Blauköper

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Blauköper

Kriminalroman

Barbara Kreuter

Blauköper

Enzo Pellegrini hebt zweihundertfünfzigtausend Euro, die ihm unerklärlicher Weise auf seinem Konto gutgeschrieben worden sind, ab und fährt mit dem Fahrrad nach Hause.

Er beobachtet, wie sein Vater in Handschellen von der Polizei abgeführt wird. Die Staatsanwaltschaft hat sich sorgfältig auf diesen Zugriff vorbereitet. Sie verhaftet ein wichtiges Mitglied der Mafia.

Enzo, der in die Aktionen der Mafia nicht eingebunden ist, könnte zwar die Herkunft des Betrages erklären, jedoch schlecht die Tatsache, warum er das Geld abgehoben und in seinem Rucksack hat. Er beschließt, sich der Situation zu entziehen und fährt zum Bahnhof, um mit dem Zug nach München zu kommen. Hier hat er die Adresse von einem alten Bekannten seines Vaters. Filippo Molajoni erinnert sich an die Verbindung. Er verhilft Enzo Pellegrini zu einer neuen Identität. Er arrangiert die Trauung mit Beatrice Taubner. Aus Enzo Pellegrini wird Otto Taubner.

Die Zwangsheirat entwickelt sich zu einer Romanze. Beide verlieben sich in einander. Sie erleben eine schöne Zeit.

Als Gegenleistung muss sich Otto Taubner in die Unternehmungen von Molajoni einbringen. Ein Team von vier Männern arbeiten schon einige Zeit für Molajoni. Einer hat sich zurückgezogen, diesen gilt es zu ersetzen. Otto Taubner recherchiert allerdings, wie sein Vorgänger, was es mit den Transporten, die sie zu erledigen haben, auf sich hat.

Köperblau, die Farbe von bestimmten Arbeitsanzügen spielt in der Erinnerung an seine Heimat eine wichtige Rolle. Er dokumentiert sie in einer Graffiti-Zeichnung.

© Barbara Kreuter

Otto und Beatrice Taubner

Otto Taubner - Enzo Giuseppe Pellegrini ist sein richtiger Name. Sein Vater, Giuseppe, ist ein wichtiges Mafiamitglied in der Umgebung. In der Hierarchie nicht gerade der Boss der Bosse, er bestimmt oben trotzdem entscheidend mit.

Es geht gut. Man meint, das Glück gepachtet, genau genommen gekauft zu haben.

Er wird in der Familie der Schweizer genannt. Er hört es nicht gern.

Sein Schwiegervater hatte ihn seinerzeit so bezeichnet. Es war ihm nicht recht, dass seine Tochter diesen Pellegrini heiraten wollte. Er versuchte es ihr massiv auszureden. Alle Pellegrinis sind einmal aus der Schweiz gekommen. Er verwies auf die großen Familienclans der Pellegrinis hin, die seinerzeit als Architekten und Baumeister in ganz Europa erfolgreich tätig gewesen waren. So etwas brauchen wir in unserer Familie nicht, wie brauchen handfeste Kerle. Maria hatte ihren Willen durchgesetzt und Giuseppe Pellegrini geheiratet. Ihr Vater wollte Stärke zeigen und richtete für seine Tochter und dem Schweizer eine großartige Hochzeit aus, von der noch einige Jahre erzählt wurde.

Es kamen zwei Söhne, Enzo und Luciano, zur Welt.

Giuseppe Pellegrini hat noch zwei Brüder. Gino, der ein großes Installationsgeschäft betreibt. Und Mario, der reichste von ihnen, besitzt ein Bauunternehmen, das sich um Aufträge nicht bemühen muss. Sie sind nicht nur erfolgreiche Handwerker und Unternehmer, sie sind eng mit der Mafia verstrickt.

Nach und nach lässt sich Giuseppe Pellegrini in die Mafiamachenschaften einbinden. Alle großen Dinge fangen klein, nahezu unscheinbar an. In der Familie Giuseppes wird nichts davon erwähnt. Man weiß es, spricht es jedoch nie offen aus. Offiziell handelt er mit Särgen aller Preisklassen und mit gebrauchten Schränken. Auch hier gibt es enorme Unterschiede, was die Originalität und den geforderten Preis betrifft.

Die Bestattungsinstitute, teilweise von weither, kaufen bei ihm ein. Pellegrini entwirft von Zeit zu Zeit neue Modelle. Sein ausgesucht guter Geschmack bedient sowohl die Angehörigen, die nicht so viel Geld ausgeben wollen, als auch die, die Prunkmodelle bei der Beerdigung zur Schau stellen möchten.

