Literatur dienen auch als Anregungen zur vertieften eigenen Auseinandersetzung.

In Bezug auf über die Tatsachen wiedergebende Berichte hinausgehende mediale Einschätzungen ist Vorsicht geboten. Privatwirtschaftliche Medien neigen aus Gründen des Buhlens um Aufmerksamkeit zu negativen Schlagzeilen und zur Skandalisierung von Ereignissen. Wie oft ist schon in den vergangenen 5 Jahren das Ende der Euro Zone beschworen worden, wie oft stand die nächste Finanzkrise unmittelbar bevor, ohne dass diese "Berichte" seriös begründet waren. Es ist daher zwischen oft negativen "headlines" und oft medial vernachlässigten "trendlines", den positiven durchgängigen Entwicklungen, zu unterscheiden.

Wichtiger als das Streben nach Vollständigkeit erscheint dem Verfasser die Überprüfung von Tatsachenbehauptungen und deren Einordnung in den jeweiligen Kontext und die klare Herausarbeitung unterschiedlicher wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Konzepte mit jeweiligen konträren wirtschaftspolitischen Konsequenzen. Dem Leser soll so die Möglichkeit gegeben werden, sich eine eigene fundierte Meinung zu den brennenden Fragen der Gegenwart zu bilden.

1.1 Warum diese Form der interdisziplinären Analyse?

Die Krise der Finanzierung des Immobilienmarktes in den USA hat sich negativ nicht nur auf die Stabilität der Immobilienmärkte und der Banken ausgewirkt, sondern hat auch die weltwirtschaftliche Entwicklung massiv beeinträchtigt. Diese langandauernde Kettenreaktion ist mit den herkömmlichen Instrumenten der neoklassischen Wirtschaftstheorie - die These lautet: sich selbst überlassene Märkte führen immer relativ schnell zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zurück - nicht erklärbar.

- Die weltweiten Finanzmärkte waren und sind in dieser Krise auch heute noch nicht in der Lage, durch wettbewerbliche Anpassungsprozesse aus sich heraus wieder zu Stabilität und Wachstum zurückzufinden. Die Finanzmarktkrise dauert inzwischen mehr als 7 Jahre. Ein derartiges Marktversagen kommt in der herrschenden Wirtschaftstheorie nicht vor.

- Die staatliche Regulierung der Finanzmärkte hat insbesondere auf Grund der staatlichen Deregulierung vor der Krise - begründet mit der Behauptung der immer zum Gleichgewicht tendierenden Selbstregulierung der Märkte - versagt. Dies ist nur durch eine erweiterte politikwissenschaftliche Analyse zu erklären. Dabei sind die Wellenbewegungen von strenger Ordnungspolitik hin zur Deregulierung und zurück in ihrem zeitlichen Verlauf zu analysieren.

- In Folge dieser Entwicklungen ist das Vertrauen in den Finanzsektor weltweit nachhaltig erschüttert. Vertrauen in den Geldwert, Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Banken in Bezug auf dort getätigte Einlagen ist aber die Grundvoraussetzung der Funktionsfähigkeit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnungen. Eine Analyse über die Voraussetzungen von Vertrauen sowohl bei Bankkunden - Privatpersonen und Unternehmen - als auch zwischen Banken ist bisher kein Thema der herrschenden Wirtschaftswissenschaften. Vertrauen ist aber grundlegend für soziale Beziehungen, indem es Menschen Sicherheit gibt und Gesellschaften stabilisiert. Nur wenn es gelingt, Aufbau und Zerstörung von Vertrauen aus dem psychologischen Wissen über menschliche Verhaltensweisen und Reaktionen zu erklären, kann es gelingen, zu einer gewissen Stabilität des Bankensektors zurückzufinden. Der Artefakt des homo oeconomicus, des wirtschaftlich immer rational handelnden Menschen, verstellt den Blick auf menschliche Emotionen, auf Gier, auf Geiz, auf Größenwahn, auf Panikreaktionen, auf Herdentrieb und auf Handeln aus Prestige- und Herrschaftssucht.

