Die Zukunft erfinden

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Überholt

Die Konjunktur folkpolitischen Denkens lässt sich zwar in gewisser Weise als eine Antwort auf die zunehmende Komplexität der Welt erklären, doch muss zugleich nach dem Ort eines solchen Denkens in der Geschichte linker Politik im 20. Jahrhundert gefragt werden. Oftmals ist die Hinwendung zu Folk-Politik eine verständliche (wenn auch unzulängliche) Reaktion auf Herausforderungen der vergangenen fünf Jahrzehnte – auf Auseinandersetzungen sowohl innerhalb der Linken als auch mit konservativen und kapitalistischen Kräften.26 Eine entscheidende Rolle spielte der Zusammenbruch des sozialdemokratischen und wohlfahrtsstaatlichen Blocks der Nachkriegszeit, die Auflösung des Zusammenhangs aus sozialstaatlich orientierten Institutionen und Parteien unter der Hegemonie des im System von Bretton Woods eingebetteten Liberalismus.27 Der Kollaps dieses sozialdemokratischen Blocks ereignete sich entlang verschiedener Entwicklungs- und Konfliktlinien und auf verschiedenen Ebenen: Von Bedeutung waren insbesondere das Entstehen neuer, mit affektiven und kognitiven Fähigkeiten verbundener Formen der Arbeit, die fortwirkende Energiekrise, durch die geopolitische Gewissheiten zerstört wurden, die sinkende Profitraten kapitalistischer Unternehmen, der Siegeszug der neoliberalen Ideologie, unterstützt durch ein institutionelles Geflecht aus Thinktanks und Universitäten, die Explosion neuer Formen politischer Subjektivitäten, Entwürfe und Forderungen sowie die gründliche Diskreditierung der realsozialistischen Staaten. Jedes dieser Momente trug dazu bei, die Grundlagen der gesellschaftlichen Nachkriegsordnung in Europa und Amerika aufzulösen. Im Verlauf dieser Entwicklung erwiesen sich alte linke Paradigmen als überholt, und neue wurden ausmanövriert.

Der vielleicht bedeutendste Einschnitt in der Destabilisierung der Nachkriegsordnung fiel in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre. In der globalen Revolte von ’68 traten linke Bewegungen hervor und wurden zum Stichwortgeber, die das durch Parteien und Gewerkschaften artikulierte Koordinatensystem des politischen Kampfes ablehnten. In diesen Bewegungen spielte nicht zuletzt die Geschichte der stalinistische Repression eine Rolle, und dies sowie die Erfahrung der Unterdrückung von Demokratisierungsbestrebungen in Osteuropa durch das Sow­jetregime führten dazu, kommunistische Parteien in den Augen vieler junger europäischer Linker zu diskreditieren. Infrage gestellt wurde so zugleich die Relevanz einer leninistischen Strategie zur Eroberung der Staatsmacht und der Führungsanspruch einer revolutionären Partei, deren Bündnis von Klassenkräften die industrielle Arbeiterklasse in den Mittelpunkt stellte.28 Doch wie konnte wirklich emanzipatorisches Handeln aussehen, wenn selbst »erfolgreiche« Revolutionen langfristig in sklerotischer Technokratenherrschaft und politischer Repression endeten? Die Hierarchie und der Avantgardeanspruch kommunistischer Parteien jedenfalls schienen mit den Zielen der sich herausbildenden sozialen Bewegungen zunehmend unvereinbar.

Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, unter kommunistischer Führung den Übergang in postkapitalistische Verhältnisse zu bewerkstelligen, waren die Aussichten für eine linke Übernahme der Staatsmacht in den Industriestaaten der 1960er und 1970er Jahre eher gering, insbesondere angesichts der in der Linken sich entwi­ckelnden Fraktionierungen. Die Revolte des Mai ’68 in Frankreich, bei der die französische Kommunistische Partei bemerkenswerterweise den gewerkschaftlichen und studentischen Gruppen die Unterstützung verweigerte, markierte vermutlich das Ende der Aussichten auf eine politische Revolution. Die Sozialdemokratie mit ihren keynesianisch-korporatistischen Antworten auf soziale Ungleichheit hatte sich zunehmend einverstanden mit dem Bestehenden gezeigt und war deshalb weder in der Lage noch gewillt, sich in Richtung eines emanzipatorischen Sozialismus zu bewegen. Der Sozialdemokratie war es gelungen, die Lage bestimmter Gruppen erheblich zu verbessern, doch sie blieb ein autoritäres Unternehmen mit paternalistischer Rollenverteilung, das in der Regel Frauen und ethnische Minderheiten ausschloss. Wohlfahrtsstaatliche Politik entsprach einer Art der Organisation des Kapitalismus, dem Fordismus, der ein ungewöhnliches Niveau gesellschaftlicher Kohäsion schuf. Es war genau diese gesellschaftliche Kohäsion, die sich Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre aufzulösen begann: durch die massenhafte Artikulation neuer Bedürfnisse (beispielsweise nach mehr Flexibilität der Arbeit) wie auch durch neue, nachdrücklich formulierte politische Forderungen (nach Race- und Gender-Gleichheit ebenso wie nach nuklearer Abrüstung, nach Freiheit der sexuellen Orientierung oder gegen den Imperialismus des Westens). Ende der 1960er Jahre waren es solche neuen Herausforderungen, für die es aus den Reihen des vorhandenen sozialdemokratischen Personals keine Antworten mehr gab, und unter dem Druck von Wahlen begann sich die Sozialdemokratie von einer Massenpartei der Arbeiterklasse in eine zunehmend auf Bündnisse und Koalitionen angewiesene Partei der Mittelklasse zu verwandeln.29 Die in den sozialdemokratischen Parteien noch verbliebenen radikalen Elemente wurden zunehmend bedeutungslos.

Die Parteiform befand sich im Niedergang, und das Erschrecken über die Realität der Herrschaft in den sogenannten kommunistischen Ländern spielte dabei ebenso eine Rolle wie die Enttäuschung über die Sozialdemokratie. Aus den Reihen der Neuen Linken gab es weitere Kritik: Frauen kritisierten die anhaltende Marginalisierung ihrer Stimme, die sie selbst in aktivistischen Gruppen, darunter auch vermeintlich radikalen Organisationen erfahren hatten. Gerade in den unverkennbar hierarchisch gegliederten Strukturen, wie Parteien und traditionelle Gewerkschaften sie aufwiesen, perpetuierten sich herrschende patriarchale und sexistische Verhältnisse, die auch die Gesellschaft insgesamt prägten. Um der gesellschaftlichen Unterdrückung etwas entgegenzusetzen, experimentierten Feministinnen verschiedentlich mit neuen Formen in der politischen Organisierung. Zu nennen wären etwa die Einführung eines Konsensprinzips bei Entscheidungsprozessen oder auch egalitäre, »horizontale« Diskussionsstrukturen. Jahrzehnte später sollte Occupy Wall Street damit weltweit bekannt werden.30 Neben feministischen Gruppen war gerade die studentische Neue Linke an den Universitäten bei allen sonstigen politischen Unterschieden häufig explizit antiautoritär und lehnte Bürokratie oder sogar formelle Organisationen insgesamt ab.31 Viele setzten in ihren politischen Taktiken vornehmlich auf die Wirkung direkter Aktion und waren durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und frühe studentische Gruppen, aber auch durch die Ideen der Situationisten in Europa, durch die Politik anarchistischer Strömungen und die Anfänge der Umweltbewegung beeinflusst.32 Es ist der Entstehungszusammenhang der für die spätere Folk-Politik charakteristischen Orientierungen und Vorgehensweisen: von Sit-ins, Haus- und Platzbesetzungen bis hin zu karnevalesken Straßenprotes­ten und »Happenings«. Jede dieser politischen Taktiken entwickelte sich als eine Möglichkeit, das Funktionieren der Machtstrukturen im Alltag zu unterbrechen, die »normalen« Formen gesellschaftlicher Regulierung außer Kraft zu setzen und egalitäre Räume der Diskussion und Auseinandersetzung zu schaffen. Derartige Interventionen hatten nicht nur die Veränderung der Gesellschaft, sondern gleichermaßen auch die der Beteiligten zum Ziel und sollten kommende Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens vorwegnehmen.

