Die Zukunft erfinden

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Letztlich war es jedoch das Beharren auf einer rigiden präfigurativen Politik, das Occupy stark beeinträchtigte. Für eine solche Politik grundlegend ist die Haltung, eine künftige Welt bereits im Heute vorwegnehmen zu wollen – unsere Beziehungen zueinander zu verändern, um die postkapitalistische Zukunft im Hier und Jetzt zu leben. Exemplarische Aktionen wie Besetzungen spielen hierfür eine wichtige Rolle: In den besetzten Räumen soll eine nichtkapitalistische Welt Gestalt annehmen, die sich durch gegenseitige Hilfe, die Ablehnung von Hierarchien sowie eine rigorose direkte Demokratie auszeichnet. Zugleich sind solche Räume ihrem Selbstverständnis und ihrer Struktur nach immer schon temporär. Besetzungen schaffen keine Räume nachhaltiger Veränderung oder des Ausarbeitens konkreter Alternativen, und noch weniger haben sie die Ambition, dem globalisierten Kapitalismus die Stirn zu bieten. Sie sind temporäre Orte der flüchtigen Erfahrung unvermittelter Gemeinschaft.99 Ein Pamphlet einer studentischen Aktionsgruppe, das konkrete Forderungen als »reformistisch« ablehnt, beschreibt eine solche Haltung:

Sie [die Studierenden] betrachteten die Besetzung als einen Akt, der in das kapitalistische Raum- und Zeitgefüge eine momentane Öffnung reißt, als eine temporäre Neuanordnung, die eine neue Gesellschaft in Umrissen skizziert. Eine solche antireformistische Position findet uns an ihrer Seite. Natürlich wissen wir, dass befreite Zonen nur partiell und transitorisch bleiben, doch die zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen bestehende Spannung, die sie bloßlegen, kann eine Radikalisierung der Kämpfe forcieren.100

Das Bekenntnis zum temporären Charakter der Besetzung verbindet sich hier mit dem naiven Glauben daran, die Aktion könne zugleich der Funke sein, der den radikalen Wandel entfacht. Präfigurative Räume ringen aus guten Gründen permanent um ihren Fortbestand. Denn erstens sind sie auf vielfältige Weise auf Logistik angewiesen, sie brauchen Unterkunft, Verpflegung, Sanitär- und Gesundheitseinrichtungen sowie politische, moralische und juristische Unterstützung. In den meisten Fällen stellt eine präfigurative Gemeinschaft dies alles nicht selbst zur Verfügung, sondern baut auf das bestehende kapitalistische Umfeld.101 Die soziale Reproduktion eines Camps ist auch unter günstigsten Bedingungen schwierig, und selbst etablierten utopischen Gemeinschaften (die häufig religiöser Natur sind) gelingt es in der Regel nicht, unabhängig zu bleiben und sich ausschließlich selbst zu versorgen.102 Hinzu kommt, zweitens, dass präfigurative Räume häufig Behörden oder Unternehmen ein Dorn im Auge sind und entsprechend bekämpft werden – und falls nicht, so in der Regel, weil sie die herrschende Ordnung nicht wirklich bedrohen. Die Zapatistas beispielsweise genießen relative Freiheiten, weil Staat und Kapital in ihnen keine Gefahr sehen.103 Sobald ein präfigurativer Raum die bestehenden Verhältnisse ernsthaft bedroht, schlägt die Stunde der Repression, und spätestens dann erweist sich die Verabsolutierung des Horizontalismus als Belas­tung. Doch unter Umständen ignoriert präfigurative Politik auch einfach die Kräfte, die der Schaffung und Entfaltung einer neuen Welt entgegenstehen. Das bloße Einfordern und Ausprobieren einer anderen Welt jedenfalls reicht nicht aus, jene Kräfte zu überwinden. Die politische Bilanz der Repression gegen Occupy zeigt das.104