- Die Lobby des internationalen Finanzsektors versucht die notwendige (Re-) Regulierung auf nationaler und internationaler Ebene zu blockieren. Die Politik hechelt permanent der Krise hinterher und versucht immer aufs Neue, Zeit zu gewinnen. Nationale und internationale Politik befinden sich offenbar in dem Dilemma, einerseits der Empörung und der Wut der von der Krise Geschädigten durch (angeblich) strengere Regulierung Rechnung zu tragen und andererseits der "mächtigen" Bankenlobby nicht zu weh zu tun. Nur durch eine sozialwissenschaftliche Analyse lassen sich die Probleme demokratischer Willensbildung zur Wirtschaftspolitik auf nationaler, auf EU- und internationaler Ebene angesichts "nervöser" Finanzmärkte, angesichts automatisierter computergestützter Börsen und angesichts von sog. Schattenbanken wie Hedge Fonds erklären. Macht und Herrschaft eines entfesselten weltweiten Finanzsektors müssen dabei zentrale Kategorien sein. Wirtschaftssoziologische Analysen können hier hilfreich sein.

- Die weltweite Finanzmarktkrise hat die Eurokrise und die Staatsschuldenkrisen in Europa, aber auch in den USA und Japan verschärft. Die Versuche zur Rettung der Krisenstaaten im südlichen Europa durch sog. Rettungsschirme für Banken und Staaten aber auch durch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat Europa gespalten. Dadurch steht das "Jahrhundertprojekt" der europäischen Integration am Scheideweg: Zurück zu Nationalismus oder Vorwärts zu demokratischen legitimierten Vereinigten Staaten von Europa? Welches sind die Kräfte, die in die eine oder andere Richtung weisen? Was wären die jeweiligen Folgen? Welche Rolle spielt dabei die Bundesrepublik Deutschland? Geht es um ein europäisches Deutschland oder um ein deutsches Europa? Hier bedarf es gesellschaftswissenschaftlicher Analysen unter Einbezug historischer Erfahrungen insbes. aus zwei Weltkriegen bzw. dem oft auch genannten zweiten 30jährigen Krieg.

- Die internationale Finanzmarktkrise, die Eurokrise und die Staatsschuldenkrisen kumulieren in der Krise der europäischen Integration. Kann diese Krise genutzt werden zu mutigen Schritten zur weiteren Integration wie z. B. der Durchsetzung einer europäischen Bankenunion und/oder einer europäischen Wirtschaftsregierung und einer Energieunion oder führt die Krise zurück zu Renationalisierung und Zerfall des Euro?

- In diesen Krisen wird besonders zweierlei deutlich: Erstens wird um das "europäische Geschäftsmodell" angesichts der weltweiten Konkurrenz um Innovationen, Ressourcen, Produktionsknowhow, Technikentwicklung, Arbeitskräfte und ihre Qualifikation und um Absatzmärkte gerungen. Welches sind die Perspektiven für die soziale Marktwirtschaft in Deutschland? Eignet sie sich als Vorbild für Europa? Ist eisernes Sparen in den Staatshaushalten nicht nur der PIIGS-Staaten - Portugal, Irland, Italien und Griechenland - eine Vorbedingung zur Erhaltung internationaler Wettbewerbsfähigkeit? Oder aber führt die Austeritäts- Politik in eine Abwärtsspirale von Minuswachstum, steigender Arbeitslosigkeit insbes. bei Jugendlichen und damit zu einem weiteren Anstieg der Staatsverschuldung? Besteht die Gefahr einer unheilvollen Verbindung von wirtschaftlicher Stagnation und Deflation wie in jüngster Zeit in Japan? Gibt es dagegen eine Förderung des Wirtschaftswachstums, die Arbeitsplätze besonders für hoch qualifizierte Jugendliche schafft, die aber nicht die Staatsschulden weiter aufbläht? Woran scheitern die dringend notwendigen Investitionen in den Bereich der erneuerbaren Energien, in den Bildungssektor und in die Erneuerung der Verkehrsinfrastruktur? Zweitens wird deutlich, dass es dringend einer breiten öffentlichen Diskussion zur strategischen Orientierung der EU sowohl nach innen als auch nach außen bedarf: Was ist mit der Perspektive der "Vereinigten Staaten von Europa" gemeint? Welche Schritte dahin können realistisch gegangen werden? Sollen weitere Länder als Mitglieder in die EU aufgenommen werden oder geht es vorrangig in den nächsten Jahren um Konsolidierung nach innen? Welche außenpolitische Rolle kann die EU angesichts der vielen Konflikte in der Welt spielen ohne sich zu übernehmen?

