Augustes Rosen

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Augustes Rosen
Font:Smaller АаLarger Aa

Augustes Rosen

Barbara Kreuter

Augustes Rosen

Wilhelm Lenz übt schon in seiner Jugend bei Würfel- und Kartenspielen mit Zahlen. Er lernt eine entfernte Verwandte, Auguste, näher kennen. Unter ihrer Anleitung macht er bei Pferderennen beträchtliche Gewinne. Er entwickelt sich in der Beziehung zu Auguste, plant sein Leben und verwirklicht seine Träume.

Beide errechnen ihr Todesdatum, verlieren sich aus den Augen, sterben jeder für sich in dem Jahr, wie sie es vorausgesagt haben.

Die Liebe zu Augustes Rosen blieb erhalten. Die Rose gab seinem berühmten Garten den Namen. Sie trägt letzten Endes das Geheimnis in sich, wer vorgesehen ist, neuer Besitzer von Rosengarten zu werden.

In Erinnerung an meine beiden Großmütter,

Auguste und Auguste

© Barbara Kreuter

Vorsehung

Ich durfte mich niederlegen,

musste allerdings meine Gedanken

nun auch himmelwärts schicken.

Körper ohne Gedanken

sind der Starre preisgegeben.

Der Tod ist sicher, nur die Stunde ist ungewiss.

Das Jahr war ihm bekannt. Wilhelm Lenz befand sich seit kurzem in dem Lebensjahr, das sein Sterbejahr sein sollte. Er fühlte sich nicht krank, war nicht ängstlich. Er beschäftigte sich auch nicht täglich mit dem Gedanken, traf jedoch Vorkehrungen. Ein paar Sachen sollten nach seinem Ableben mit seinem Einverständnis geschehen, der letzte Wille als Wille durchdacht dokumentiert sein.

Und dann kam der Tod. Nicht mit Blumenduft im Reisegepäck und alle andere Möglichkeiten ausschließend. Ganz einfach, schlicht, würde der Tod sagen. Bei einer Tetanusspritze machte sein Herz einen Sprung. Den Sprung ins Aus.

Tetanusspritzen sind harmlos, aber nicht, wenn sie zum vorbestimmten Zeitpunkt des Todes gegeben werden. Dies ist das Problem der Spritze, nicht des Todes.

Eines hatte sich Wilhelm Lenz vom Schicksal gewünscht - er wollte, wo auch immer, in adäquater Umgebung sterben.

In diesem Punkt war der Tod dann doch nachsichtig. Der Arzt wollte ihn privat besuchen und schlug vor, ihm die Spritze daheim zu geben. So starb Wilhelm Lenz im eigenen Haus mit Blick auf seinen wunderschönen Garten.

Demokratie beginnt beim Tod, er macht sie alle gleich.

Demokratie endet beim Tod, er verweigert uns den freien Willen, ihm zu folgen oder nicht.

Wilma bog in das Parkgelände vor dem Friedhof ein. Sie stellte fest, sie hatte die Blumen vergessen. Gelbe Rosen hatte sie gekauft, und zu Hause am Tisch liegenlassen. Ohne viel Grün. Nur kleine Rosen, kurz geschnitten. Onkel Wilhelm hatte immer einen Strauß haben wollen, kein Gesteck. Hohe, schmale Vasen waren ihm zu unsicher. Sie haben keine Plattform, hatte er ihr einmal erklärt. Seitdem kam ihr jede schlanke, hohe Vase verdächtig vor. Als Vase, die Formschönheit blieb für sie erhalten.

Sie befürchtete, keinen Parkplatz zu finden. Mit Erleichterung sah sie in der letzten Reihe eine Lücke, und fuhr darauf zu. Sie bemerkte, die anderen Trauergäste waren auch erst aus dem Auto gestiegen, um sich auf den Weg zur Friedhofskirche zu machen.

Ohne jemand näher anzusehen, mischte Wilma sich unter die Menschen. Auf Beerdigung war sie noch nicht richtig eingestimmt. Sie hörte die letzten Klänge der Kirchenglocke. Friedhofsglocken hatten für sie immer so einen spärlichen Klang. Es lag wohl daran, dass die Kirchen kleiner, die Türme nicht so hoch, und selbstredend die Glocken nicht so groß waren. Sie erinnerte sich, sie war erst vor kurzem von jemand darauf hingewiesen worden, dass die Totenglocken in großen Kirchen auch unverwechselbar klangen. Sie wären höher eingestimmt.