Die Frage, die sich präfigurative Politik daher unmittelbar stellen müsste, lautet daher: Wie kann unser politisches Handeln ausstrahlen und mehr erreichen?105 Selbst unter der recht problematischen Annahme, dass die meis­ten Menschen bereit wären, ein Leben wie die Aktivisten von Occupy zu führen, bliebe zu fragen, welche konkreten Schritte den beschränkten Raum des Camps physisch und sozial expandieren könnten. Wenn Intellektuelle auf diese Frage zu sprechen kommen, bleiben die Antworten gewöhnlich im Vagen: etwa, dass verstreute Momente angeblich »eine Resonanz« fänden, alltägliche Formen des Handelns irgendwann zu einem qualitativen Sprung führten, der die gesellschaftlichen Verhältnisse »knackt«, sich Revolten und Blockaden »ausbreiten und vervielfachen«, Erfahrungen die Beteiligten »kontaminieren« würden oder Nester präfigurativen Widerstands einfach »spontan aufbrechen«.106

Wie auch immer, die Schwierigkeit, den Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Lokalen zum Globalen, vom Temporären zum Permanenten zu beschreiben, wird durch Wunschdenken übergangen. Die strategischen Notwendigkeiten – die politische Bewegung zu verbreitern, auszuweiten und zu verallgemeinern – bleiben Leerstellen.

Obgleich es Occupy insgesamt nicht gelang, Grenzen zu überwinden und die präfigurativen Räume in die Gesellschaft hinein zu erweitern, spielten die Protestcamps eine wichtige Rolle als Ausgangspunkte politischer Interventionen. Tatsächlich war es eine der bedeutendsten Errungenschaften der Occupy-Bewegungen, eine soziale und physische Infrastruktur für die verschiedensten Formen direkter Aktion zu etablieren. In verschiedenen Ländern, etwa in Griechenland und in Spanien, wurden Schuldnerstreiks organisiert oder wilde Ausstände durch Streikposten unterstützt. Andere Occupy-Bewegungen beteiligten sich an Hausbesetzungen, versorgten Obdachlose mit Nahrungsmitteln, betrieben Piratensender, mobilisierten zum Widerstand gegen Zwangsräumungen, protestierten gegen Kürzungen staatlicher Beihilfen oder leisteten nach Naturkatastrophen humanitäre Hilfe. Doch sollte die Rolle von Occupy auch nicht überbewertet werden.

Beispielsweise konnte der Widerstand gegen Zwangsräumungen und -vollstreckungen an die Arbeit bereits länger existierender politischer Kampagnen anknüpfen, etwa die der von schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten getragenen Bewegung Take Back the Land.107 Das grundlegendere Problem ist indes, dass direkte Ak­tion Oberflächenphänomene aufgreift, die Wunden sieht, die der Kapitalismus schlägt, doch die zugrundeliegenden Probleme und Strukturen nicht berührt. Zwangsräumungen gibt es weiterhin zuhauf, die Verschuldung privater Haushalte erreicht neue Rekordstände, Beschäftigte werden auf die Straße gesetzt und die Zahl der Obdachlosen steigt weiter steil an. So waren es letztlich die Grenzen einer Propaganda der Tat, die Occupy offensichtlich werden ließ.108 Direkte Aktion kann erfolgreich sein, doch bleiben ihre Erfolge folkpolitisch bedingt und insofern räumlich und zeitlich beschränkt. Sie mag imstande sein, die schlimmsten Exzesse des Kapitalismus abzumildern, doch konzentriert sie sich häufig auf intuitiv erfassbare Ziele und wird daher niemals eine Antwort auf das Problem finden, wie sich eine global vernetzte Abstraktion bekämpfen lässt.109 Das Projekt einer expansiven Linken – einer Linken, deren Ziel es ist, den Kapitalismus grundlegend umzuwälzen – bleibt außen vor.