 

- Mit der Entwicklung des "Turbokapitalismus" seit dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperialismus geht einher die stetige Vergrößerung der Schere zwischen "Reich" und "Arm" in den westlichen Industrienationen, und dies auch und gerade in dieser Krise seit 2007, wobei immer auch zwischen absoluter und relativer Armut zu unterscheiden ist. Der Prozess der gesellschaftlichen Entsolidarisierung schreitet weiter voran. In der politischen Auseinandersetzung der Parteien spielt der Ruf nach mehr Gerechtigkeit eine zunehmende Rolle, wobei die Vorstellungen von Gerechtigkeit diffus sind und zwischen Leistungs-, Verteilungs- und Chancengerechtigkeit hin und her schwanken. So bleibt die Frage nach den Mechanismen der Einkommens- und Vermögensverteilung und der Rolle des Staates hierbei zu analysieren.

Die Europäische Union mit ihren mehr als 500 Millionen Bürgern macht 7% der Weltbevölkerung und knapp 25% des Weltsozialprodukts aus, verteilt aber gleichzeitig 50% der Weltsozialausgaben in ihrem Gebiet. Unter welchen Bedingungen hat dieses Wirtschafts- und Sozialmodell noch eine Zukunft? Gleichzeitig findet ein rigoroser Verteilungskampf unter den Staaten der EU um günstige Kredite, um Subventionen, um Standortvorteile durch günstige Steuern und um Rettungsschirme mit ihren Garantien statt. Wie weit muss die Bundesrepublik in europäischer Solidarität bürgen für wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen z.B. in Griechenland, Spanien und Portugal oder Zypern auch um die europäische Union zusammenzuhalten? Oder müssen diese Länder die in Folge der Krise hohe Arbeitslosigkeit, besonders bei den Jugendlichen (zum Teil über 50%), allein bekämpfen?

Hieraus folgt - so die zu begründende These -, dass die vorherrschende Volkswirtschaftslehre auf der Basis des Neoliberalismus nicht in der Lage ist, diese Fragen zu beantworten, d. h. die umfassende Krisenentwicklung adäquat zu erklären. Daher kann sie auch nicht nachhaltige Instrumente und Lösungen zur Krisenbekämpfung bereitstellen. Es bedarf daher eines neuen Zugangs zu diesen essentiellen Fragen in sozio-ökonomischer Perspektive.

1.2 Was ist der Anspruch dieser Art der Analyse?

"Ideologien sind unzutreffende Auffassungen und Aussagen, an deren Entstehen, Verbreitung und Bewahrung sich gesellschaftliche Interessen … knüpfen. … Ideologien sind Ausdruck der Interessen des überlegenen Teils der Gesellschaft. Eben hierdurch haben sie sozial konservierenden Charakter. … sie sind eine Form der Übermächtigung des Bewusstseins" (Werner Hoffmann, Universität, Ideologie und Gesellschaft a.a.O. S.55f).

- Die sozio-ökonomische Analyse soll möglichst ideologiefrei, d. h. möglichst frei von einseitiger Interessenorientierung sein; d.h. es wird eine faktengesättigte Theoriebildung angestrebt. Dabei wird Theorie verstanden als Aussage zu Gesetzmäßigkeiten hinter den Erscheinungsformen wirtschaftlicher Entwicklung - Gesetzmäßigkeiten in der Form von wenn - dann - Beziehungen. Ist die Theorie von den Fakten her plausibel, so eignet sie sich auch als Ausgangspunkt wirtschaftspolitischer Gestaltung, wobei jeweils Nebenwirkungen zu berücksichtigen sind.

- Die gegenwärtige Krise wird in dem Kontext der historischen Entwicklung analysiert. Handelt es sich um eine "normale" Krise wie viele vorher wie z.B. die sog. Gründerkrise in den 70er Jahren des 19. Jahrhundert oder die Weltwirtschaftskrise ab 1929 oder ist sie besonders? Geht es um eine Konjunktur- oder um eine Strukturkrise? Ist die Krise nur die Unterbrechung in einer ansonsten stetigen und stabilen Entwicklung oder sind Bankenkrisen mit ihren riskanten immer neuen Produkten und Verhaltensweisen der "grenzenlosen" Spekulation der "Normalzustand" der wirtschaftlichen Evolution?

