Augustes Rosen

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Es gibt menschliche Begegnungen, bedeutende.

Und es gibt Begegnungen,

bei denen sich die Seelen der Menschen berühren,

und nur die Seelen wissen darum.

Wilhelm war mit dem gleichen dunklen Haarschopf wie sein Bruder zur Welt gekommen. In der Statur war er zierlicher. Seine Haut war wunderschön glatt und zeigte keine roten Flecken wie bei Max. Seine Mutter freute sich. Die Geburt war auch wesentlich leichter gewesen. Wilhelm strengte sich an. „Er macht es ihnen leicht“, meinte die Hebamme. „Sie werden sehen, wenn Sie zehn Kinder bekommen, ist jede Geburt anders.“ Zehn Kinder wollten sie nicht haben, aber drei oder vier hatten sie sich vorgenommen.

Als Wilhelm Friedrich wurde er im Standesamt eingetragen. Schon im Krankenhaus war er von allen der Liebling. Die großen Augen hatte er von seinem Vater geerbt. Seine langen dunklen Wimpern wurden von allen bestaunt, mit dem eleganten Schwung der Brauen. Sie waren bei ihm als Neugeborenen schon deutlich sichtbar. Die ungewöhnlich langen Finger, die nicht so recht zu den zierlichen Ärmchen passten, hatte er von seiner Mutter. Seine Mutter, die sonst eine ausgewogene Figur besaß, hatte lange schmale, knochige Finger. Wenn sie schwanger war, und sonst überall kräftig zunahm, die Finger blieben gleich. Andere Frauen litten an Wasseransammlungen in den Händen oder an den Knöcheln, sie nicht. Insgeheim war Mutter auf ihre schmalen Fesseln stolz. Während ihrer Schwangerschaften achtete sie natürlich besonders darauf. Sie massierte mehrmals täglich ihre Fesseln und machte, so oft es ging, kalte Wassergüsse. Dass ihr Körper unförmiger wurde, störte sie nicht. Sie hatten sich die Kinder gewünscht. Es ging ihr gut in den Schwangerschaften. Sie hatte schönes volles Haar. Jetzt legte es sich noch geschmeidiger und glänzte mehr als sonst. Sie genoss alles, mit ihrem Mann. Er befasste sich mit den ungeborenen Kindern in Gedanken viel, interpretierte Zukunftspläne in sie, verwarf sie. Manchmal fragte er sich, ob ihm das überhaupt zustehe? Dann freute er sich wieder einfach auf das Kind. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte eine Schwangerschaft von Natur aus viel länger dauern müssen. Das Geheimnis des sich heranbildenden neuen Menschen faszinierte ihn. Ihn, den realen Kaufmann, der nur den Ist-Zustand akzeptierte.

Seiner Frau ging es ebenso. Wenn sie nur ihre schönen Beine dabei behielt. Aber sie sprach mit niemand darüber. Nach der Entbindung achtete sie wieder auf ihre Figur. Sie wollte so schnell wie möglich wie vorher sein.

Wilhelm ließ sich die Zuneigung seines Bruders Max gefallen. Als er anfing, zu hören und Umrisse zu sehen, lächelte er ihn an. Seine Eltern saßen mit ihm auf dem Arm im Wohnzimmer, als Max an der Hand der Hausgehilfin ins Zimmer kam, und zu den Eltern lief. Wilhelm drehte sein Köpfchen zu ihm hin und lächelte ihn an. Sein erstes bewusstes Lächeln galt seinem Bruder. Seine Eltern nahmen es mit Humor.

Wilhelm tat alles langsamer. Er hatte seinen eigenen Rhythmus. Er schlief länger, er blieb aber auch länger wach. Wenn er schon mal schrie, schrie er länger. Er aß etwas mehr, als es Max in seinem Alter getan hatte. Er konnte jedoch auch einmal eine Mahlzeit ausfallen lassen. Er konnte eben länger auch nichts essen. Man hatte das Gefühl, wenn er etwas tat, widmete er sich der Sache ganz. Er sprach weniger, dafür aber ganze Sätze. Am Anfang hatte er nie die Worte Mama oder Papa gesprochen. Er sagte zu beiden Mama und Papa. Er unterschied jedoch genau. Je nachdem, mit wem er zusammen war, wechselte er die Reihenfolge aus. Was die anderen zu ihm sagten, verstand er alles. Als nach nicht ganz zwei Jahren Maria zur Welt kam, hatte er seinen Lebensrhythmus so in die Familie eingebracht, dass diese, ohne es zu merken, sich nach ihm richtete. Max, der mit seinen vier Jahren schon in den Kindergarten ging, war nicht sonderlich an Maria interessiert. Er baute in dieser Zeit schon Häuser mit seinen Bauklötzchen. Wenn man ihn ließ, türmte er die Sofakissen auf, legte Stühle um, überspannte sie mit Decken. „Ich möchte einmal einen hohen Turm bauen, mit einer Fahne drauf.“, sagte er. Mutter gab ihm ihre bunten Seidentücher. Das waren seine Fahnen. Max ging sehr sorgfältig mit diesen Tüchern um. Sie gingen jedesmal unbeschädigt an sie zurück. Wilhelm bewunderte ihn. Sonst tat er nicht viel. Er saß immer, wenn Max Häuser und Burgen baute, dabei und sah ihm zu. Ganz selten, dass er ihm half irgendwelche Gegenstände herzutragen. Er zerstörte nie, was Max gebaut hatte. Einmal hatte Wilhelm eine Rolle Schnur gefunden. Sie war unbeaufsichtigt auf dem Küchentisch liegengeblieben. Das nützte er aus. Während Max mit seiner Burg und dem Turm beschäftigt war, band er die Schnur um die Stühle. Die Schnur reichte für den ganzen Wohnraum. Keiner konnte sich erinnern, bei wem Wilhelm gelernt hatte, Knoten zu binden. Für den kleinen Kerl waren sie erstaunlich fest.