Das Bild von Occupy, das sich daraus ergibt, zeigt eine Bewegung, die untrennbar verbunden war mit bestimmten Annahmen über die politischen Vorteile lokaler Räume, kleiner Gemeinschaften, direkter Demokratie und temporärer Autonomie an den Rändern der Gesellschaft. Derartige Überzeugungen machten es unmöglich, räumlich zu expandieren, nachhaltige Veränderungen zu etablieren und sich selbst zu verallgemeinern. Wirkliche Erfolge errang Occupy als eine Bewegung der Solidarität, die den Erniedrigten und Marginalisierten eine Stimme gab und öffentliches Bewusstsein weckte. Doch insgesamt blieb sie ein Archipel präfigurativer Inseln inmitten einer unerbittlich feindseligen kapitalistischen Umwelt. Der unmittelbare Grund für die Niederlage von Occupy war die staatliche Repression, die rücksichtslose Räumung der besetzten Plätze überall in den USA durch polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheiten. Die strukturellen Gründe für das Scheitern aber lagen in den Überzeugungen und Praktiken der Bewegung. Ohne den Brennpunkt der besetzten Räume zerfiel die Bewegung und löste sich auf.

Letzten Endes hatte die Organisationsform von Occupy keine Antwort auf das Problem, wie die Bewegung hätte expandieren und eine Form von Gegenmacht entwickeln können, um der unausweichlichen staatlichen Reaktion Widerstand entgegenzusetzen. Was in einem bestimmten Rahmen – mit vielleicht hundert Beteiligten – möglicherwiese funktioniert, wird schwieriger, je weiter der Kreis gezogen wird.110

Sucht linke Politik wirklich die Auseinandersetzung mit globalen Akteuren – mit dem neoliberalen Kapitalismus und dessen Entscheidungsstrukturen, mit führenden Staaten samt ihrer Militär- und Polizeiapparate sowie mit all den Konzernen und Banken weltweit –, dann ist es unumgänglich, die Ebene des Lokalen zu verlassen. Von Bewegungen wie Occupy ist gewiss viel zu lernen, doch bleiben sie auf sich gestellt außerstande, die Verhältnisse im Großen zu verändern.

Argentinien

Einen Beleg für erfolgreiche horizontalistische Politik scheint, wenn überhaupt, einzig das Beispiel Argenti­niens zu liefern, wo es landesweit zu einer Wende zum Horizontalismus kam und Arbeiter die Kontrolle über zahlreiche Fabriken übernahmen. Doch letztendlich wirft der Blick auf die argentinische Erfahrung vor allem ein neues Licht auf die Begrenztheit eines folkpolitischen Ansatzes. In Argentinien war es der Zusammenbruch der einheimischen Wirtschaft, der den gesellschaftlichen Wandel unmittelbar notwendig machte. Nach einer massiven Rezession im Jahr 1998 und einem danach ausbleibenden Aufschwung sank das argentinische Bruttoin­lands­produkt 2002 um mehr als ein Viertel. Einen Höhepunkt hatten die Spannungen bereits im Dezember 2001 erreicht, nach staatlichen Kürzungen und Finanzchaos kam es zu Massenprotesten. Das Ergebnis war der Rücktritt der Regierung und schließlich der Staatsbankrott. Nachdem sich der Staat als weder fähig noch willig erwiesen hatte, die Lage der Bevölkerung zu verbessern, waren die Menschen gezwungen, neue Wege zu gehen, um sich selbst zu helfen.

 

Angesichts der angespannten Situation nahmen es viele Argentinier selbst in die Hand, neue politische und wirtschaftliche Strukturen zu schaffen. Diese Krisenantworten waren zu einem erheblichen Teil explizit entsprechend horizontalistischer Prinzipien organisiert.111 Wie bei Occupy erwies sich eine solche Art der (Selbst‑)Orga­ni­sierung in Argentinien in mehrerlei Hinsicht politisch als ein wichtiger Schritt. Vielleicht am bemerkenswertesten daran war, dass es den Bewegungen gelang, den gesellschaftlichen Common Sense des Neoliberalismus zu stören und aufzuzeigen, dass es anderes gibt als Marktindividualismus und negative Solidarität. Das Schaffen neuer Verbindungen zwischen den Einzelnen trug dazu bei, die Feindseligkeiten zu überwinden, mit denen Proteste und Streiks in manchen Teilen der Gesellschaft häufig konfrontiert sind. Wie bei Occupy, allerdings auf erweiterter Stufenleiter, waren die horizontal organisierten Bewegungen in Argentinien rasch in der Lage, unter den Bedingungen der Krise Mittel der gesellschaftlichen Reproduktion bereitzustellen.112