Abschied von Onkel Wilhelm - so schnell und völlig unerwartet hatte niemand daran gedacht. Beerdigungen sind nur Formsache. Abschied ist, aus den Gedanken verlieren. Sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern, wer es gesagt hatte. Sie meinte, dass Abschiede oftmals Formsache seien, und eine Beerdigung letzten Endes doch ein Abschied für immer ist. Dieses Nachher und Wiedertreffen - es war nicht zu beweisen. Und selbst wenn man daran glaubte, es dauerte so lange, bis zum nächsten Leben. Man erkannte sich dann nicht wieder. Wusste nicht, dass da ein Mensch ist, den man vielleicht einmal geliebt hatte. Wenn es eine Wiedergeburt überhaupt gab. Ein Vergleich gefiel ihr, Seelen, die sich schon mal begegnet waren, würden sich zärtlich berühren, wie mit den Fingerspitzen streicheln. Fingerspuren der Seele. Ob es so etwas tatsächlich gab? Den Seelen würde es dabei gut gehen. Liebe? Liebe der Seelen, die Körper suchen?

Sie schaute auf die dunkelgekleideten Menschen und stellte fest, ein Großteil von ihnen hielt einen kleinen Blumenstrauß in den Händen. Sie dachte an ihre Rosen. Ein paar der Männer hatten drei Rosen bei sich. Drei Rosen, lose, nicht mit Grün zu einem Strauß gebunden. Wilma wunderte sich darüber, etwas sehr schlicht. Sie sah sich um, bemerkte, dass mehrere Männer das gleiche Arrangement gewählt hatten. Nur Männer, keine Frauen. Es war immer eine weiße, rosa und dunkelrote Rose.

Der Rosen Duft verflüchtigt sich in der Vase – stündlich.

Ein junger Mann, der den Weg, der von rechts auf den Hauptweg einbog, hastig entlangkam, hatte auch Rosen in der Hand. Wilma sah es, als er ein paar Schritte neben ihr lief. Er trug einen schwarzen Popelinmantel und knöpfte ihn erst jetzt beim langsameren Gehen zu. Er war ihr in der Menge der Menschen aufgefallen. Sie hatte sich für einen Augenblick umgedreht und ihn kommen sehen. Er hatte beim schnellen Laufen, mit dem offenen dunklen Mantel, wie ein Rabenvogel, der mit schlagenden Flügeln Anlauf nimmt, ausgesehen. Jetzt, da er in normalem Schrittempo neben ihr ging, kam er ihr gutaussehend vor. Für diesen kurzen Augenblick beobachtete sie ihn von der Seite. Er schien niemand zu beachten. Wilma liebte Raben. Krähen, wie immer sie auch genau zu bezeichnen waren. Ihren Start, ihre Landung. Wenn sie sich mit ausgebreiteten Flügeln sonnten. Wie es Amseln auch unglaublich lange tun. Bei den Raben sah es imposanter aus. Raben gehörten hier nicht her. Es fehlte noch, dass ein paar Krähen herumfliegen würden. Es würde als schlechtes Omen gedeutet werden.

Und doch war einer explizit unter ihnen, der dem Toten als nächster folgen würde. Es wird für ihn gebetet.

Die Großzügigkeit des Todes ist es, dass er ein Geheimnis um sein Kommen macht.

Sie spürte ein leichtes Kribbeln um den Magen. Sie kannte so etwas nicht. Mutter hatte ihr manchmal davon erzählt. Wie es ihr in jungen Jahren ergangen war. Sie konnte sich das Kribbeln nicht erklären. Herzklopfen war es nicht. Das Gefühl war ihr neu. Sie fühlte sich für einen Augenblick unglaublich wohl. Als hätte sie diese Situation schon einmal erlebt.

Das Areal vor der Friedhofskirche war mit Menschen überfüllt, sie hatten im Innenraum keinen Platz gefunden. In kleinen Gruppen standen sie beieinander und unterhielten sich leise. Wilma ging an ihnen vorbei. Sie hatte ihren Schritt verlangsamt, bemerkte, wie sie bewusst angeschaut wurde. Automatisch zog sie ihre Schultern nach hinten. Denk an deine Haltung, hatte Mutter immer gesagt. Ein schmaler Gang zur Kirchentür hin, war frei geblieben.