Als Max in die Schule ging, räumte Wilhelm für ihn den Setzkasten am Abend auf. Er hatte darauf bestanden, dass er das tun durfte. Der Kasten mit den einzelnen Buchstaben hatte es ihm angetan. Max lernte mit dem Kasten Wörter und Sätze stecken, und sie zu lesen. Wenn es nur möglich war, saß Wilhelm daneben und schaute ihm zu. Er kannte zwar das Alphabet noch nicht, merkte sich aber, was die Wörter bedeuteten. Beim Aufräumen sagte er nochmals für sich laut das Wort vor und prägte es sich ein. Er legte es wie in einem Archiv ab. Sah er dann in der Zeitung bei den Überschriften oder auf einem Plakat das gleiche Wort, so laß er es sicher vor. Es gab für ihn keinen Zweifel. Wilhelm konnte mit ganzen Wörtern lesen, bevor er fünf Jahre alt war.

Wilhelm war von Anfang an ein Spieler. Jemand in der Familie musste es ihm vererbt haben. Da in nächster Nähe niemand deutlich auszumachen war, musste sich diese Veranlagung über längere Zeit erhalten haben. Der genetische Fingerabdruck hält sich bis in die vierte Generation. Umwelteinflüsse konnten es nicht sein. Im Hause existierten so gut wie keine Spiele. Ein paar Kinder-Quizspiele, die üblichen Quartette standen zur Verfügung. Alles andere lehnte Vater strikt ab. Er machte daraus nahezu eine Religion. Es wurde musiziert. Erst die Eltern allein, dann mit den Kindern. Mutter hatte eine wunderbare Stimme und eine ausgeprägte Musikalität. Als die Kinder klein waren, sang sie sie jeden Tag in den Schlaf.

Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, summte sie oft eine Melodie vor sich hin. Waren Gäste da, setzte sie sich auch mal ans Klavier, und sang dazu. Die Hausangestellte summte auch, wenn sie allein war. Sie hatte sich die Texte selbst zu ihren Melodien ausgedacht. Unbeobachtet hatte ihr Mutter zugehört. Sie hatte sie nicht darauf angesprochen, war aber über die Frivolität der Texte erstaunt gewesen.

Wilhelm hatte bei einem Kindergeburtstag, zu dem er eingeladen worden war, in der Tombola ein Päckchen mit Würfeln gewonnen. Er hatte zuvor die Preise gesehen und sich ganz darauf konzentriert, dass er die Würfel gewinnen wollte. Die anderen Sachen interessierten ihn nicht. Er gewann sie.

Er schob die Würfel stillschweigend ein. Zu Hause zeigte er sie niemand und versteckte sie sorgfältig in seinem Zimmer. Er hatte verschiedene Würfelspiele bei den Kindern in der Nachbarschaft gelernt. Mitspielen hatten sie ihn lassen, mehr aus Freundschaft. Es ging auch nie um etwas. Aber meistens hatte er verloren. Die anderen spielten viel mehr als er. Seinen Eltern erzählte er nichts davon, geschweige denn äußerte er den Wunsch, selbst Würfel haben zu dürfen. Vater hätte es nicht erlaubt. „Man verbindet sich mit dem Teufel“, hatte er erst wieder zum Thema Spielen gesagt. Er war in anderen Dingen nicht so intolerant. Auch verwendete er sonst in keinem anderen Zusammenhang den Teufel. Der Begriff Teufel war ihm viel zu ernst, als dass er ihn gedankenlos in den Alltag gebracht hätte. Mutter sah es nicht so eng. Sie widersprach jedoch nicht, tat so, als wäre alles gesagt zu diesem Thema.