Er lässt sie bei einem Schreiner, der nur für ihn arbeitet, anfertigen. Pellegrini selbst setzt an die linke untere Seite des Sarges mit einem kleinen Stemmeisen sein Zeichen. Auf diese Dokumentation legt er großen Wert.

Es gibt auch gebrauchte Schränke bei ihm zu kaufen. Diese nimmt er entweder in Kommission, oder erwirbt sie vom Anbieter sofort. Je nach Überzeugung. Der Lagerbestand scheint auch eine Rolle zu spielen. Kein Stuhl, keine Kommode oder ein Bild kommen jemals in sein Verkaufslager. Auf die verschiedenen Fragen antwortet er immer: „Ich habe zwei Beine, zwei Arme, also auch nur zwei Artikel. Das genügt.“

Er selbst ist so gut wie nie im Laden. Er beschäftigt zwei zuverlässige Angestellte, die sich darum kümmern, dass jeder nach seinen Wünschen bedient wird. Lediglich das Signum auf den Särgen lässt er sich nicht nehmen.

Um seinen großen Absatz zu dokumentieren, kommt einmal in der Woche ein großer Lastwagen und holt Särge und Schränke ab. Die Nachbarn sehen es, mehr will er nicht.

Sein Freund, Luigi, handelt mit Urnen. Von Anfang an haben sie beide das abgesprochen und haben sich gegenseitig nie behindert. Luigi bietet ihm sein Geschäft mit den Urnen an. Er will sich verändern, es zieht ihn in den Süden. Er will nach Kalabrien, zur Ndrangheta.

Giuseppe stimmt dem Vorschlag sofort zu. Über den Preis werden sie sich schnell einig. Die Feuerbestattungen nehmen auch beachtlich zu. Vor Jahrzehnten war es von der Kirche noch nicht erlaubt, oder nur geduldet worden.

Er will das Sortiment von Luigi übernehmen. Außerdem kennt er einen guten und bezahlbaren Metalldesigner. Es steht für ihn fest, dass er das Sortiment erweitern will. Er zeichnet bereits Entwürfe für verschiedene Urnen, behält sie allerdings noch verschlossen in seinem Tresor. Um die Buchhaltung kümmert er sich ganz allein. Er nennt es ‚vorbereitete Buchhaltung für den Steuerberater‘. Der Steuerberater ist ein Freund von ihm, und so hat es sich eingespielt, dass er auch die Wareneingangsrechnungen nicht im Original zur Einsicht übergeben muss. Seine Angaben sind gültig und werden so verbucht.

Einmal im Monat darf seine Nichte kommen, und die Rechnungen am Computer schreiben. Das Layout für sein Briefpapier hat er zwar selbst entworfen, sich dann aber mit ihr abgestimmt.

Beide sind damit sehr zufrieden. Es kann für Särge und Schränke verwendet werden, ohne dass ein Artikel im Logo erwähnt wird.

Seinen Söhnen richtet Giuseppe Pellegrini, sobald es rechtlich genehmigt ist, eigene Konten mit eigenem Verfügungsrecht ein. Er will, dass sie bald lernen, mit ihrem Geld selbstverantwortlich umzugehen. Er überweist ihnen regelmäßig bestimmte Beträge, hat dann allerdings für Sonderwünsche kein offenes Ohr.

Enzo Pellegrini holt sich wöchentlich die Kontoauszüge von der Bank ab. Er fühlt sich sehr bestätigt. Die Abhebungen halten sich in Grenzen. Die Summe auf dem Konto wächst beachtlich.

Etwas hat sich geändert. Es ist nun schon das vierte Mal, dass eine große Summe gutgeschrieben wird, die nicht von seinem Vater kommt. Eine Milchgenossenschaft aus dem Norden überweist Beträge unter Aufführung der Rechnungsnummer. Er kennt keine Milchgenossenschaft, und hat auch nie eine derartige Rechnung ausgestellt.

Er sucht und findet im Internet die Genossenschaft, die auf dem Kontoauszug genannt wird. Er ruft dort an und will sich mit der Buchhaltung verbinden lassen. Zunächst versucht die Telefonistin ihn abzuwimmeln, als wäre er ein Vertreter. Enzo Pellegrini versteht es, ihr klar zu machen, dass er mit jemanden von der Buchhaltung sprechen will, ohne ihr einen konkreten Grund zu nennen. Sie gibt nach. Allerdings mit der Bemerkung, dass es in ihrem Haus so nicht üblich ist.