Charlotte, Sebastian und Thomas saßen bereits in der ersten Reihe. Sie hatten Frau Zeise, die langjährige Haushälterin von Onkel Wilhelm, in ihre Mitte genommen. In den anderen reservierten Bänken saßen ebenfalls geladene Gäste. Auch ehemalige leitende Angestellte der Firma und die engsten Freunde von Wilhelm Lenz. Wilma war langsam den Mittelgang vorgegangen. Mit einer knappen Kniebeuge zum Altar hin schlüpfte sie in die Bank. Sie schaute den anderen kurz in die Augen und flüsterte entschuldigend: „Stau“. Sie nickten. Charlotte sah ihr gerade in die Augen. Für Wilma konnte niemand so kommentarlos, und zugleich treffend wie ihre Cousine schauen. Völlig ohne jeglichen Gedanken zeigend. Sie schaut steril, dachte sie jedes Mal. Sebastian zwinkerte ihr wohlwollend zu, und Thomas zog die Brauen hoch. Thomas zog bei der geringsten Gelegenheit die Brauen nach oben. Seine Brauen waren mittlerweile geformt, so erschien es ihr. Er hob ein bisschen seine Hand. Das Kribbeln im Bauch war verschwunden.

Sie drehte sich dezent nach den Bänken auf der rechten Seite um, und bemerkte in einer Reihe die Männer, die die drei Rosen in den Händen hielten. Bei ihnen saß Julius Gärtner. Er wirkte heute blass und angestrengt. Er hatte zwar keine Rosen bei sich, doch der Mann an seiner Seite war der Mann, der eben neben ihr gegangen war. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Die drei Rosen mussten eine Bedeutung haben.

Das Licht, das die Dunkelheit erhellt, stellt die Nacht jedoch nicht in Frage.

Der Pfarrer mit den Ministranten eröffnete in diesem Augenblick den Trauergottesdienst. Sicherlich war die Kirche, wenn die Sonne schien, freundlicher. Heute, wo es bewölkt war, wirkte sie ungemein düster. Durch die Lampen und die brennenden Kerzen wurde sie jedoch zu einem festlichen Raum.

Wilma kam zur Ruhe. Sie dachte an Onkel Wilhelm. An die Begegnungen mit ihm, an die Zeit, die sie mit ihm erlebt hatte. Es geschah alles im Zeitraffertempo, nur Bruchstücke des Erlebten. Bei der Predigt bemühte sie sich, aufmerksam zuzuhören.

Der Pfarrer war ein ausgezeichneter Redner. Es berührte sie, wie Pfarrer Henders von Onkel Wilhelm sprach. Wohl vorbereitet und mit persönlicher Anteilnahme hielt er Rückschau auf das Leben von Wilhelm Lenz. Seine Stimme kam mit einer so weichen Tiefe, dass Trauer nahezu ausgeschlossen war. Wunderbarer Klang erfüllte den Raum. Er sprach über die Lebensphilosophie des Verstorbenen. Persönliche Daten hatte er aufs notwendigste reduziert.

 

Wilma wusste, dass er die zehn Jahre, die er hier als Pfarrer arbeitete, mit ihrem Onkel befreundet gewesen war. Gleich zu Beginn seines Amtsantrittes waren sich Peter Henders und Wilhelm Lenz begegnet. Wilhelm Lenz war nicht so regelmäßig in der Kirche gewesen, wie es die Kirchenordnung vorsah. Er hatte leidenschaftlich große Kirchenkonzerte besucht, war auch an besonderen Festtagen in den Gottesdienst gegangen. Die Christmesse am Heiligen Abend hatte er bewusst ausgelassen. Da waren ihm zu viele fremde Gedanken im Raum gewesen. „Sie können in dieser Nacht ihre Gedanken nicht zu Hause lassen“, hatte er zu Pfarrer Henders gesagt. „Ich bin froh, dass sie überhaupt kommen. Was wäre es, wenn sie bei ihren Geschenken und üppig geschmückten Weihnachtsbäumen blieben? Sie machen sich die Mühe, in dieser Nacht in die Kirche zu gehen. Das ist eine Menge.“ hatte ihm Henders geantwortet. Als Erwachsener, als er selbst darüber bestimmen konnte, hatte Wilhelm Lenz nie gebeichtet oder die Kommunion empfangen. Sie hatten sich auch so verstanden. Wichtig war den beiden, alle vierzehn Tage Schach miteinander zu spielen, und die anschließende Dämmerstunde, wie sie es genannt hatten. Beim Spiel war jeder auf seine eigenen Züge konzentriert und sehr bemüht, gegen den anderen zu gewinnen. Nachher war alles vergessen. Verbunden hatte die beiden auch die gleiche Weinsorte. Die Zeremonie beim Ausschenken, die Wahl der Gläser.