- Hier wird explizit analysiert werden müssen, wie es dazu kommen konnte, dass zumindest ein Teil der US-amerikanischen Politik in Bezug auf Großbanken davon ausgeht: " Too big to fail" (zu groß, um fallen gelassen zu werden) oder "too big to prosecute bzw. too big to jail" (zu groß, um juristisch belangt zu werden). Ist die hoch konzentrierte Macht des internationalen Finanzsektors tatsächlich in der Lage, die Politik in demokratisch legitimierten Staaten als Geisel für seine grenzenlosen Gewinninteressen zu nehmen? In neoliberalen Wirtschaftstheorien wird das Problem wirtschaftlicher Macht ignoriert. Dies widerspricht allen wirtschaftssoziologischen, rechts- und politikwissenschaftlichen Befunden. Der sozio-ökonomische Ansatz muss also explizit die Frage nach der Ausübung wirtschaftlicher Macht - hier die Macht der Banken und anderer Finanzinstitutionen - und deren Folgen thematisieren.

- Es wird im Rahmen der Abschätzung des jeweiligen Kräfteverhältnisse zwischen Staat und Wirtschaft das Auf und Ab der Regulierung des Finanzsektors - z. B. in Bezug auf die Trennung zwischen Investmentbanken und Kreditinstituten oder die Frage nach der Zulässigkeit des Eigenhandels - analysiert.

- Es wird nach der Effizienz der Regulierung gefragt: handelt es sich nur um symbolische Politik zur Beruhigung kritischer Bürger oder greifen Strukturreformen? Werden nur die "schwarzen Schafe" strafrechtlich verfolgt oder wurde eine neue Kultur des " das tut man nicht" und der nachhaltigen Geschäftspolitik etabliert? Wie ist die Haftungskaskade organisiert bei einem Bankenzusammenbruch: haften zuerst die Aktionäre und die Gläubiger? Haften auch die Bankkunden? oder stehen zunächst der Staat und damit der Steuerzahler in der Pflicht, um einen Zusammenbruch des eng verflochtenen Finanzsektors zu verhindern?

- Es wird die emotionale, irrationale Seite menschlicher Verhaltensweisen - Gier, Imponiergehabe, Geiz, Spekulationssucht, kriminelle Energie bei Täuschung und Betrug, Entgrenzung der Risikobereitschaft, Herdentrieb und Panik - aus der Perspektive der Individual- und Sozialpsychologie berücksichtigt. Nur so lässt sich ein realistisches Bild von menschlichen Verhaltensweisen und damit von Krisenursachen zeichnen.

- Es wird nach den historischen und spezifisch politischen Bedingungen der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung, des Euro gefragt und die Theorien zu seiner Begründung hinterfragt. Nur so lassen sich die Defizite in der Funktionsweise der Währungsunion erklären. Außerdem werden die politischen Konstellationen für Euro Rettungsschirme und Forderungen nach Strukturreformen in den Krisenländern analysiert. Dabei müssen auch die sozialen Folgen für die Bürger dieser Länder in Form einer Binnendifferenzierung berücksichtigt werden.

- Die Entwicklung der Staatsschulden lässt sich nur aus den Mechanismen der politischen Willensbildung in parlamentarischen Demokratien mit relativ kurzen Wahlperioden erklären. Vor diesem Hintergrund werden realistische Alternativen zum energischen Abbau der Staatsschulden diskutiert.

- Die Entwicklung der europäischen Integration wird als komplexe Verknüpfung zwischen historischen Erfahrungen, den völlig neuen Perspektiven eines friedlichen Zusammenlebens in Europa und den ökonomischen Notwendigkeiten eines europaweiten gemeinsamen Marktes analysiert. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich die aktuellen Bedrohungen der EU von innen und von außen verstehen.

Dieser sozio-ökonomische Ansatz geht interdisziplinär vor im Sinne der Erweiterung der Wirtschaftswissenschaften, nicht im Sinne ihrer Auflösung. Dies bedeutet eine enorme Komplexitätssteigerung und dies in Bezug auf die Analyse eines in sich schon sehr komplexen Sachverhalts. Da es sich hier aber um eine Einführung für allgemein an wirtschaftlichen Fragen Interessierte handelt, muss immer aufs Neue eine Komplexitätsreduktion im Sinne der Konzentration auf das Wesentliche versucht werden. Es geht vor allem darum, mit vernetztem Denken vertraut zu machen. Sozioökonomisches Denken dient der Analyse und darauf aufbauend der systematischen Bewertung wirtschaftspolitischer Alternativen: Nur wer Nach - Denken kann, kann Vor - Denken, nur wer umfassend analysieren kann, kann auch nachhaltig politisch selbständig handeln.