Er wird mit einem Mann verbunden, dessen Namen er nicht versteht. Dieser lässt ihn gar nicht erst zu Wort kommen, er fragt nach den Rechnungsnummern, um die es geht. Dies kann Enzo sofort beantworten, die Kontoauszüge hat er vorbereitet neben sich liegen. Der Mann von der Genossenschaft meint verwundert, dass alles seine Richtigkeit hätte, die Rechnungen liegen bei ihm im Original vor. Er, Enzo Pellegrini wäre der Rechnungssteller und sie haben die Warenlieferung als sehr zufriedenstellend entgegengenommen. Sie würden ihm zu gegebener Zeit neue Aufträge erteilen. Pellegrini bedankt sich herzlich und entschuldigt sich für die Mühe, die er ihm bereitet hat.

Er wird recherchieren müssen, ob es einen zweiten Enzo Pellegrini gibt. Es gibt sicherlich unzählige Enzo Pellegrinis in Italien. Einer wird wohl mit Milchwirtschaft im großen Stil zu tun haben. Irgendwann wird sich das ganze auflösen. Der andere Pellegrini will seine Rechnungen bezahlt haben. Es wird sich auch klären, wo der Zahlendreher liegt, ob auf dem Rechnungsformular oder bei der Buchhaltung der Genossenschaft.

Enzo Pellegrini wird von dem Direktor seiner Bank angerufen.

Der Direktor bittet ihn sehr bestimmt um ein Gespräch. Er erklärt ihm, dass es zu seinen Aufgaben gehört, die Konten seiner Kunden zu überprüfen. Er redet sich so heraus, dass es um den Schutz der Kunden geht. Er hat nun festgestellt, dass auf dem Konto von Enzo Pellegrini mittlerweile neu zweihundertfünfzigtausend Euro auf der Habenseite verbucht worden sind, von den regelmäßigen Überweisungen seines Vaters abgesehen.

Er rät zur Umbuchung. Er bietet ihm eine profitable Anlage an, die nahezu maßgeschneidert für ihn ist. Enzo hört den misstrauischen Unterton in der Stimme des Direktors. Der Direktor sieht den Absender des Geldes, und weiß zugleich, dass Pellegrini mit einer Milchgenossenschaft nichts zu hat. Er ist Student.

Er übergeht ihn mit größter Selbstverständlichkeit und verspricht ihm, darüber nachzudenken. Er wird sich in den nächsten Tagen melden. Der Direktor bedankt sich überschwänglich, als er hätte er von Pellegrini eine zufriedenstellende konkrete Zusage erhalten.

 

Enzo kommt mit Nachdenken nicht weiter. Jedes Mal, wenn er sich ein Gespräch mit dem Bankdirektor vorstellt, befällt ihn ein komisches Gefühl. Seit er denken kann, haben sich beklemmende Gefühle bei ihm als zwingende Absage für richtig erwiesen.

Er geht zur Bank, und möchte den Direktor ohne Termin, ohne Anmeldung sprechen. Die Dame am Empfang drückt offen ihr Unverständnis aus, wie er auf die Idee kommt, beim Direktor ohne Termin vorgelassen zu werden. Während sie um Worte ringt, stellt sich Pellegrini die Frage, wieviel verdient die Bank an ihren Kunden, wenn sich die Empfangsdame, und die verkörpert sie im wahrsten Sinn des Wortes, so ein Outfit leisten kann. Vielleicht sollte er generell die Bank wechseln. Sich aber auch dort die Ausstattung im Vorfeld ansehen. Dass sie mit ihrem gepflegten Aussehen die Zuverlässigkeit ihrer Bank dokumentieren soll, daran denkt er nicht. Er ärgert sich über ihre Überheblichkeit, die ihn zum Bittsteller machen will.

Zufällig kommt der Direktor persönlich aus dem Besprechungsraum. Er kann Enzo Pellegrini schlecht übersehen und begrüßt ihn überzogen freundlich. Enzo fragt ihn, ob er nicht ein paar Minuten Zeit für ihn hat. Natürlich hat der Direktor Zeit. Bei zweihundertfünfzigtausend Euro hat er Zeit. Er hat gestern für sich die Summe in Lire umgerechnet. Ein gigantischer Betrag. Er bittet Enzo in sein Büro. Die Dame am Empfang ist entsetzt, sie dreht sich um und sieht demonstrativ aus dem Fenster. Ihre Autorität wurde völlig außer Acht gelassen wird.

Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln teilt Enzo Pellegrini dem Direktor mit: „Ich möchte das Geld, die gesamte Summe in bar abheben. Ich meine nur die zweihundertfünfzigtausend. Den Altbestand lasse ich stehen. Wie schnell können Sie dies veranlassen?“

Er hat diese Version vorher nicht einmal im Entferntesten in Erwägung gezogen. Was soll er mit so viel Geld zu Hause? Notfalls könnte er ein Bankfach, vielleicht bei einer anderen Bank, mieten. Er wundert sich über sich selbst, mit welcher Sicherheit er fordert: „Geben Sie mir mein Geld.“

Der Bankdirektor ringt um Haltung. Hat er sich verhört, ist Enzo Pellegrini am helllichten Tag betrunken, oder liegt er selbst zu Hause im Bett und träumt? Irgendetwas muss er antworten: „Für so eine Summe benötige ich ein paar Tage. Ich muss das Geld erst bestellen. Für so eine hohe Summe brauche ich die Zustimmung vom Vorstand. Ich muss einen Grund angeben. Ich muss erklären, warum ich nicht fähig bin, Sie zu überreden, das Geld bei unserer Bank zu lassen. Haben Sie tatsächlich einen triftigen Grund, das ganze Geld abzuheben?“

„Ja, den habe ich.“ Pellegrini antwortet souverän, als würde er so etwas mehrmals im Jahr erledigen. Er sieht dem Bankdirektor direkt ins Gesicht. Ein bisschen weiten sich dessen Pupillen. Er kennt den Grund zwar noch nicht, nicht in diesem Augenblick, aber er ist sich sicher.

„Wieviel Zeit benötigen Sie, bis das Geld zur Abholung bereit ist?“

Der Direktor sieht seine Situation als chancenlos. Er kennt auch Enzo Pellegrinis Vater. Er meint, dass, nachdem der Vorstand unterrichtet ist, das Geld in drei Tagen zur Verfügung steht.

„Gut, heute ist Dienstag. Wenn wir nichts anderes voneinander hören, komme ich am Freitag, um zehn Minuten nach zehn Uhr zu ihnen. Der Diskretion wegen, ich gehe davon aus, dass das Geld mir hier in ihrem Büro ausbezahlt wird. Eine Abwicklung am allgemeinen Schalter wäre doch etwas peinlich.“ Der Direktor empfindet diese Bemerkung als Beleidigung, das ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Wie kommt er dazu, sich von einem Studenten Benimmregeln im Bankwesen erteilen zu lassen?

Enzo Pellegrini steht auf, gibt dem Direktor die Hand. Auf die übliche kleine Verbeugung verzichtet er.

Eine alte Kultregel sagt:

Ein Italiener benützt zum Zigarettenholen oder um bei der Bank Geld abzuheben das Auto. Er geht weder zu Fuß, noch fährt er mit dem Fahrrad. Eventuell verbindet er das Ganze mit einem Ausflug auf seiner Vespa.

Enzo Pellegrini zieht sich am Freitagmorgen eine schwarze Hose und sein bestes weißes Hemd an, poliert noch einmal seine Schuhe. In einem Abstellraum sucht er seinen Fahrradhelm. Er meint schon, dass er nicht mehr vorhanden ist. Dann entdeckt er ihn zwischen seinen alten Rollschuhen. Diese hätte man schon lange wegwerfen können. Sein Fahrrad ist in einem eigenen Raum. Auf den hatte Mutter bei Umbauarbeiten bestanden.

Er hat sich seit Dienstag damit beschäftigt, wieviel Volumen zweihundertfünfzigtausend Euro ausmachen. Den Direktor anzurufen, dazu war er zu eitel. Er misst, zeichnet und rechnet. Er geht davon aus, dass der Betrag in großen Scheinen geliefert wird. Er hat sich für einen großen schwarzen Rucksack entschieden, und noch einen Sicherheitsgurt besorgt. Mit dem will der den Rucksack an seinem Körper zusätzlich festbinden.

Ohne jemand Bescheid zu sagen, fährt er mit dem Fahrrad zur Bank.

Obwohl die Sonne heute nicht klar scheint, Wolken ziehen auf, nimmt Enzo seine Sonnenbrille mit. So erscheint er in der Bank.

Die Empfangsdame ist vom Direktor dementsprechend angewiesen worden. Sie strahlt ihn an, scheint nicht einmal zu bemerken, dass Enzo den Fahrradhelm nicht abgesetzt hat. Als wäre es das Alltäglichste der Welt, dass Bankkunden mit Helm und Rucksack am Freitagvormittag kommen und eine große Summe Geld abholen.