Die damals entstehenden Bewegungen unterschieden sich in ihrem Aufbau und Aussehen, bezogen sich auf vielfältige Subjektivitäten, Räume und Bereiche, und sie verfolgten die verschiedensten Strategien und Taktiken. Doch jede von ihnen artikulierte auf ihre je eigene Art neue Bedürfnisse und Forderungen, die sich nicht ohne Weiteres in den traditionellen Formen linker Politik unterbringen ließen. Möglicherweise sind all diese Strömungen und Bewegungen als Ausprägungen eines allgemeinen »antisystemischen« politischen Phänomens jener Zeit zu betrachten.33 Rund um die Welt gab es Tendenzen, die Macht bürokratischer Apparate infrage zu stellen oder anzugreifen und auf ganz neue Formen direkter Aktion zu setzen, und sie reichten von den studentischen und feministischen Gruppen oder der Black-Power-Be­we­gung in den USA über die Situationisten, die Studenten- und Gewerkschaftsbewegungen sowie den antistalinistischen Prager Frühling in Europa bis zu den studentischen Revolten in Mexiko oder Tokyo und zur chinesischen Kulturrevolution.34 Im Extremfall war antisystemische Politik überzeugt, jegliche Form politischer Macht zeige immer schon unterdrückerische, patriarchale und bevormundende Züge.35 Das politische Handeln steht so vor einer paradoxen Situation: Kommt es in irgendeiner Form zu Verhandlungen oder zu einem Kompromiss mit bestehenden Machtstrukturen, erscheint die Neue Linke korrumpiert und vereinnahmt; entscheidet sie sich hingegen, jenen Strukturen fern zu bleiben, so wird sie die Gesellschaft nicht über jenen kleinen Bereich hinaus verändern können, der bereits von ihren Inhalten überzeugt ist.36 Die in vielen der antisystemischen Bewegungen formulierte Kritik an den etablierten Formen staatlicher, kapitalistischer und altlinker bürokratischer Macht trifft im Großen und Ganzen zu. Dennoch bot antisystemische Politik wenig Mittel, eine neue Bewegung zu schaffen, die in der Lage gewesen wäre, der kapitalistischen Hegemonie entschieden entgegenzutreten.

Das Vermächtnis jener sozialen Bewegungen war ein ambivalentes. Die durch sie artikulierten Vorstellungen, Werte und neuen Bedürfnisse wirkten weltweit nach; die Stärkung feministischer und antirassistischer Positionen, die Rechte Homosexueller und die Kritik an bürokratischen Apparaten bleiben wichtige Fixpunkte. In dieser Hinsicht stellten jene Bewegungen ein absolut notwendiges Moment linker Selbstkritik dar, und das Erbe folkpolitischer Taktiken hat dort seine historischen Wurzeln. In den unruhigen Jahren, die auf den Aufbruch folgten, zeitigte die Unfähigkeit oder der fehlende Wunsch, die radikaleren Seiten jener politischen Bewegungen hegemonial werden zu lassen, allerdings ebenfalls weitreichende Konsequenzen.37 Die neuen sozialen Bewegungen waren zwar imstande, eine Reihe neuer und mächtiger Vorstellungen menschlicher Freiheit zu artikulieren, doch scheiterten sie daran, die taumelnde sozialdemokratische und wohlfahrtsstaatliche Ordnung zu ersetzen.