2 Globale Finanzmarktkrise seit Ende 2007 und internationale Ordnungspolitik

"Der König regierte, aber die Banken herrschten", Götz von Pölnitz, die Fugger, S. 71

2.1 Kurzer Überblick über die Geschichte des Bankwesens

Sprichwort: Geld borgen, bringt Kummer und Sorgen.

Es wäre viel zu kurz gegriffen, die Ursprünge des Bankwesens nur auf die Funktion des Geldwechselns - banca als Wechseltisch - zu reduzieren. Vielmehr lässt sich z.B. an der Entwicklung des Bankwesens im Altertum die enge Verflechtung zwischen Religion, staatlicher Herrschaft und Finanzwesen aufzeigen: " Mit allen bedeutenden Heiligtümern war eine umfangreiche Finanzverwaltung verbunden, indem es die Aufgabe der Priester war, durch kluge Verwaltung, durch vorteilhafte Verpachtungen, durch Darlehn usw. die jährlichen Einkünfte zu steigern und einen Schatz zu bilden, der nicht nur zur Aufrechterhaltung der Würde des Gottesdienstes ausreichte, sondern auch für die nationale Macht des Heiligtums eine wesentliche Forderung war" (Ernst Curtius, griechische Geschichte ). Der Tempel war damit Geldinstitut mit den Funktionen der sicheren Geldaufbewahrung, der Darlehnsgewährung gegen Zinsen (12-14%) und des Umtausches fremder Münzen. Im alten Rom wurden diese Funktionen von den argentarii ausgeübt, die ihre Läden am Forum, also in unmittelbarer Nähe der politischen Herrschaft, hatten. Machten sie Pleite, so mussten sie vom Forum weichen - foro cedere, daher stammt das Wort fallieren im Sinne von zusammenbrechen.

Bis ins frühe Mittelalter waren die Banken Geldwechsler, später dann kam das Münzwechselgeschäft, die Umprägung von Geldstücken in leichtere, vom Wert her schlechtere Münzen hinzu - das schlechtere, weniger Gold oder Silber enthaltende Geld verdrängt das gehaltvollere. Aus diesem Geschäft entwickelte sich das Depositengeschäft, wobei man zwischen dem depositum regulare - genau die gleichen Münzen mussten nach der vereinbarten Aufbewahrungszeit wieder herausgegeben werden - und dem depositum irregulare - die Bank kann das Geld verleihen und muss nur die gleiche Summe wieder zurückgeben - unterscheiden muss. Der Bankier lebte von dem Vertrauen, dass er jederzeit seine Rückzahlungsverpflichtungen einhalten konnte. Enttäuschte er dies Vertrauen, wurde seine banca zerschlagen - banca rotta, woher das Wort Bankrott kommt. Das Depositengeschäft wurde im Laufe der Zeit auch von Banken als juristische Personen weiterentwickelt. Einlagen werden hereingenommen gegen eine mäßige Aufbewahrungsgebühr. Nächster Schritt in der Entwicklung des Bankwesens war die Verwaltung eingezahlter Gelder durch die Bank: sie organisierte den Kreislauf (Giro) der Zahlungen zwischen verschiedenen Gläubigern und Schuldnern z. B. bei Handelsgeschäften. So entstanden Girobanken, zuerst in Venedig im 12. Jahrhundert. Große Bedeutung erlangten Banken, die mit den römisch-katholischen Kurien (depositares papae) zusammenarbeiteten, die mächtigsten waren die Bankiers der Medici in Florenz. 1508 gelang es den Augsburger Fuggern, ihre Niederlassung in Rom zur Bank des Papstes Julius II. zu machen. Wie die Fugger waren auch andere deutsche Banken des Mittelalters aus internationalen Handelshäusern hervorgegangen oder wie die Welser aus Handwerksbetrieben, die sie zu großen Manufakturen entwickelt hatten. Die Fugger finanzierten kaiserliche Unternehmungen durch die Gewährung von Staatsanleihen für die Habsburger und so machten sie sich diese zu Abhängigen.