Die politischen Experimente mit horizontalistischen Prinzipien führten so zu einer Reihe von Erfolgen, doch traten zugleich auch verschiedene weitere Probleme zutage. Eine der wichtigsten Erfahrungen ist zweifellos die politische Begrenztheit der Asambleas oder Nachbarschaftsversammlungen. Entstanden waren die Asambleas als eine Form der Organisierung, die auf die unmittelbaren Bedürfnisse und Konstellationen inmitten der Wirtschaftskrise reagierte. Wie die General Assembly bei Occupy ermöglichte sie den bislang kaum Wahrgenommenen, ihre Stimmen vernehmen zu lassen. Doch erreichten die Nachbarschaftsversammlungen, auch wo sie mit anderen aus anderen Stadtvierteln zusammenkamen, niemals den Punkt, an dem sie den Staat hätten ersetzen oder sich als eine realistische Alternative hätten darstellen können. Selbst auf dem Höhepunkt der Mobilisierung fingen horizontalistische Bewegungen nicht an, tatsächlich Funktionen des Staates – Wohlfahrt, Gesundheit, Infrastruktur, Bildung etc. – zu übernehmen. So blieb es bei lokal begrenzten Reaktionen auf die Krise. Eine weitere politische Grenze der Asambleas zeigte sich, sobald sie mit organisierten – das heißt: kollektiven – Interessen konfrontiert waren, mit denen sie nicht umgehen konnten; sie wiesen sie zurück oder aber sie versuchten, sie zu integrieren, und unterwarfen sich ihnen.113 Denn häufig traten kollektiv artikulierte Interessen in Diskussionen und gemeinsamen Debatten übermächtig auf und waren außerstande, sich in Prozesse der Entscheidungsfindung einzubringen, ohne sie zu untergraben. So funktionierten die Asambleas problematischerweise am besten als Versammlungen von Individuen.

Eine weitere organisatorische Erfahrung in Argentinien geht auf Arbeiter zurück, die Fabriken übernahmen. Im Gefolge der Wirtschaftskrise hatten Beschäftigte verschie­dentlich die Leitung geschlossener Unternehmen an sich gebracht und die Betriebe weitergeführt. Die Kontrolle über die Fabriken sicherte den Arbeitern ihre Jobs – und verschiedene Quellen berichten, dass auch die Löhne stiegen. Allerdings handelte es sich, ungeachtet der den Fabrikbesetzungen zuteil gewordenen Aufmerksamkeit, um eine relativ überschaubares Phänomen: Nach sehr optimistischen Schätzungen ging es um rund 250 Fabriken mit insgesamt vielleicht gerade einmal 10 000 Beschäftigten.114 Bei einer Erwerbsbevölkerung von über 18 Millionen Erwerbstätigen machten die in den kollektiv geleiteten Betrieben Beschäftigten einen Anteil von deutlich unter 0,1 Prozent aus.