Der Direktor kommt sofort, sie hat ihn per Knopfdruck informiert, und begrüßt Enzo Pellegrini ausgesucht höflich. Er führt ihn in sein Büro. Es geht alles sehr schnell. Der Direktor übergibt Pellegrini geprüfte und plombierte Geldpakete. Die Päckchen zählt er als Einheiten vor, und lässt sie sich von Pellegrini bestätigen.

Dieser packt alles in den Rucksack, den er in der Zwischenzeit vom Rücken genommen hat. Den Fahrradhelm abzunehmen, hält er nicht für notwendig. Er meint, er gehört zu seinem sportlichen Outfit.

Der Direktor schluckt. Das Schlimme an dem Ganzen ist, er kann es niemand erzählen, was er zum ersten Mal erlebt. Er muss das Bankgeheimnis einhalten, sonst wird er für andere unglaubwürdig.

Pellegrini schnallt sich sorgfältig den Rucksack um, und verabschiedet sich. Im Foyer winkt er betont höflich der Signora zu.

Es sind maximal fünfzehn Minuten Fahrtstrecke bis zu seinem Elternhaus. Erst jetzt stellt er fest, dass er nicht darauf geachtet hat, ob ihn jemand beobachtet und verfolgt hat. Jetzt ist zu spät. Er muss souverän bleiben. Unsicherheit macht ihn verletzbar.

Er sieht schon das Haus. Er erschrickt. Ein großes Polizeiaufgebot mit blinkenden Blaulichtern steht vor dem Haus. Es sind mindestens sechs Autos, zwei Kombis stehen direkt in der Einfahrt. In diesem Augenblick wird sein Vater von zwei Beamten, mit Handschellen gesichert, aus dem Haus geführt. Der Anblick trifft ihn. Sein Vater ist der Patrone. Die Familie liebt ihn nicht nur, er ist der Chef. Und nun ist er machtlos, gedemütigt. Er muss sich den Anweisungen der Beamten fügen.

Er steht noch mit seinem Fahrrad auf der gleichen Stelle. Langsam wird ihm klar, was geschehen ist. So lebensfremd ist er nicht, dass er nicht weiß, was das zu bedeuten hat. Der Zugriff erfolgt seit Jahren nur, wenn sich die Staatsanwaltschaft ganz sicher ist. Sich täuschen behindert die Karriere des anweisenden Staatsanwaltes, sie beendet alles. Er weiß auch, wie die Regierung mit diesen Fällen, wenn es zur Verurteilung kommt, konkret mittlerweile umgeht. Sie konfiszieren das Gebäude und alle vorhandenen Immobilien, alle Bankkonten, die fassbar sind. Die Zeitungen sind voll von den Berichten, wie diese gemeinnützigen Einrichtungen zugeführt werden. Es geht so weit für Enzo in Ordnung. In der Vergangenheit. Nur, jetzt geht es um die Gegenwart, seine Existenz. Er ist mitten im Studium. Selbst wenn sie ihn nicht verhaften, seine Einnahmequelle, das Vermögen seines Vaters ist weg, wird anderen zukommen.

Er sitzt auf seinem Fahrradsattel, mit einem Fuß stützt er sich ab. Wenn er jetzt zum Haus fährt und wie selbstverständlich hineingeht, ist nichts dabei. Da ist jedoch der Rucksack auf seinem Rücken, mit zweihundertfünfzigtausend Euro.

Er klärt seine Situation. Er hat seinen Reisepass dabei, den hatte er vorsichtshalber mit zur Bank genommen. Obwohl er dort persönlich bekannt ist, kann es sein, dass sie ein offizielles Dokument sehen möchten. Er hat seine Brieftasche, mit Scheckkarte, dabei. An Bargeld sind es ungefähr einhundert Euro. Sein Smartphone ist im Rucksack, das Ladekabel in seinem Zimmer.

Die Polizeiautos sind mittlerweile alle wieder weg. Die neugierigen Passanten, die sofort in einem großen Haufen stehengeblieben sind, laufen weiter. Es ist nicht das erste Mal, dass man so ein Polizeiaufgebot beobachten kann.

Er traut dem Frieden trotzdem nicht. Er entscheidet sich, nach Deutschland zu fahren. Zumindest für eine gewisse Zeit.