 

Ausmanövriert

Mitten im Aufschwung der neuen sozialen Bewegungen begannen die ökonomischen Voraussetzungen des wohlfahrtsstaatlichen Konsenses sich aufzulösen. Die 1970er Jahre erlebten enorm steigende Energiepreise, den Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, eine zunehmende Globalisierung von Kapitalströmen, anhaltende Stagflation und sinkende Profitraten des Kapitals.38 Das grundlegende politische Arrangement der Nachkriegsepoche fand damit ein Ende: die einzigartige Verbindung aus keynesianischer Wirtschaftspolitik, fordis­tisch-korporatistisch geprägter Industrie und einem weithin getragenen wohlfahrtsstaatlichen Konsens darüber, einen Teil des gesellschaftlichen Surplus den Arbeitenden zugutekommen zu lassen. Mit der strukturellen Krise bot sich weltweit sowohl rechten wie auch linken politischen Kräften eine Gelegenheit, ein neues hegemoniales Projekt zu lancieren, das einen Ausweg aus der Krise versprach.

Die Rechte sah es als ihre Aufgabe an, der Kapitalakkumulation und der Profitrate wieder auf die Beine zu helfen. Letzten Endes ließ sich diese Herausforderung dank der weltweiten Durchsetzung neoliberalen Denkens meistern, doch bereits vorher bemühten sich rechte Kräfte in Großbritannien und den USA, den politischen Einfluss der alten wie der neuen Linken auszumanövrieren. Zu einem ganz zentralen Hebel wurde die Strategie, die Krise des Kapitalismus politisch und ökonomisch der Macht der Gewerkschaften anzulasten.

Die schließliche Niederlage der organisierten Arbeiterbewegung in allen wichtigen kapitalistischen Ländern war möglicherweise der entscheidende Durchbruch des Neoliberalismus: Sie veränderte das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital entscheidend. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels waren vielfältig und reichten von physischen Angriffen und Auseinandersetzungen über Gesetze, die Solidaritätsaktionen und Arbeitskämpfe erschwerten, bis zur Einführung veränderter Produktions- und Distributionsabläufe (wie etwa die Flexibilisierung der Lieferketten), die die gewerkschaftliche Macht schwächten. Hinzu kamen propagandistische Offensiven, um die öffentliche Meinung und den gesellschaftlichen Konsens zu beeinflussen und auf breiter Front die neoliberale Agenda durchzusetzen.39 Ganz entscheidend wurden die individuelle Freiheit und eine sogenannte negative Solidarität: nicht nur ein Desinteresse für gewerkschaftliche Anliegen, sondern ein aggressives und wütendes Gefühl ständiger Benachteiligung, das sich dadurch auszeichnet, die wachsenden Zumutungen im eigenen Arbeitsleben (wie Nullrunden beim Lohn, die Streichung von Zulagen, eine sinkende Rente) auch allen anderen zu wünschen. Im Ergebnis führten solche Veränderungen in allen Industrieländern zu einer Schwächung der Gewerkschaften und zu einer Niederlage der arbeitenden Klassen.40

Der Rechten gelang es, sich in der strukturellen Krise erfolgreich zu behaupten und ihre politische und wirtschaftliche Macht zu festigen; die Bewegungen der alten und neuen Linken hingegen waren außerstande, der neuen Kräftekonstellation entschieden entgegenzutreten. In den 1970er Jahren war es sozialistischen und sogar kommunistischen Parteien in Westeuropa sukzessive geglückt, bei Parlamentswahlen zuzulegen; doch in der sich entwickelnden Krise setzte die alte Linke einfach nur darauf, an der überkommenen korporatistischen Agenda festzuhalten.41 Doch angesichts der veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen waren die bekannten keynesianischen Instrumente nicht länger geeignet, Wachstum zu generieren, die Erwerbslosigkeit einzudämmen oder die Inflationsrate zu senken. Linke und sozialdemokratische Regierungen, wie die der Labour Party in Großbritannien, sahen sich daher in den 1970er Jahren letztendlich gezwungen, eine im Kern neoliberale Politik zu machen, aus dem vergeblichen Bemühen heraus, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen.42 Die traditionelle Arbeiterbewegung war geschlagen und wurde – apathisch und erstarrt, wie sie sich zeigte – von den Kräften der Rechten vereinnahmt. Die Kritik der Neuen Linken blieb insofern für die Erneuerung und Weiterentwicklung der Linken insgesamt unverzichtbar. Doch nicht nur die Organisationen der alten Linken waren in vieler Hinsicht ideenlos, auch die Neue Linke zeigte sich – wie oben bereits angemerkt – außerstande, sich institutionell zu verankern und ein gegenhegemoniales Projekt zu artikulieren. Das Ergebnis war eine zunehmend marginalisierte Linke.