 

Nachdem eine große Zahl von Girobanken in Venedig zusammengebrochen waren, wurde 1587 die Staatsgirobank " Banca de Rialto" gegründet. Sämtliche Wechsel sollten nur bei ihr eingereicht werden dürfen. Wechselkredite spielten früher eine besondere Rolle, dienten sie doch dazu, für Hersteller von Gütern die Zeit bis zum Verkauf durch Händler zu überbrücken. Wechsel waren dem Geld gleichgestellt. Die Zentralbank konnte durch Festsetzung des Zinsabschlages, zu dem sie Wechsel hereinnahm, das Volumen der Wechselkredite steuern.

Auch heute spielt der internationale Zahlungsverkehr, ausgeweitet durch globalisierten Handel, abgewickelt von Banken, eine wesentliche Rolle: es geht um den Wechsel zwischen verschiedenen Währungen bis hin zu Währungsspekulationen. Aber auch der private Zahlungsverkehr wird über Banken abgewickelt.

Geld hat in diesen Zusammenhängen also zunächst die Funktion des universellen Zahlungsmittels. Darüber hinaus ist es ein Wertaufbewahrungsmittel und es ist eine Recheneinheit, die Preise, Löhne und alternative Investments vergleichbar macht. Geld und Währungen sind damit die Schmiermittel, ohne die Privatwirtschaft und Steuerstaat nicht funktionsfähig wären. Verfügung über Geldmittel bedeutet aber auch wirtschaftliche und politische Macht, so wie sie die Fugger im Mittelalter ausgeübt haben oder so wie sie heute von international agierenden Großbanken und Hedge Fonds ausgeübt wird.

Die historischen Wurzeln lassen damit das heutige Bankwesen besser verstehen.

1907 hatte eine Finanzkrise in den USA eine schwere Rezession zur Folge, wodurch zahlreiche Banken Bankrott gingen. Um eine derartige Entwicklung in Zukunft zu verhindern, trafen sich im November 1910 US Senator Nelson W. Aldrich und Repräsentanten der großen Wallstreet Banken wie J.P.Morgan und National City Bank of New York (heute Citibank), um auf einer zu dieser Jahreszeit verlassenen Ferieninsel ein Konzept für eine zentrale Notenbank der USA zu erstellen. Die so 1913 entstandene Federal Reserve Bank (FED) ruht auf 12 privatwirtschaftlich geführten regionalen Zentralbanken, die rund 3000 Mitgliedsbanken gehören. Der US-Präsident ernennt den Chef der FED und die 7 Mitglieder des Board of Governors. Die FED ist dafür verantwortlich, durch ihre Geldpolitik die Inflation in den USA im Zaum zu halten und konjunkturelle Schwankungen der Wirtschaft zu glätten (boerse.ARD.de 26.12.2013 Notenbank Jubiläum, FED: Wie die Entenjagd zur Blaupause wurde).

In Europa gibt es als oberste Bank jeweils die staatliche Notenbank wie z.B. die Bank of England oder die Deutsche Bundesbank, in der EU die Europäische Zentralbank (EZB). Sie ist für die Ausgabe von Geldscheinen und Münzen zur Sicherung des Bargeldumlaufs zuständig. Darüber hinaus ist sie jeweils für die Stabilität der Währung verantwortlich, indem sie das Recht hat, den Banken z. B. durch ihre Zinspolitik Liquidität zuzuführen bzw. zu entziehen. Die EZB ist offiziell ausschließlich auf die Verhinderung der Geldentwertung verpflichtet - die Inflationsrate im Euroraum soll nicht höher als 2% betragen aber auch nicht wesentlich unter diesem Satz liegen, um deflationäre Entwicklungen zu verhindern.

Bei der Liquiditätsversorgung spielt neben dem Bargeld aber auch das Giral- oder Buchgeld eine entscheidende Rolle. Auf Grund des immer weiter verbreiteten bargeldlosen Zahlungsverkehrs sind die Banken in der Lage, Geld zu "schöpfen", das sog. Buchgeld: Sie wissen, dass sie für jede 100 Euro Verbindlichkeiten, - z. B. Spareinlagen, Festgelder und gewährte Kredite -, nur etwa 20 Euro Bargeld vorhalten müssen. Die restlichen 80 Euro werden in "normalen" Zeiten bargeldlos von einem Konto zu anderen Konten unterschiedlicher Gläubiger und Schuldner überwiesen. Im genannten Fall ist der Faktor der Giralgeld - Schöpfung also vier. Dies bedeutet, dass Banken ein vielfaches ihrer in Bargeld vorhandenen Einlagen zinsbringend ausleihen können und damit in der Lage sind, die Geldmenge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Umlauf befindliche Menge aus Bar- und Buchgeld, zu vermehren. Umso schwieriger ist daher die Steuerung der Geldmenge durch die jeweilige Notenbank. Sie kann von den Banken in diesem Zusammenhang das Halten von Mindestreserven bei ihr verlangen und so versuchen, die Schöpfung von Buchgeld zu begrenzen.