Enzo dreht sich um und schiebt sein Fahrrad in Richtung Fußgängerzone. Hier kauft er sich im ersten Handyladen ein Aufladekabel. Beim nächsten Geschäft steht ein Kleiderständer mit Herrenjacken vor der Tür. Dass sie im Preis stark reduziert sind, interessiert ihn im Augenblick nicht. Er wählt ein schwarzes Jackett aus. Dem Verkäufer sagt er, er möchte es jedoch unbedingt probieren. In der Umkleidekabine nimmt er den Rucksack und den Sicherheitsgurt ab, und zieht das Sakko an. Dann schnallt er sich den Rucksack wieder um. So kommt er aus der Kabine und bezahlt es mit Karte. Wenn nicht seine Karte gesperrt wird, reicht es eine Zeitlang. Er hat nur die zweihundertfünfzigtausend abgehoben. Wie vereinbart, hat er die von ihm angesparte Summe, zur sichtlichen Erleichterung des Direktors, auf dem Konto gelassen.

Enzo Pellegrini denkt kurz daran, sich auch mit Unterwäsche zu versorgen. Er verwirft den Gedanken sofort wieder. Das wäre alles zu umständlich, mit Fahrrad, mit dem Helm am Kopf, die Sonnenbrille hat er noch auf, und dem Rucksack mit dem Geld.

Er schiebt weiter, hofft von niemand erkannt und angesprochen zu werden. Den Rucksack und mit dem Fahrrad in der Fußgängerzone zu erklären, danach ist ihm im Augenblick nicht. Er kommt zum Taxistand und sieht fünf wartende Wagen in der Schlange stehen. Die letzten drei Fahrer sind aus ihren Autos gestiegen und unterhalten sich. Enzo stellt für sich fest, wenn sie jeden Tag hier stehen und auf Fahrgäste warten, wird es wohl auch fast jeden Tag dasselbe sein, über was sie sprechen.

Er schiebt sein Fahrrad in eine kleine Seitengasse. Neben einer Reihe von Mülltonnen stellt er es ab. Zieht seinen Helm ab, hängt ihn an den Lenker. Er berührt nochmals kurz den Sattel, nimmt Abschied und geht zum ersten Taxi. Er gibt den Bahnhof als Ziel an.

Bevor der Fahrer startet, weist er Enzo daraufhin, dass das Kartenlesegerät nicht funktioniert. Enzo winkt ab, zieht seine Brieftasche heraus, öffnet sie und zeigt dem Fahrer das Geld. Der nickt.

Enzo Pellegrini fährt nicht oft mit dem Zug. Er geht zum Auskunftsschalter und lässt sich beraten. Die junge Frau gibt sich Mühe, die beste Verbindung nach München herauszufinden. Sie findet einen Zug, der in einer halben Stunde einfährt. Sie liest weiter auf dem Monitor und lächelt, als wäre es ihre persönliche Reise. „Das ist ungewöhnlich. Es ist bis München, Sie müssen nicht einmal umsteigen, ein besonderer Wagen angehängt. Das heißt, Sie können, wenn Sie möchten, ein Abteil für sich allein buchen. Bei diesem Abteil ist eine eigene Toilette und es wird auf Bestellung vom Speisewagen aus serviert.“ Sie lächelt etwas verlegen, errötet leicht. „Es ist etwas teurer.“ Ohne zu überlegen und nach dem Preis zu fragen, entscheidet sich Pellegrini für diese Version. Er betrachtet es als gute Fügung, dass das Abteil auch noch nicht belegt ist. Er bezahlt mit Karte und bedankt sich für ihre Mühe. Sicherlich hätte ihn ein Taxi zu diesem Preis auch nach München gefahren, inclusive Stopp in einer guten Autobahnraststätte. Im Augenblick hat er sich für eine Zugfahrt entschieden, die er so noch nicht erlebt hat.

Als der Zug im Bahnhof einfährt und hält, erkennt er seinen Wagon sofort. Sie haben ihn dekorativ mit der Italienischen Flagge bemalt. Als er den Griff der Tür berührt, wird diese von einem Steward geöffnet, er wird sehr höflich begrüßt. Um den Mann nicht in Verlegenheit zu bringen, zeigt er sofort sein Ticket. Der Steward möchte Pellegrini den Rucksack abnehmen, dies lehnt er dankend ab. Der Steward geht vor und führt ihn zu seinem Abteil.

Enzo Pellegrini ist überrascht, so viel Luxus hat er nicht erwartet. Ein Abteil für sich allein, und eigener Toilette, ja. Aber dies hat sich die Bahn etwas kosten lassen, und viel Geschmack bewiesen. Das will sie sich jetzt über den Fahrpreis zurückholen. Pellegrini empfindet das als durchaus legitim. Er hätte genauso gut Touristenklasse wählen können.