Wenn sich Wilhelm sicher war, es würde ihn niemand in seinem Zimmer überraschen, holte er die Würfel aus seinem Versteck und würfelte. Er war nun nicht mehr so auf die Nachbarkinder angewiesen. Er spielte nie gegen sich selbst, sondern ließ zwei erfundene Personen gegen einander würfeln. So war er nie Verlierer oder Sieger. Das Spiel zu beobachten machte ihm Spaß. Er fing an, vorher die Augenzahl zu bestimmen. Er versuchte das Fallen der Würfel zu beeinflussen. Er selbst glaubte nie an Hellsichtigkeit, auch später nicht. Er vertraute auf sich und sein Gefühl. An das Gefühl, eine Sache oder ein Ereignis im Vorfeld einschätzen zu können. Mit zunehmendem Alter wurde er sich aber auch der Macht seiner Gedanken bewusst. Mit den Würfeln fing es an. Er sagte laut eine Zahl, dachte an sie, und stellte sie sich optisch auf dem Würfel vor. Dann würfelte er. Er begleitete den Würfel intensiv mit seinen Gedanken bis der Würfel ruhig da lag. Er ließ es bald sein, zwei Parteien gegeneinander spielen zu lassen. Das war es nicht. Es interessierte ihn vielmehr, wie oft der Würfel das zeigte, was er sich gewünscht hatte. Er kam nie auf die Idee, dass das alles zufällig geschehen würde. Er fing an, genau Buch darüber zu führen. Er schrieb sorgfältig Treffer und Fehler auf. Die hohe Erfolgsquote bestätigte ihn in seiner Meinung, seine Gedanken waren kräftig. Dass es überhaupt möglich war, mit Gedanken etwas zu bezwingen. Fehltreffer bezog er auf mangelnde Konzentration.

Als Wilhelm zehn Jahre alt war, wurde er zu Verwandten in die Ferien geschickt. Max durfte zu einer anderen Familie. Die Eltern wollten diesmal mit den zwei Kleinen ein paar Tage allein verreisen. Wilhelm und Max waren von der Idee begeistert. Max war zwölf Jahre alt, und seine Freunde in der Schule waren alle schon in einem Ferien-Schullandheim gewesen. Nur er fuhr immer mit den Eltern. Die beiden wurden gefragt, wer zu welcher Familie wollte. Man hatte es sich ziemlich kompliziert vorgestellt, und mit einem Losentscheid gerechnet. Max entschied sich für die Familie, die auch zwei Jungen hatte. Er sagte es schnell, noch bevor man ihn direkt gefragt hatte. Max kam gar nicht auf die Idee, dass Wilhelm an seiner Stelle zu dieser Familie wollte. Wilhelm war mit der anderen Familie einverstanden. Er wusste, sie hatte keine Kinder. Es war ihm egal. Irgendetwas würde schon los sein.

 

Seine Mutter beobachtete ihn. Sie nahm gerade durch ihre stille Art großen Anteil an ihrer Umgebung. Gab es für sie da nicht genug sehen, hatte sie sich ein Spiel ausgedacht. Sie genehmigte sich einen festgelegten Zeitraum, und beobachtete sich selber. Sie konnte das gut. Sie erledigte ihre Arbeit wie gewohnt, nicht ganz so schnell wie sonst. In Gedanken spielte sie ihren eigenen Zuschauer. Sie zog auch einen tatsächlichen Nutzen aus der Beobachterposition. Manche Eigenart hatte sie sich abgewöhnt. Andere Sachen, in denen sie nicht selbstsicher gewesen war, ließ sie. Manchmal stand sie vor dem Spiegel und redete. So korrigierte sie ihre Mimik beim Sprechen. Sie übte vor dem Spiegel zu lachen. Auch hatte sie bei anderen Menschen die Vermutung „Lachen, vor dem Spiegel gelernt“.

Sie sah es Wilhelm an den Augen an, wenn er auf der Suche war. Die Augen waren ruhiger als sonst. Ihr erschienen sie auch größer. Sie mochte sich täuschen, aber es kam ihr vor, die Pupillen waren dunkler. Wilhelm bewegte sich dann auch langsamer. Sie verglich ihn mit einer Katze, die sich im Kopf vorbereitete, aufs Feld zu laufen, und stundenlang vor einem Mäuseloch zu sitzen. Seine körperliche Geschmeidigkeit verglich sie ebenfalls mit der einer Katze. Optisch waren Katzen für sie geschlechtslos.