Pfarrer Henders war nun am Ende der Predigt angelangt. Er machte eine kurze Atempause, stellte sich gerade hin, verbeugte sich ein wenig vor der Trauergemeinde – alle schauten gespannt zu ihm. Man wusste nicht, was er jetzt sagen würde. Er war eine außergewöhnliche Erscheinung. Groß, blond und sehr stolz wirkend, sein Körper war sportlich durchtrainiert. Man konnte es selbst unter seinem Messgewand noch sehen. Bei offiziellen Anlässen wollte er stolz wirken. Stolz war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung, aber er vertrat seinen Berufsstand, seine Kirche. Er dachte nie an sich persönlich. Er machte einen Unterschied zwischen Stolz und Hochmut.

„Lassen Sie mich zum Abschluß Wilhelm Lenz selbst zitieren. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, und deuten Sie es nicht als Scherz oder Ironie. In den letzten Tagen habe ich oft an seine eigenen Worte gedacht. Ich möchte sie ihnen nicht vorenthalten. Manchmal sagte er zu mir:

„Jeder Frühling, der einen Sommer erleben durfte,

dem ein Herbst geschenkt wurde,

wird dem Winter in Ruhe entgegensehen,

ohne Angst zu haben, frieren zu müssen.

Der Winter lässt die Natur schlafen, um sie dann neu aufwachen zu lassen.

Da gibt es aber auch dann den Winter, der den Tod mit sich bringt. Ich, der alte Lenz, weiß, dass andere ihren Frühling noch vor sich haben.“

Pfarrer Henders machte eine kurze Atempause, und fuhr fort: „Verehrte Trauernde, so wie die Schöpfung der Natur die Jahreszeiten gegeben hat, so hat Gott uns die Freude am Leben, aber auch das Recht auf Sterben gegeben. Möge er in Frieden ruhen. Amen.“

Feierliche Stille erfüllte den Kirchenraum. Es räusperte sich nicht einmal jemand. Man hörte auch durch die offenen Kirchentüren von den draußen Stehenden nichts. Pfarrer Henders hatte sie mit seiner Ansprache erreicht.

Recht zu sterben, mit dem Gedanken ging Wilma konform. Sie meinte, dass Onkel Wilhelm mit achtundsiebzig Jahren ein Recht zu sterben hatte, auch wenn die Medizin manchmal zur Unsterblichkeit verpflichten will. Er wird ihr fehlen, das war jedoch eine andere Sache.

Alle Wünsche und Hoffnungen,

die wir in die Welt hinausschicken,

finden sich am eigenen Grab erfüllt wieder.

Als Wilma nun neben ihrer Cousine Charlotte, ihren Cousins, den Zwillingen Sebastian und Thomas am offenen Grab stand und sich umsah, erfasste sie die Menge der Menschen, die zur Beerdigung ihres Onkels gekommen waren. Überall zwischen den anderen Gräbern standen Menschen. Die Wege waren nahezu überfüllt. Alle standen ganz eng beieinander. Der Boden war vom Regen der letzten Tage aufgeweicht. Außerhalb der Kieswege, zwischen den anderen Gräbern, standen sie im feuchten Gras oder im Matsch.

Der alte Friedhofswärter von früher fiel ihr ein. Sie hatten ihn, wenn sie mit ihrer Mutter am Friedhof gewesen war, fast immer getroffen. Er war nicht groß, ging immer sehr gerade. Den Kopf hatte er immer leicht erhoben. Nie wieder hatte sie es bei einem anderen Menschen so deutlich beobachtet. Wenn er sie sah, kam er immer her, und unterhielt sich mit ihnen. Sie hatte schon als kleines Kind bemerkt, dass er schneller als sonst gelaufen kam. Er wollte mit ihnen sprechen. Er sprach ihre Mutter mit Namen an. Ihren hatte er wahrscheinlich nicht gewusst, und hatte sich zumindest nie an sie direkt gewandt. Wenn er nicht gerade etwas arbeitete, hingen die Hände fast hölzern an seinem Körper. So war es ihr vorgekommen, als wenn sie gar nicht zu ihm gehörten. Seine hellen Haare bildeten einen besonderen Kontrast zu dem witterungsgebräunten Gesicht. An seine blauen Augen konnte sich Wilma gut erinnern. Mutter hatte den Mann gut leiden mögen, wenn er auch manchmal ihre Mutter mit seiner Deftigkeit, nicht gerade vor den Kopf gestoßen, doch etwas sprachlos gemacht hatte. „Er ist ein Philosoph“, hatte sie dann gesagt. Sie gab aber nie eine persönliche Meinung über ihn ab. Einmal hatte er gemeint: „Eine schöne Beerdigung ist es, wenn viele Leute da sind. Die Leiche gibt zwar das letzte Gastspiel, aber sie ist die Hauptperson. Da braucht man Zuschauer.“ Er hatte es nicht zynisch gesagt. Mit Toten umzugehen war der Ernst seines Lebens. Er hatte nichts ins Lächerliche ziehen wollen, merkte doch, während er redete, es war nicht das Richtige für ihre Mutter gewesen. „Sicherlich haben Sie recht“, hatte Mutter ihm zurückhaltend geantwortet, sich dann aber freundlich von ihm verabschiedet. Mutter hatte auf dem Nachhauseweg ein paar Mal den Kopf geschüttelt, ohne etwas zu sagen. Als sie im Alter krank wurde, äußerte sie ganz deutlich den Wunsch nach einer Beerdigung im engsten Familienkreis, und einer nachträglichen Todesanzeige. Wilma hatte ihr den Wunsch erfüllt.