 

Der Steward überreicht ihm die vorbereitete Speisekarte und zeigt ihm den Knopf, mit dem der Service gerufen werden kann. Pellegrini bedankt sich, er gibt dem Mann fünf Euro Trinkgeld. Er denkt daran, dass Italien zwei Euro Scheine einführen möchte. Man ist von den Lirezeiten her gewöhnt, Papiergeld als Trinkgeld zu geben. Münzen sind vielen peinlich. Nur, zwei Euro hätten in diesem Fall auch genügt. Der Steward scheint fünf Euro als normal zu sehen. Er bedankt sich nicht einmal andeutungsweise überrascht.

Pellegrini legt seinen Rucksack in einen der Sessel, und sieht sich das Abteil und die Toilette genauer an. Es ist alles für sich geschlossen eingebaut und keine Platte der Vertäfelung lässt sich verschieben. Er hat einmal im Urlaub in einem neuerbauten Hotel gewohnt, und festgestellt, dass eine Platte im Bad, mit etwas Geschick, aus dem Rahmen zu nehmen war. Er hatte nur aus Spaß oder aus Langerweile an der Platte herumgedrückt und dann ihre Beweglichkeit festgestellt. Die Platte ließ sich bequem herausnehmen, und er hätte leicht durch die Öffnung in das Nachbarbad gelangen können. Es war ihm peinlich gewesen. Er hätte nicht beweisen können, dass dies alles nur ein Zufall war. Daraufhin hat er den Safe in seinem Zimmer in Anspruch genommen. Die Benützungsgebühren waren relativ hoch, die hätte er sich sparen wollen.

Pellegrini sucht sich aus den drei vorgeschlagenen Menüs eines aus und drückt den Knopf. Hat der Steward vor der Tür gewartet? Er klopft kurz und kommt herein. Der Steward serviert in kurzer Zeit die Menüfolge und wünscht ihm einen guten Appetit. Beim letzten Gang bittet Pellegrini ihn mit dem Abservieren so lange zu warten, bis er läutet. Er möchte sich Zeit lassen und entspannen. Pellegrini möchte sich ausruhen und das Erlebte sortieren. Es war zu viel, und wird sich auch nicht in den nächsten Stunden aufarbeiten lassen. Er steht auf und möchte die Abteiltür verschließen. Bevor er sie erreicht hat, wird diese aufgeschoben. In der Tür steht eine Frau. Sie schaut ihn verdutzt an, fängt sich sofort und lächelt: „Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich in der Tür geirrt.“ Sie schiebt die Tür langsam und behutsam zu.

Pellegrini hat die Frau nur ein paar Sekunden gesehen, und doch erinnert sie ihn, in ihren Gesichtszügen, an die Schwester seines Vaters. Sie war etwa so groß wie er. Die schwarze Hose und das dunkelgraue Oberteil haben ihre gute Figur betont. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre es ihm angenehm gewesen, sich mit ihr zu unterhalten.

Er geht zur Tür, öffnet sie und schaut auf den Gang. Die Frau ist nicht zu sehen. Ist sie Passagierin des Nachbarabteils? Er ist nervös. Schwache Nerven kann er sich in seiner Situation nicht leisten. Da muss er noch üben. Er verriegelt die Tür sorgfältig, überprüft, ob sie auch wirklich nicht zu öffnen ist.

Er erinnert sich an eine Kinderrätselfrage. Es klopft an der Tür eines Hotelzimmers, ein Mann steht im Türrahmen und sieht, dass jemand im Raum ist. Er entschuldigt sich mit den Worten: „Entschuldigen Sie bitte, ich dachte, es ist mein Zimmer.“ Die Frage war, was ist falsch an der Situation? Die Antwort ist, man klopft nicht an der eigenen Tür. Es deutet darauf hin, ein Hoteldieb wollte sehen, ob die Tür verschlossen und jemand im Zimmer ist.

In diesem Augenblick weiß Enzo Pellegrini noch nicht, dass die Frau Beatrice Taubner ist.

Nach einer Stunde leichten Schlafes öffnet Pellegrini seinen Rucksack und entnimmt ein Päckchen Geldscheine. Er bricht das Siegel und steckt sich fünfhundert Euro in seine Geldtasche. Kleingeld hat er vorerst so gut wie keines mehr. Dem Steward wird er nichts geben, er wird ihn auch so schnell nicht mehr wiedersehen.