Max freute sich auf die bevorstehenden Ferien, und sprach unentwegt darüber. Wilhelm nahm es gelassen

Er war kein Abenteurer. Risiken fürchtete er. Widersprüche sind vorhersehbar, meinte er. Und Gefahren für seinen Körper und sein Leben waren ihm Widerspruch. Von klein an hatte er alles versucht, sich nicht zu verletzen oder unnütz krank zu werden. Ein Tausendfüßler ist krank, wenn ihm ein oder zwei Füße wehtun. Diesen Vergleich hatte er von Einem gehört. Er konnte die Situation des Tausendfüßlers nachempfinden. Mit der Zeit schulte er sich auch, Gefühlsregungen zu registrieren, sie zu unterscheiden.

Irgendwann hatte er heraus, wie er empfand, wenn eine Gefahr bevorstand. Er dachte dann nach, und versuchte die Gefahr zu erkennen, ihr aus dem Weg zu gehen. Zuerst nahm er an, alle Menschen würden das auch so machen. Erst viel später stellte er fest, dass dies nicht so war.

Wenn er mit sich allein war, sagte er laut vor sich hin: „Ich bin glücklich.“ Er sagte es ungefähr seit seinem sechsten Lebensjahr. Er wusste nicht, was er damit genau gemeinte, wenn er es sagte. Er hatte es von den Erwachsenen gehört. Das reichte ihm vorläufig. Das Gefühl tat ihm gut. Im Laufe seines Lebens verlor er diese Angewohnheit. Im Alter erinnerte er sich manchmal daran.

Er war nun einige Tage bei den Verwandten, die selbst keine Kinder hatten, zu Besuch. Es gefiel ihm. Es stand ihm ein eigenes Zimmer zur Verfügung. Sie hatten zur Begrüßung ein großes Blatt Papier auf den Tisch gelegt, und ihm erklärt, dass nun beide Teile, sie und er, in Stichwörtern darauf schreiben würden, was sie gernhätten, und was sie überhaupt nicht leiden konnten. Auf dem Blatt war bereits in der Mitte ein Strich gezogen. Ein Teil für die guten Punkte, der andere für Unerwünschtes. Eine Unterteilung für ihn und das Ehepaar gab es nicht. Da kam alles zusammen. Das hatte ihm bis dahin noch niemand angeboten. Wilhelm war verblüfft, und genierte sich den Anfang zu machen. Die Frau nahm den Stift und schrieb: „Keine Schuhe auf dem Tisch.“ Wilhelm las es, und musste lachen. Das wäre für ihn sowieso nicht in Frage gekommen. Er kam aus gutem Haus, wie Großmutter immer sagte. Er hatte seine Gastgeberin für einen Augenblick in Verdacht, dass sie absichtlich so etwas Ungewöhnliches darauf geschrieben hatte, um ihn zum Lachen zu bringen. Er mochte sie. Sie war ihm von Anfang an sympathisch gewesen. Ihr guter Duft war es, der ihm zuerst auffiel. Er schrieb: „Bitte keinen Heringssalat.“ Der Mann meinte, hier im Haus gäbe es zwar den besten Heringssalat vom Ort, wenn nicht vom ganzen Landkreis, sie würden sich jedoch nach ihm richten. Sonst hätte das Ganze mit dem Aufschreiben wohl auch keinen Sinn. Sie könnten dann wieder Unmengen von Heringssalat essen, wenn er weg wäre. Wilhelm schrieb dann noch: „Zwei Butterbrote mit Johannisbeermarmelade.“ Johannisbeermarmelade liebte er, rote.

Johannisbeermarmelade, er hatte schon befürchtet, sie würden ihm Stachelbeergelee zum Frühstück geben. Die Frau schrieb drunter, auf den guten Teil: „Wenn du drei möchtest, sage es uns bitte.“ Das Blatt wurde bis unten vollgeschrieben. Als letztes schrieb die Frau: „Nicht lügen.“ Wilhelm war verärgert, als er es laß. Das hatte er nicht vorgehabt. Dass sie es überhaupt in Betracht zog. Die Frau sagte aber freundlich zu ihm: „Wir hoffen, dass es gar nicht dazu kommt, aber manchmal ist es besser, man sagt gar nichts, als dass man den anderen anlügt.“ Wilhelm nickte, gab ihr aber keine Antwort. Sie würde schon ihre Gründe haben. Vielleicht hatten sie öfters Kinder zu Besuch. Gerade in diesen Ferientagen hat er dann einmal bewusst gelogen. Er meinte jedoch, es ging nicht anders. Aber er log seinen Freund an, nicht die Frau, bei der er zu Besuch war. Den Vorsatz, besser zu schweigen als zu lügen, es war ihr Vorschlag gewesen, machte er sich zur Lebensphilosophie.