Dass Wilma sich gerade jetzt an den alten Mann aus ihrer Kindheit erinnerte. Ihr fiel auch noch ein, als er die Aushubarbeiten für ein neues Grab beaufsichtigte, Mutter und sie vorbeikamen, meinte: „Die Erde gibt alles wieder zurück.“ Mutter hatte damals nur genickt. Hatte aber leise im Vorübergehen gesagt: „Aber sie kann nur geben, was wir ihr anvertrauen.“ Mutter war auch der Ansicht, dass nichts in der Welt verloren ging. Nichts, was jemals hier gewesen war. Sie war jedoch nicht stehengeblieben, um mit ihm darüber zu sprechen. Diesmal nicht. In seinem Sinn war es heute eine schöne Beerdigung.

Der Rosen Träume reifen,

und reduzieren sich auf Dornen und Knospen.

Der Trauerzug der Menschen, die vor das Grab von Wilhelm Lenz traten, schien kein Ende zu nehmen. Im Augenblick stand die Gruppe der Männer in einer Reihe vor ihr, die die drei Rosen in der Hand hielten. Jeder von ihnen stellte sich kurz vor das offene Grab, nahm Haltung an und hielt die Rosen für einen Augenblick an die Herzgegend. Dann warfen sie die Rosen in das offene Grab, auf den Sarg.

Wilma schaute genau hin. Der Mann von vorher, der neben ihr gegangen war, verhielt sich genauso. Er gehörte zu den jüngeren von ihnen. Einer der letzten in der Reihe, er war sicherlich der älteste der Gruppe, blieb nicht stehen, sondern bückte sich langsam mit seinen Blumen. Es machte ihm sichtlich Mühe. Er streckte seinen Arm so weit wie möglich aus, und ließ die Rosen vorsichtig in die Tiefe gleiten. Wilma war berührt von dem Anblick. Die nächsten warfen ihre Blumen wie üblich in die Sarggrube. Es kam ihr plump vor. Manche taten es so heftig, als hätten sie Angst zu nah an den Sarg zu kommen. Störend empfand sie auch das Geräusch, den dumpfen Laut, der zu hören war, wenn die Blumen auf dem Holz aufkamen. Der Ton vom Holz verlor sich, die Blumen fielen auf die vielen, die bereits unten lagen. Sie war auf vielen Beerdigungen gewesen. Dies war ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen. Nicht einmal bei ihrer Mutter.

Sie blieben, bis alle Abschied genommen hatten, neben dem Grab stehen. Frau Zeise blieb auch bei ihnen. Obwohl in der Todesanzeige nicht erwähnt worden war, dass von Beileidsbekundungen im Friedhof doch höflich Abstand genommen werden möchte, gab niemand den Vieren die Hand und wollte Mitgefühl zeigen. Wilma betrachtete dies nicht als Abwertung von seiten der anderen. Es schien sich einfach so ergeben zu haben. Hätte einer damit angefangen, hätten es alle anderen nachgemacht.

Als der letzte gegangen war, legten Charlotte und Frau Zeise ihre Blumensträuße auf den Boden, an den Rand der Graböffnung. Frau Zeise weinte. Charlotte legte ihren Arm um ihre Schultern. Frau Zeise schaute sie dankbar an, und sagte dann: „Nun müssen wir aber auch ins Hotel. Wir können die Gäste nicht warten lassen“. Sie hatte im nahegelegenen Hotel „Zur Post“ den Empfang nach der Beerdigung bestellt.