Trotz seiner ungewöhnlichen Reise freut Pellegrini sich auf München. Hier kennt er sich einigermaßen gut aus. Er war mit seiner Mutter öfters in München gewesen. Wenn Vater besonders gute Laune hatte, schickte er seine Frau nach München zum Einkaufen. „Hier brauchen sie es nicht zu wissen, was wir uns leisten können.“

Enzo Pellegrini spricht völlig akzentfrei Deutsch. Er und sein Bruder wuchsen bis zum zwölften Lebensjahr mit einem Kindermädchen aus Südtirol auf. Sie durfte im Haus, speziell in Gegenwart der Kinder nur Deutsch sprechen. Spaßhaft hatte ihr Giuseppe Pellegrini gedroht, für jedes italienische Wort einen Betrag vom Gehalt abzuziehen. Dies nahm sie sehr ernst. Sie hatte sich auch sehr darum bemüht, auf ihren Heimatdialekt zu verzichten.

Als der Zug in München eintrifft, ist es schon spät. Er geht in eines der umliegenden Hotels, die vierundzwanzig Stunden an der Rezeption besetzt sind, und bucht für eine Nacht. Er sieht den leicht skeptischen Blick des Portiers auf seinen Rucksack. Er bietet ihm an, im voraus zu bezahlen. Der Mann hüstelt leicht und entschuldigt sich verlegen, nimmt jedoch das Angebot an, und nennt den Zimmerpreis.

Pellegrini betritt sein Zimmer. Das Hotel ist keine Absteige, die Ausstattung entspricht durchaus dem Preis. Er ist müde. Trotzdem bemüht er sich das kleine Möbel neben dem Bett hochzuheben, jegliches Geräusch vermeidend, und vor die Tür als zusätzliche Sicherung zu stellen. Er schläft erstaunlich gut in dieser Nacht. Am Morgen benützt er, das erste Mal in seinem Leben, im Bad die bereitgelegten Einwegpflegeutensilien des Hauses. Das Nachtkästchen schiebt er nur zur Seite, so dass sich die Tür öffnen lässt. Was sich das Zimmermädchen nachher denkt, ist ihm egal.

Mit seiner Mutter hat er immer in der gleichen kleinen Pension gewohnt. Er weiß noch die Adresse. Mit einem Taxi fährt er dort hin. Der Taxifahrer macht einen Umweg. Als sie das zweite Mal am gleichen Gebäude vorbeikommen, meint Pellegrini, er hätte zu der angegebenen Adresse gewollt, und keine Stadtrundfahrt gebucht. Der Fahrer gibt ihm keine Antwort. Ganz schnell sind sie vor der Pension. Pellegrini bezahlt mit einem Fünfzig Euroschein und lässt sich den Restbetrag auf den Fahrpreis genau ausbezahlen. Der Fahrer hat es diesem Fall auch nicht anders erwartet.

Die Pension ist geöffnet. Es wundert ihn, dass ein Familienbetrieb mit zwanzig Zimmern sich auf Jahre in der Großstadt halten kann. Es scheint bestens zu funktionieren. An der Rezeption steht eine ältere Dame. Sie ist jetzt wohl die Seniorchefin. Er erkennt sie sofort. Sie ihn nicht, es sind ein paar Jahre her, dass er nicht mehr hier war. Pellegrini stellt sich vor. Sie schaut ihn prüfend an. „Ja, natürlich. Enzo. Du bist erwachsener geworden.“ Sie kommt hinter ihrem Pult hervor und umarmt ihn herzlich. Es tut ihm gut. Sie spürt in diesem Augenblick seine Unsicherheit, wird jedoch nie darüber sprechen.

Enzo erzählt ihr, er hätte ein paar Monate in München zu tun. Um sich eine Wohnung zu suchen, das wäre auch sicherlich aussichtslos, ist der Zeitraum zu kurz. Er möchte gern hier bei ihnen wohnen. Frau Bartenschlager freut sich, und ruft ihren Sohn und ihre Schwiegertochter. Der Sohn kann sich dunkel an Enzo erinnern. Er bietet ihm einen Sonderpreis für die Zeit, die er bei ihnen wohnen will, an.

Pellegrini erzählt, dass ihm sein Gepäck während der Bahnfahrt gestohlen worden ist. Er hat nur noch den Rucksack. Das Ganze ist auch nicht so tragisch. Es waren nur Wäsche und Kleidungsstücke im Koffer gewesen. Das ist zu ersetzen. Seine Kreditkarte, den Pass und sein Smartphone hatte er bei sich am Körper. Die junge Frau Bartenschlager bietet ihm an, er soll sich neue Sachen kaufen, sie würde die Wäsche übernehmen. Sie hätten mehrere Pensionsgäste, die längere Zeit hier wohnen und bei ihnen waschen lassen. Sie sind darauf eingerichtet. Pellegrini stimmt dem gern zu.