Sie behandelten ihn wie einen Erwachsenen, fragten ihn jedes Mal nach seiner Meinung, ob er mit ihren Vorschlägen einverstanden wäre. Die Frau bat ihm um kleine Hilfeleistungen im Haushalt. Sie bat ihn nur um das, wo sie sicher war, dass er es gut konnte. Wilhelm war mit dem Ergebnis dann immer zufrieden. Er fühlte sich ausgesprochen wohl. Sie erlaubten ihn, mit dem Fahrrad ins Nachbardorf zu fahren, und einen Jungen zu besuchen. Das erste Mal fuhren beide mit ihren Rädern mit. Sie beobachteten genau, ob er sich auf der schmalen Straße richtig verhielt. Die Straße wurde allerdings nicht stark befahren. Sie war die Verbindung zwischen den beiden Dörfern, es waren ein paar Traktoren und ganz wenige Autos unterwegs. Und wenn jemand mit dem Fahrrad in den anderen Ort fuhr.

Paul war mit ihnen auch verwandt, und hatte schon auf seinen Besuch gewartet. Paul war vierzehn. Da Paul relativ klein für sein Alter war, Wilhelm gut gewachsen, war der Unterschied zwischen beiden, zumindest optisch, nicht so groß.

Wilhelm war immer wohl behütet mit seinen Eltern im Urlaub gewesen. Das war der ganze Teil der Welt, den er bisher kennengelernt hatte, vom Erdkundeunterricht abgesehen. Paul war in der ganzen Welt herumgereist. Genau genommen nicht er. Er selbst war nicht weit aus seinem Dorf hinausgekommen. Aber jedes Jahr kam ein Zirkus vorbei, er half beim Aufbauen. Es waren mittlerweile seine Freunde. Sie erzählten ihm von der großen Welt. Inwieweit sie tatsächlich überall gewesen waren, konnte niemand so genau sagen. Sie vielleicht auch nicht. Sie glaubten, was sie erzählten. Paul hätte es nie angezweifelt.

Die Zirkusleute erzählten so realistisch, dass er, wenn er allein war, das Gefühl hatte, als hätte er alles selbst gesehen. Sie bezogen ihn in ihre Bilder ein. Jedes Wort, jedes Land, jede Eigenart fremder Völker konnte er wiedergeben. Er sprach einzelne Wörter in fremden Sprachen. Er veränderte jedesmal seine Stimme und die Töne, die aus seinem Kehlkopf kamen. Er erklärte Wilhelm was die Worte bedeuteten. Wilhelm konnte es nicht kontrollieren, aber er bewunderte ihn neidlos. Er wollte auch so viel wissen wie Paul.

Gleich am ersten Nachmittag erzählte er Wilhelm von den Zirkusleuten. Und dass der Clown, der auch die Zaubernummer vorführte, ihm Kartentricks beigebracht hatte. „Das tun sie sonst nicht. Man muss bei Zaubernummern schweigen, da verpflichtet man sich dazu, gibt rechtlich und moralisch sein Ehrenwort ab. Aber sie sind meine Freunde. Und sie können sich darauf verlassen, dass ich hier in der Umgebung niemand eine Vorstellung gebe. Wenn sie wiederkommen, hätten sie keine Zuschauer mehr. Ich verderbe ihnen nicht das Geschäft.“ Er meinte, er war sich sicher, er konnte Wilhelm trauen. Er würde ihn nicht verraten, außerdem nach einiger Zeit wieder nach Hause fahren. Paul verlangte jedoch, Wilhelm sollte ihm per Handschlag das Versprechen zum Schweigen geben.

Auf einem Flohmarkt hatte sich Paul noch ein Heft gekauft, in dem noch weitere Kartentricks standen. Nicht so interessante, wie die von seinen Zirkusfreunden, aber diese führte er in der Schule vor. Er hatte sie immer und immer wieder geübt. Er wollte, wenn der Clown das nächste Mal wiederkam, ein Meister sein. Wilhelm staunte. Er bewunderte Paul. Ob er ihn persönlich bewunderte, oder nur wegen der Kartenkunst, wusste er nicht zu unterscheiden. Es war ihm gleich. Er wollte wie Paul mit den Karten umgehen können. „Willst du mit Karten Geld verdienen?“, fragte ihn Paul. „Kann man das denn?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Zirkusleute viel Geld hatten. Sie gingen oft genug von Haus zu Haus, um für ihre Tiere und sich zu sammeln. Er war einmal hinter einem hergelaufen. Der Geruch von ungewaschener Kleidung und dem Tier war ihm unangenehm aufgefallen. In der Stadt, in der Großmutter wohnte, gab es einen großen, reichen Zirkus. Hier wurden allerdings keine Kartennummern in der Vorstellung gezeigt.