Außerdem stehen die Banken vor dem Problem der Fristenkongruenz: Haben sie täglich fällige Spareinlagen, so ist zu klären, wie weit auf diesen aufbauend, langfristige Kredite, z. B. Hypothekarkredite, ausgegeben werden können. Selbst bei konservativer Kalkulation in Bezug auf "aus kurz mach lang" für normale Zeiten ist klar, dass bei einem Run auf die Bank sie nicht in der Lage sein wird, alle kurzfristig fälligen Einlagen in bar auszuzahlen. Die Bank wird in diesem Fall ihre Schalter schließen, der Staat wird Bankfeiertage verkünden und ansonsten werden die Banken auf Hilfe aus dem Einlagensicherungsfonds und/oder staatliche Hilfe warten. Kommt keine rechtzeitige Hilfe, so muss die Bank Bankrott anmelden. Um derartige Entwicklungen zu verhindern, gibt es Vorschriften für das notwendige Eigenkapital einer Bank, das im Notfall den Bankrott abwenden soll.

Eigenkapital ist bei einer Aktiengesellschaft das gezeichnete Aktienkapital und es sind thesaurierte, nicht ausgeschüttete Gewinne. Je höher das Eigenkapital umso größer die Chance der Aktiengesellschaft beim Eintritt von Verlusten - bei einer Bank z. B. bei der Zahlungsunfähigkeit von mehreren Kreditschuldnern - den Konkurs zu vermeiden. In diesem Zusammenhang ist von extremer Bedeutung, das Banken im Schnitt nur Eigenkapital im einstelligen Bereich als Prozentsatz- zwischen 5 und 10% - zu den Verbindlichkeiten aufweisen, während Industrieunternehmen in der Regel mindestens 30% ausweisen (Vgl. hierzu Amati et al., aaO. S. 61). Dies heißt einerseits, dass Banken ihre Aktivitäten am liebsten mit Fremdkapital - Ausleihungen von anderen Banken, von der EZB bzw. der FED oder auf Grund von Bankanleihen -unterlegen und andererseits, dass sie im Vergleich zur Industrie viel krisenanfälliger sind. Um es klar auszusprechen: Banken arbeiten vorrangig mit fremden Geldern und gehen dabei oft hohe Risiken ein.

Hieran wird deutlich, dass das heutige Bankgeschäft hohe Anforderungen an die Liquiditätsvorsorge und an das Risiko Management stellt. Das gesamte Geschäftsbankensystem beruht auf dem Vertrauen der Gläubiger, dass jederzeitige Zahlungsfähigkeit in Bezug auf kurzfristige Fälligkeiten gegeben ist, denn die Einlagen bei Banken sind nicht mehr durch Gold abgesichert. Ist Vertrauen in den Finanzsektor erschüttert, bricht der Kreislauf des Geldes zusammen, weil Panik ausbricht.

Für das Verständnis des heutigen Finanzsektors ist noch von Bedeutung, dass Banken ganz unterschiedlich organisiert sind. Da sind zunächst die Aktiengesellschaften, z. B. Deutsche Bank und Commerzbank. Da sind sodann die Sparkassen, meist in kommunaler Trägerschaft und damit mit kommunaler Gewährsträgerhaftung, d. h., dass im Notfall die Kommune für Verluste gerade stehen muss. Dann ist auf die Genossenschaftsbanken hinzuweisen, hier bes. die Raiffeisenbanken. Schließlich gibt es Landesbanken wie die WestLB, die NordLB oder die Bayrische Landesbank, die mehrheitlich einzelnen Bundesländern gehören und die damit von den jeweiligen Landesregierungen beherrscht werden. Außerdem gibt es Privatbanken und Spezialbanken wie z. B. Bausparkassen, hier wiederum in öffentlich-rechtlicher oder privater Trägerschaft.