Doch die Fabriken spielten nicht nur in der argentinischen Wirtschaft eine untergeordnete Rolle, sondern blieben zwangsläufig auch in kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet. Der Traum, Letzteren zu entgehen, ist nichts weiter als ein Traum. Unter dem Gebot, Profit zu erwirtschaften, sind Unternehmen unter der Leitung von Arbeitern unter Umständen genauso ausbeuterisch und umweltzerstörend wie jedes andere Industrieunternehmen, doch fehlen ihnen die Vorteile der Massenproduk­tion. Solche Probleme tauchen im Zusammenhang mit genossenschaftlichen Betrieben immer wieder auf, die Erfahrungen beschränken sich nicht auf Argentinien, sondern finden sich ähnlich auch im zapatistischen Zusammenhang oder auch sonst überall in Amerika.115

Sehen wir Argentinien jedoch als ein Modell eines potentiellen postkapitalistischen Wegs an, bleibt – jenseits aller organisatorischen Schranken – das Hauptproblem, dass in den genannten Ansätzen kein Gegenentwurf zum Kapitalismus steckt, sondern sie lediglich Mittel waren, um dessen Krise zu dämpfen. Als die Wirtschaft sich zu erholen begann, ging die Beteiligung an den Asambleas drastisch zurück und die Alternativökonomie schrumpfte.116 Die infolge der Krise auftretenden horizontalistischen Bewegungen hatten auf den Zusammenbruch des Bestehenden reagiert und Notfallmaßnahmen ergriffen; es gab keine relativ reibungslos funktionierende Ordnung mehr, der sie den Kampf ansagen konnten. Tatsächlich zeigen zeitgenössische horizontalistische Bewegungen häufiger die problematische Neigung, eine Notsituation – nach einem Hurrikan, Erdbeben oder ökonomischen Crash – als mögliches Fundament einer besseren Welt anzusehen.117 Doch fällt es einigermaßen schwer nachzuvollziehen, wie die Verhältnisse nach einer Katastrophe ein Modell für die Verbesserung der Lage einer großen Mehrheit der Weltbevölkerung abgeben könnten. Eine Politik, die einzig Ausdruck des Zusammenbruchs einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist, präsentiert sich nicht als Alternative, sondern entspringt eher einem spontanen Überlebensinstinkt. Ähnlich problematisch ist auch die Tendenz horizontalistischer Bewegungen, politisches Potential in der Art und Weise zu entdecken, wie das Alltagsleben »horizontal« organisiert ist – beim Zusammenkommen mit Freunden, bei Partys, Festivals etc.118

Doch auch derartige Ereignisse sind auf den Rahmen überschaubarer Gemeinschaften beschränkt und geben, wichtiger noch, für weitergehende politische Ziele kein brauchbares Vorbild ab. Das argentinische Beispiel zeigt es: Alltägliche Organisationsweisen mögen nützlich sein, um im Stadtviertel das grundlegende Überleben zu sichern und die Solidarität untereinander zu stärken. Doch horizontalistische Politik hat erhebliche Mühe, sich gegen stärker organisierte Interessen zu behaupten, länger durchzuhalten, sobald Normalität im Grundsatz wiederhergestellt ist oder auch weiter gesteckte und langfristige politische Ziele wie eine allgemeine Gesundheitsversorgung, höhere Bildung oder soziale Sicherheit zu verfolgen. In außergewöhnlichen Situationen und im Hinblick auf unmittelbar erreichbare Ziele bleiben horizontalistische Ansätze sinnvoll, doch werden sie weder die Gesellschaft umwälzen noch den globalen Kapitalismus ernsthaft infrage stellen.

Wie die Beispiele der Nachbarschaftsversammlungen und der von den Beschäftigten übernommenen Betriebe in Argentinien erkennen lassen, greifen maßgebliche Organisationsmodelle horizontalistischer Politik zu kurz. Häufig handelt es sich um reaktive Taktiken, die als Gegenentwürfe in den antagonistischen Verhältnissen des globalisierten Kapitalismus nicht ausreichen. Diese Grenzen des Horizontalismus wurden auf theoretischer Ebene im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts, nicht zuletzt mit Blick auf Bewegungen wie Occupy und die in Argentinien, verschiedentlich erörtert. Zwar bleibt als eine wichtige Leistung horizontalistischer Taktiken anzuerkennen, dass sie in der Lage sind, in überschaubaren sozialen Zusammenhängen Solidarität zu organisieren und Ausbeutungsverhältnisse zeitweilig zu unterbrechen, doch beschränkt die bisweilen fetischisierte Festlegung auf Konsens, direkte Aktion und insbesondere präfigurative Politik die Möglichkeiten, sich zu verbreitern und bestehende gesellschaftliche Strukturen zu ersetzen.