„Kann man schon. Aber du musst alle Karten im Kopf haben, dir beim gespielten Blatt jede Karte merken. Du musst es verstehen alles aus deinem Kopf zu kehren, wenn du Karten spielst, nur für sie Platz lassen. Du musst vor allen Dingen schnelle Finger haben, täglich deine Finger trainieren. Wie ein Klavierspieler musst du üben. Wir haben kein Klavier. Kannst du Klavier spielen?“ Wilhelm nickte. Es war ihm im Augenblick peinlich. „Natürlich musst du auch Augen für die Finger deiner Mitspieler haben. Deine Mitspieler sind deine Gegner. Die spielen nur als Statisten mit, dazu musst du sie allerdings machen. Und du willst sie besiegen, einen Profit daraus schlagen. Ich sage dir eine ganz wichtige Regel, Wilhelm, geben ist Macht. Ich rede vom Kartenspielen. Sonst sicher auch. Wer gibt, drängt den, dem er gibt, in die Rolle des Schwächeren.“ Paul redete wie ein alter Spieler, der eine zehnköpfige Familie mit Kartenspielen unterhalten musste. Er redete wie der Clown, der es ihm immer wieder vorgesagt hatte. Er war sich sicher, er würde einmal so gut spielen können. Geschminkt wie ein Clown wollte er nie auftreten.

So gut es ging, trafen sich die beiden in diesen kurzen Urlaubstagen. Paul brachte vorbehaltlos, alles was er mit den Karten konnte, Wilhelm bei. Wilhelm konnte es manchmal nicht fassen, dass jemand einem fremden Menschen seine intimsten Geheimnisse darlegte. Ob es daran lag, dass Paul älter war? Würde er in ein paar Jahren auch so großzügig sein? Paul hatte dem anderen gegenüber einen Vorteil, und ließ ihn daran teilhaben. Wahrscheinlich war das der Profit für Paul. Das Teilhaben lassen. Wilhelm hatte im Augenblick nichts, was er Paul bieten konnte. Nicht einmal Geld konnte er ihm geben. Seine Eltern hatten ihm Geld mitgegeben, aber das war genau bemessen. Da er genau Buch über seine Ausgaben führte, es gab mal hin und wieder ein Eis, auch für Paul, mehr konnte er nichts abzweigen. Wilhelm lernte schnell mit den Karten umzugehen. Es interessierten ihn die Kunststücke, die Paul von dem Clown gelernt hatte.

Er versprach Paul, die Kunststücke allenfalls vorzuführen, nie den Trick, der dabei war, zu verraten. Er brachte die unbestimmte Angst in sich nicht weg, Paul würde von ihm das Versprechen mit einem Blutstropfen besiegelt haben wollen. In den Abenteuerbüchern, die er gelesen hatte, wurde es manchmal so gemacht. Paul sprach es nie aus, forderte es nicht ein.

Sie spielten aber auch Spiele, bei denen es um einen Einsatz ging. Sie verwendeten kleine Holzstücke oder Kieselsteine. Sie zählen vorher immer genau ab. Jeder bekam den gleichen Anteil. Wilhelm verlor jedes Spiel. Nach dem Spiel erklärte ihm Paul seine Fehler, warum er verlieren hatte müssen. Wilhelm bemerkte, außer den Karten hatte er nichts mehr im Kopf. Wie es Paul gesagt hatte, alles aus dem Kopf kehren, nur Platz für die Karten haben. Das letzte Spiel der beiden gewann Wilhelm. Zuerst freute er sich und dachte, er hätte einiges gelernt, dann meinte er, es wäre ein Zufall. Dann hatte er Paul in Verdacht, dass er ihn zum Abschied gewinnen hatte lassen. Das Gesicht von Paul erschien ihm zu entspannt.

Ganz so intensiv hatten es sich seine Gasteltern nicht vorgestellt. Sie hatten Paul und Wilhelm nur ein bisschen bekannt machen wollen. Er für sich meinte, sie sahen ihn bei den Mahlzeiten, und nur bei Paul war er ja auch nicht. Wenn sie ihn fragten, was er denn bei Paul machte, antwortete er ihnen wahrheitsgemäß, dass sie spielten.

 