Die geladenen Gäste waren nur wenige, im Vergleich zu denen, die gekommen waren. Und so konnte man das Auto jetzt, nachdem die anderen abfuhren, auf dem Parkplatz vor dem Friedhof, ohne andere Friedhofsbesucher zu behindern, stehenlassen.

Der Himmel war nach wie vor trüb und mit grauen Wolken verhangen. Nach einem wirklichen Regenguss sah es jedoch nicht aus. Ein leichter Wind war aufgekommen. Die meisten gingen die kurze Strecke zum Hotel zu Fuß. Man fing an, miteinander zu sprechen. Einige hängten sich vertraut bei ihrem Nebenmann unter.

Tränen sind Trauer nicht gleich zu setzen.

Im Hotel „Zur Post“ war im großen Konferenzzimmer, man nannte es auch den kleinen Ballsaal, für die Trauergesellschaft gedeckt worden. Frau Zeise hatte alles selbständig angeordnet. Sie war nun seit zwanzig Jahren im Hause Lenz als Haushälterin beschäftigt. Wilhelm Lenz hatte ihr freie Entscheidung bei der Haushaltsführung gelassen. Wilma hatte sich nur höflichkeitshalber angeboten. Sie war davon ausgegangen, dass Frau Zeise keine Hilfe brauchte, um einen den Empfang nach der Beerdigung zu veranlassen. Sie hatten lediglich die Traueranzeigen zusammen besprochen.

Charlotte meinte, es wäre schade, meistens nur bei traurigen Anlässen zusammenzukommen. Ihre Mutter hatte immer regelmäßige Familientreffen organisiert. Seit sie nicht mehr lebte, fanden diese nicht mehr statt. Maria, geborene Lenz, war die Schwester von Wilhelm gewesen und das einzige Mädchen der vier Kinder. Sie hatte längere Zeit als Witwe zurückgezogen gelebt, und war vor zwei Jahren von einer langjährigen Krankheit erlöst worden. Die Familientreffen waren ihr eine Abwechslung gewesen.

„Es ist auch schade, dass unsere Familien nicht abkömmlich waren“, seufzte Sebastian. Er setzte sich neben Charlotte.

„Was heißt, nicht abkömmlich?“ meinte Thomas. Jetzt, da sie älter wurden, sahen sie sich immer weniger ähnlich. Dass er der Zwillingsbruder von Sebastian war, hätte man nicht vermutet. „Abkömmlich? Keine Zeit haben sie. Keine Lust haben sie. Bei mir hatte jeder eine andere Ausrede. Wichtige Termine hätten sie alle. Und außerdem wären sie erst vor drei Monaten übers Wochenende bei Onkel Wilhelm zu Besuch gewesen. Wenn ich mich nicht täusche, haben sie in diesem Hotel gewohnt.

Das Andenken, ihn nochmals lebend gesehen zu haben, wäre ihnen viel wichtiger, als eine Stunde beim Begräbnis zu sein. Wenn jemand keine Lust auf eine Beerdigung hat, hängt er sich immer an der lebendigen Erinnerung auf.“ Zuhause hatte er alles versucht, seine Familie dazu bewegen, mit zur Beerdigung zu fahren. Er fühlte sich durch ihr Verhalten bloßgestellt. Sein einziger Trost war, dass es den anderen auch so ging.

Wilma war es peinlich. Sie meinte: „Was soll es? Ärgert euch doch nicht. Es ist es nicht wert. Wenigstens seine Nichten und Neffen haben ihm die letzte Ehre erwiesen. Ihr hattet ja auch alle eine Anreise und müsst hier übernachten. Es wäre auch ein bisschen viel gewesen mit dem ganzen Tross. Da sind gleich zwei bis drei Tage weg. Ich bin am Ort. Bei mir ist es einfach“.

„Da hast du auch wieder Recht. Und du tust dich sowieso leichter, liebe Wilma, du bist allein. Was nützt eine Familie, wenn sie sich dann drückt? Und ob man es denkt oder hinter vorgehaltener Hand sagt, erben wollen sie alle“, meinte Charlotte. Es war bei ihr zu Hause über die zu erwartende Erbschaftssteuer diskutiert worden. An dem Thema an sich hatte sie nichts auszusetzen. Aber die Art, wie das Gespräch abgelaufen war, empfand sie als widerlich. Sie hatte sich ernsthaft vorgenommen, ein Testament zu schreiben. Eines, in dem ihr Willen ganz klar zu befolgen war. Und wenn sie dann auch nur über die Steuern reden würden.