Lokalismus

Die Vorliebe für das Lokale tritt weniger radikal auf als der Horizontalismus, ist darum aber nicht weniger allgegenwärtig. Die Ideologie des Lokalismus ist weit über die Linke hinaus anzutreffen, mal prokapitalistisch, mal antikapitalistisch, manchmal auch radikal gefärbt durchzieht sie den kulturellen Mainstream und ist zu einer Art politischen Common Sense geworden. Allen Varianten gemeinsam ist der Glaube, die Abstraktheit und Unüberschaubarkeit der modernen Welt sei eine der Wurzeln unserer heutigen politischen, ökologischen und ökonomischen Probleme, sowie die Überzeugung, eine Lösung biete die Rückkehr zum menschlichen Maß nach dem Motto »Small is beautiful«.119 Ein Handeln im kleinen Rahmen, die Privilegierung lokaler Ökonomien, überschaubarer Gemeinwesen, unmittelbarer und persönlicher gesellschaftlicher Beziehungen – all dies kennzeichnet eine lokalistische Weltsicht. In Zeiten, da die meisten der im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten politischen Strategien und Taktiken stumpf und untauglich erscheinen, lockt der Lokalismus mit einer verführerischen Logik. In all seinen verschiedenen Versionen, vom gemäßigt konservativen Kommunitarismus bis zu Bewegungen für ethischen Konsum, von einem auf Mikrokredite setzenden Developmentalismus bis zu manchen Spielarten des heutigen Anarchismus verspricht der Lokalismus, jeder und jedem Einzelnen Gelegenheit zum konkreten Handeln zu bieten und politische Interventionen zu ermöglichen, die sich unmittelbar und spürbar auswirken.120 Doch ein solches Gefühl größerer individueller Gestaltungsspielräume kann irreführen. Denn ein Problem des Lokalismus besteht darin, dass er durch den Versuch, die großen systemischen Unübersichtlichkeiten auf die leichter handhabbare Sphäre lokaler gesellschaftlicher Zusammenhänge herunterzubrechen, letztlich die strukturelle Vernetztheit der heutigen Welt leugnet. Zusammenhänge wie die globale Ausbeutung, der weltweite Klimawandel, die wachsende Überbevölkerung und die wiederkehrenden Krisen des Kapitalismus lassen sich nicht lokalisieren: Sie sind in ihrem Erscheinungsbild abstrakt und weisen eine komplexe Struktur auf, und obschon sie jeden Ort betreffen, zeigen sie sich in all ihren Facetten niemals nur in einer bestimmten Region. Es sind systemische und abstrakte Probleme, die nach systemischen und abstrakten Antworten verlangen.

Viele Spielarten des rechten populistischen Lokalismus lassen sich (wie etwa der sezessionistische Libertarismus) als rückschrittliche Macho-Phantasien durchschauen und zurückweisen, als zynische ideologische Verbrämung von Austeritätspolitik (wie das von den Konservativen in Großbritannien aufgebrachte Konzept der »Big Society«) oder als unverblümt rassistisch (so wenn Nationalisten und Faschisten Migranten für strukturelle ökonomische Probleme verantwortlich machen); weit weniger gründlich wird indes der linke Lokalismus hinterfragt. Mit zweifellos den besten Absichten liebäugeln radikale und Mainstream-Linke mit lokalistischen politischen und ökonomischen Positionen, allerdings zum eigenen Schaden. Im Folgenden sollen zwei populäre Varianten eines linken Lokalismus kritisch beleuchtet werden – das Eintreten für lokale Ernährung und für eine lokale Ökonomie –, weil sie beispielhaft auf zwei recht unterschiedlichen Feldern die Problematik des Lokalismus verdeutlichen.