Am dritten Ferientag war es gewesen. Wilhelm hatte schon beim Schlafengehen ein unbestimmtes Gefühl gehabt. Er konnte es nicht deuten, oder eingrenzen. Er war auch zu müde dazu. Die Luftveränderung machte sich bemerkbar. Am Morgen verschlief er. Sie hatten ihn nicht geweckt. Sie meinten es gut mit ihm, wussten nicht, dass er mit Paul einen festen Zeitpunkt vereinbart hatte. Es war ihm furchtbar peinlich. Er war überaus pünktlich, und konnte Leute, die zu spät kamen, nicht leiden. Er war um zehn Uhr bei Paul verabredet. Er beeilte sich mit dem Frühstück. Er wollte aber nicht unhöflich sein, und aß ordentlich. Dann fuhr er wie vom Teufel gehetzt ins Nachbardorf. Er war über eine Stunde zu spät dran. Das wollte er sich einfach nicht antun, dass er so viel später kam. Vor der letzten Biegung, ein paar Schlehenbüsche bildeten einen Sichtschutz, blieb er stehen. Er fuhr mit den Händen an seiner Fahrradkette entlang, rieb bis seine Finger schmutzig waren. Er wischte sie im Gras sauber, um seine Lenkstange nicht unnötig schmutzig zu machen. Das hätte er ja bei einer wirklichen Reparatur auch gemacht. Er ließ aber so viel vom dem Kettenöl dran, dass man es noch gut sehen konnte. Paul erklärte er seine Verspätung damit, ihm war die Fahrradkette abgesprungen, und er hatte sein Fahrrad reparieren müssen. Paul bewunderte ihn zunächst, dass er es fertiggebracht hatte. Meinte aber, in der Stunde, in der er zu spät kam, hätte er leichter das Fahrrad zu ihm geschoben. Für beide war das Thema somit erledigt. Wilhelm fühlte sich unangenehm. Er wusste nicht genau, wie es Paul tatsächlich gemeint hatte, ob er ihm geglaubt hatte.

Auch wenn man Abschied nimmt, für immer geht –

Begegnungen sind nicht löschbar.

Zu den Verwandten fuhr Wilhelm zwei Jahre später nochmals für drei Wochen in die Ferien. Paul war mit seinen Eltern weggezogen. Zunächst war Wilhelm enttäuscht. Am liebsten wäre er wieder nach Hause gefahren. Es wurde ihm bewusst, wie sehr er sich auf das Wiedersehen mit Paul eingestellt hatte. Dann verbrachte er doch schöne Ferien bei ihnen. Seine Gastgeber holten alles nach, was sie ihm beim ersten Mal hatten zeigen wollen. Sie fühlten sich belohnt, dass sie das letzte Mal Wilhelm so großzügig an Paul überlassen hatten.

Paul sah er nach Jahren wieder. Er war schon über dreißig, und besuchte während seiner Amerikareise Las Vegas. Sein Limit an Dollars, das er sich gesetzt hatte, war aufgebraucht. Der einarmige Bandit hatte alle geschluckt. Mehr gab es nicht. Der Dollarkurs war ihm auch zu hoch, dass er seinen Vorsatz geändert hätte. Genau genommen tat es ihm nicht einmal leid, verloren zu haben. Im Circus-Circus hatte er keinen Platz bekommen. Er war dann wahllos in eines der vielen Varietés gegangen, um sich eine Vorstellung anzusehen. Die Lichterwelt von Las Vegas fasziniert ihn. Er verglich es mit der Weihnachtsdekoration einer Einkaufsstraße, die jemand in einer einsamen Berghütte installiert hatte. Las Vegas war in die Wüste gesetzt worden. Wie intakt musste die Wüste vorher gewesen sein?

Als Stargast des Abends war Mister Paul, der große Magier aus Deutschland, angekündigt worden. Wilhelm dachte nicht im Geringsten an den Paul aus seiner Kinderzeit. Dass er aus Germany war, war hier nichts Besonderes. Viele Künstler aus Deutschland arbeiteten hier.

Als er Paul auf der Bühne sah, erkannte er ihn auch nicht wieder. Er sah ihm gespannt zu, er bewunderte seine Fingerfertigkeit und die Eleganz, mit der er sich auf der Bühne bewegte. Paul ging ins Publikum, und gab den einzelnen Personen, denen er vor Beginn der Vorstellung bestimmte Gegenstände, abgenommen hatte, diese wieder zurück. Das gehörte zu der Nummer. Er hatte sie vorher um Erlaubnis gefragt. Er verwechselte keinen Gegenstand, keinen Menschen, dem er gehörte. Als er bei Wilhelm vorbeikam, stutzte er kurz. Er lächelte Wilhelm an. Wilhelm dachte, er würde ihn verwechseln, dass er einen Fehler machen, und ihm vielleicht eine Uhr geben würde, die ihm gar nicht gehörte. Er müsste ablehnen und Mister Paul dadurch blamieren. Er wusste ein paar Sekunden nicht, was er machen sollte.