 

„Sag mal, Wilma, jetzt bist du in ein paar Monaten vierunddreißig und immer noch nicht verheiratet. Hast du eigentlich nie daran gedacht?“ wandte sich Thomas an Wilma. Er schaute sie charmant an. Lächelte, als wollte er mit ihr flirten. Er wusste, wie gut er mit den Augen lächeln konnte. „Du bist hübsch. Und jetzt eine gute Partie, schon vom Erbe hergesehen. Und als Kinderärztin kannst du dich sicherlich gut ernähren, und ein bisschen mehr. Es gibt doch so viele brave Männer, die gerne heiraten würden. Magst du einfach nicht?“ Thomas kam mit seinem Gesicht näher zu Wilma. Sie befürchtete, er würde sie küssen, und rutschte zur Seite.

„Ich will nicht als gute Partie weggehen. Wenn eine brave Frau einen braven Mann heiratet, ergibt das noch lange kein braves Ehepaar. Wenn eine reiche Frau einen reichen Mann heiratet, ergibt es noch lange kein reiches Leben.“, meinte sie. Sie sagte es, als hätte sie diesen Satz einstudiert. Es schien ihr automatisch von den Lippen zu gehen. Es wirkte regelrecht stereotyp. Hätte sie jemand heiraten sollen, weil sie genügend Geld hatte? Sie wollte noch etwas dazu erklären, da mischte sich Frau Zeise ein: „Für eine große Dummheit oder ein kleines Glück ist es nie zu spät.“ Frau Zeise sagte das mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt.

Alle schauten sie überrascht an. So spontan hatte ihr niemand so einen Satz zugetraut. Frau Zeise machte ein so überzeugtes Gesicht, als wüsste sie, dass sie sich morgen verlieben würde. Ihr Gesicht hatte plötzlich nichts mehr mit Trauerfeierlichkeit zu tun. Die schien sie im Moment vergessen zu haben.

„Ja, Frau Zeise, Sie müssen das ja auch wissen. Sie sind ja höchstens Anfang sechzig“, stimmte Thomas ihr zu. Ihm gefiel Frau Zeise. Er hatte sie nicht oft gesehen. Sie war ihm sympathisch gewesen, von Anfang an. Er machte sich in keiner Weise lustig über sie.

„Sollte unser Küken, Wilma, es sich doch noch überlegen, und heiraten wollen, kann sie mich fragen. Ich habe überzeugende Argumente ihr abzuraten.“ Sebastian war es etwas unbehaglich zu mute. Er hatte sich eine zwanglosere Unterhaltung nach der Beerdigung vorgestellt. Vielleicht hätte man über die Anzahl der Kränze sprechen sollen. Oder die Farbzusammenstellung der Blumen. Mit dem Gebinde, das von seiner Familie bestellt worden war, war er durchaus zufrieden. Wäre seine Frau dabei, hätte es nur ein Thema gegeben, die offizielle Kleiderordnung bei Beerdigungen. Die Art des Stoffes, Schnitt und Rocklänge, Hut oder nicht. Es war ein unerschöpfliches Thema für sie. Sie selbst trug immer ihren teuersten Schmuck zu solchen Gelegenheiten. Mit der Begründung, wenn zu Hause in der Zeit eingebrochen wird, diese Wertsachen nicht zur Verfügung stehen würden.

„Einen Fehler, aus dem man lernen will, muss man in vollem Umfang machen, muss ihn am eigenen Leib verspüren. Halbherzige Fehler sind wie Verkehrsübertretungen, bei denen der Polizist nur ermahnt. Ein hohes Bußgeld wirkt viel lehrreicher. Darum werde ich irgendwann selbst in den Apfel der Ehe beißen, um zu sehen, ob er sauer ist. Also - ich werde euch nicht fragen, sondern irgendwann irgendwen heiraten. Vielleicht sage ich es euch vorher. Vielleicht lade ich euch dazu ein. Wenn ja, dann seid ihr mir aber herzlich willkommen. Und von dem Mann, der mich heiratet, hängt auch einiges ab. Ihr wisst schon, wie ich das meine. Man heiratet sich schließlich gegenseitig.“ Wilma schaute auf das Tischtuch vor sich, als suchte sie nach einem Fleck. Da lag nicht ein Krümel zum Wegwischen. Sie hatte fest damit gerechnet, die anderen würden davon anfangen, sie sollte endlich heiraten.

Frau Zeise stand auf und erklärte, sie wollte sich mit anderen Gästen unterhalten. „Das ist wohl der Vorteil von dem sogenannten Leichenschmaus, die Lebenden kommen wieder ins Gespräch miteinander.“, meinte Charlotte.

„Wie hat sich Frau Zeise den Ablauf hier vorgestellt?“ wollte Thomas wissen.