Paul schaute Wilhelm kritisch ins Gesicht, überlegte und war sich sicher. Er zog aus seiner Hosentasche einen kleinen Stein und hielt ihn, wie auf einem Tablett, auf seiner ausgestreckten Handfläche. „Wilhelm, ich kann ihn dir nicht geben. Er ist mein Talisman. Aber zeigen kann ich ihn dir. Es ist einer von den Steinen, die wir damals beim Kartenspielen benützt haben. Einen davon habe ich mir aufgehoben. Ich wollte, dass er mir Glück bringt. Er hat es getan.“

Wilhelm erkannte nun Paul. Er konnte nichts sagen, saß da und schaute ihn an. Paul erzählte dem Publikum die Geschichte, dass er einen alten Freund wieder getroffen hatte. Das Publikum war begeistert. Es gab auch für Wilhelm einen Applaus. Jemand von den Zuschauern hatte „for the friend“ gerufen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen, und sich zu verbeugen. Das Publikum klatschte wie besessen. Man wollte etwas fürs Herz sehen. Die beiden gaben sich allerdings nur die Hand, wie damals als Wilhelm Paul versprochen hatte, die Tricks nicht zu verraten. Wilhelm bemerkte, wie Pauls Hand zitterte.

Wilhelm und Paul unterhielten sich noch nach der Vorstellung. Sie feierten ihr Wiedersehen. Wilhelm konnte Paul auch diesmal kein Geld geben. Paul hatte selbst genug.

Hatten sich alle in den blauen Himmel verkrochen,

blieb mir die grüne Wiese.

Ich wechselte manchmal zur nackten Erde.

Mutter sah es sofort. Wilhelm hatte in den Ferien etwas erlebt, was ihn beschäftigte. Er schien unentwegt über die Sache nachzudenken. Oft musste sie zweimal fragen, so vertieft war er in seinen Gedanken. Wie immer ließ sie ihn Ruhe. Ein Junge mit zwölf Jahren braucht sein Geheimnis. Die Sache schien für ihn nicht gefährlich zu sein, das spürte sie. Sie erfasste seine Situation.

Wilhelm wollte unbedingt eigene Spielkarten haben. Erspartes hatte er. Das war nicht das Problem. Um nicht im selben Geschäft wie seine Mutter einzukaufen, peinliche Fragen wollte er verhindern, fuhr er mit dem Fahrrad in eine Gegend, in der seine Familie unbekannt war. Überrascht war er über das große Sortiment von Karten. Er wurde gefragt, was er denn für Karten bringen sollte, französische oder deutsche. Er verstand, die Verkäuferin meinte, er sollte die Karten für einen Erwachsenen holen. Traute sie ihm vielleicht nicht zu, dass er mit Spielkarten richtig umgehen konnte?

Dann erkannte er das gleiche Spiel, wie er es bei Paul gesehen hatte. Selbstsicher zeigte er auf ein Päckchen und kaufte es. Zu Hause suchte er nach einem Versteck. Die Würfel hatte er in seinen Wintersocken versteckt. Es erregte ihn, nun Karten zu besitzen. Die Eltern durften sie nicht finden. Zu seiner Mutter hatte er zwar grenzenloses Vertrauen, aber inwieweit sie ihn hier schützen würde, konnte er nicht sagen. Er berechnete ihren Erziehungsauftrag mit ein, diesen nahm sie sehr ernst. Zwei Tage überlegte er. Er entschied sich schließlich für den Hohlraum unter seinem Kleiderschrank. Mittels einer Latte, die sich bewegen ließ, konnte er einen Pappendeckel herunterklappen, hinter dem er die Würfel, die Spielkarten und heimlich Erspartes versteckte. Die Latte klemmte zwischen die zwei Holzklötzchen, die am Rahmen schon vorher angebracht waren. So brauchte er Nägel nicht einzuschlagen. Das wäre wahrscheinlich auch nicht gegangen. Man hätte es sicherlich gehört. Warum die Holzklötzchen schon da waren, was für einen Zweck sie zu erfüllen hatten, konnte er sich nicht erklären. Es war ja auch egal. Sie waren da, und stabil. Mehrere Male stieß er absichtlich gegen den Schrank, um zu prüfen, ob die Vorrichtung halten würde, oder ein Knarren zu hören war. Sie durfte nicht herunterfallen, auch dann nicht, wenn in seinem Zimmer geputzt wurde. Es schien zu halten. Er setzte sich auf den Boden, um ein Empfinden in sich abzurufen. Er wollte wissen, was sein Gefühl dazu meinte. Er fühlte Ruhe in sich. Nicht die geringste Spur von Aufregung. Nun war er sicher, sein Versteck hatte eine große Chance, nicht entdeckt zu werden. So oft es ging, übte er mit den Karten. Bei den Würfeln konnte er zwei Parteien miteinander spielen lassen. Bei den Karten ging das nicht. Um ein Spiel in Gang zu bringen, musste er in beide Kartenpäckchen schauen, und das schloss eine logische Handlung von vornherein aus. Er kannte ja auch die Karten des Gegners. Es blieb bei den Geschicklichkeitsübungen. Die langweilten ihn allerdings bald, da nichts zu verlieren oder zu gewinnen war. Er hatte nicht einmal Publikum, vor dem er sich blamieren konnte. Im Augenblick.

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