„So wie sie mir erzählte, bleiben wir nach Kaffee und Kuchen noch sitzen. Du kannst dir deinen geliebten Schoppen Rotwein bestellen, dann gibt es zum Abschluss noch einen kleinen Imbiss“, antwortete ihm Wilma. Sie hoffte, das Thema Ehe wäre damit erledigt.

Ob Thomas am Tropf, genaugenommen am Rotwein hängen würde, wollte Charlotte wissen. Er erklärte ihr, er täte dies nicht. Oder besser gesagt, doch. Nämlich so wie sie ihren Kaffee trinken, oder Sebastian seine Schachteln Zigaretten rauchen würden.

„Mich lass aus dem Spiel. Ich mache das, was ich für richtig halte. Meine Zigaretten sieht man in meiner Lunge, den Rotwein in Thomas' Leber – und deine unzähligen Tassen Kaffee, Charlotte, sollen die doch färben, was sich ergibt.“ Sebastian dachte daran, dass er sicherlich zum Rauchen vor die Tür gehen musste. Größere Gesellschaften, bei denen sich nicht einer zu rauchen traute, kamen immer mehr in Mode. Das schien für ihn der Grund zu sein, warum es gesellschaftsfähig geworden war, wenn Frauen öffentlich auf der Straße rauchten.

„Ein Glas mit gutem Wein verbindet die Menschen mehr mit einander als ein gesundes Glas Buttermilch.“

„Hast du deine Philosophie deinem Weinhändler schon für Reklamezwecke angeboten?“ Charlotte meinte es ernst. Den Vergleich mit der Buttermilch fand sie gut. Sie schaute manchmal nur die Werbung im Fernsehen an. Wenn der Film weiterlief, stand sie auf, und suchte sich eine kleine Arbeit. Es faszinierte sie, wie viele Menschen sich Mühe machten, so kurz und gut wie möglich etwas anzupreisen. Schwäche und Unwahrheit schien es in der Werbung nicht zu geben. Heile Welt im Sekundentakt nannte sie es. „Sicherlich gibt es nachher noch einen Imbiss.“ „So hat man es früher auf dem Land gehalten. Kaffee und Kuchen, dann Bratwurst und Kartoffelsalat. Es wird nicht gerade Bratwurst geben.“

„Auf dem Land betete man auch noch gemeinsam beim Leichenschmaus für den Verstorbenen“, sagte Pfarrer Henders hinter ihr. Er war zu ihnen an den Tisch gekommen und bat, sich ein wenig auf Frau Zeises Stuhl setzen zu dürfen. Charlotte rückte zur Seite, und deutete mit einer Handbewegung auf den Stuhl neben ihr.

„Kein leibliches Wohl, ohne den geistlichen Beistand“, dachte Thomas ironisch, machte jedoch ein freundliches Gesicht. Seiner Meinung nach wurden viele weltliche Genüsse durch die Anwesenheit der Geistlichkeit leicht geschmälert. Aus der Kirche ausgetreten war er allerdings nicht. Soweit ging seine Aversion dann auch wieder nicht.

Wilma fragte ihn nach der Bedeutung mit den drei verschiedenen Rosen. Sie ging davon aus, er würde es wissen.

„Das sind die Mitglieder der Freimaurerloge, der ihr Onkel angehörte.“

Dass Onkel Wilhelm Freimaurer gewesen war, wusste sie. Es ging ihr um die Bedeutung der Rosen. Sie hatte sie mit der Loge nicht in Verbindung gebracht.

„Die Rose hat es ganz schön in sich. Um über die gesamte Palette zu sprechen, in der die Rose als Symbol steht, reicht uns die Zeit heute sicher nicht. Doch soweit ich informiert bin, gilt sie bei den Freimaurern als Zeichen für die Vollkommenheit, aber auch auf das Vergängliche hinweisend. Ich persönlich sehe die drei verschiedenen Farben für die Jugend, für das Erwachsensein und das Alter. Ob es in der Loge so ausgelegt wird, kann ich nicht genau sagen. Die Rose ist ebenso das Symbol für Geheimnis. Denken sie an den Geheimbund der Rosenkreuzer zum Beispiel. Auch sie hatten die Rose zum Symbol erwählt. Das unter der Rose Gesagte galt als absolut vertraulich. Die Rose als Symbol ist ein nahezu unerschöpfliches Thema.“ Pfarrer Henders holte kurz Luft. Er lächelte etwas verlegen. „Ich wollte Ihnen jedoch keine Lehrstunde erteilen.“