Mit der Ausbreitung und Konsolidierung des neoliberalen Common Sense akzeptierten auch die verbliebenen Sozialdemokratien mehr und mehr dessen Spielregeln. Die Mehrheit aller großen Parteien trug nun im Grunde das ökonomische und politische Programm des Neoliberalismus mit. Immer mehr Bereiche des öffentlichen Dienstes wurden privatisiert. Die Chancen, an der Wahlurne maßgebliche Veränderungen herbeiführen zu können, sanken dramatisch. Ein weit verbreiteter Zynismus begleitete den Bedeutungsverlust der Parteien: Parteipolitik nahm immer stärker Züge von Werbekampagnen an, Politiker wurden zu Krämern degradiert, die Ladenhüter loszuschlagen versuchten.43 Die Beteiligung und das Interesse an Wahlen sanken im gleichen Maß, in dem das neoliberale Koordinatensystem Zustimmung fand. Eine postpolitische Zeit begann. Heute sind Wähler weithin politikverdrossen, die Wahlbeteiligung erreicht immer neue historische Tiefststände. Unter solchen Umständen gewinnt das folkpolitische Insistieren auf schnellen Ergebnissen und einer basisnahen partizipatorischen Demokratie eindeutig an Attraktivität.

Den neuen sozialen Bewegungen kam in diesem Prozess eine ambivalente Rolle zu. In den 1990er Jahren hatte die Arbeiterklasse als das privilegierte politische Subjekt endgültig ausgedient, und an ihre Stelle trat ein breites Spektrum sozialer Identitäten, Entwürfe und Widerstände.44 Mit immer komplexeren Ansätzen wurde das Funktionieren ineinandergreifender Machtstrukturen untersucht, und es entstand eine Vorstellung intersektioneller Unterdrückung.45

Kultureller Wandel, aber auch die politische Unterstützung durch den Mainstream führten dazu, dass Inhalte und Forderungen feministischer, antirassistischer und queerer Bewegungen zu einem nicht unerheblichen Teil gesellschaftliche Anerkennung und sogar Eingang in die Gesetzgebung fanden. Alles in allem jedoch gab es trotz solcher Erfolge ein Rollback, verglichen mit den radikalen Forderungen, wie sie in den 1970er Jahren formuliert worden waren, als weitaus tiefgreifendere Veränderungen der Gesellschaft möglich schienen. So haben Feministinnen beispielsweise bei Zielen wie Einkommensgleichheit, einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder der Verbesserung der Kinderbetreuung politisch einiges erreicht, doch gemessen an Zielen wie dem der Abschaffung der Geschlechter bleibt dies alles blass.46

Vergleichbares lässt sich für die Befreiungsbewegungen der Schwarzen feststellen: Während zahlreiche Gesetze gegen rassistische Diskriminierung am Arbeitsplatz und anderswo in Kraft traten, blieb die radikale Programmatik, mit der die Bewegungen einst angetreten waren, außen vor.47

Vieles heute Erreichte, das auf die neuen sozialen Bewegungen zurückgeht, bleibt innerhalb des durch die Hegemonie des Neoliberalismus gesteckten Rahmens, stellt Markt­vorstellungen in den Mittelpunkt, denkt in liberalen Rechts­begriffen und ist in einer Rhetorik der freien Entscheidung artikuliert. Die radikaleren, antikapitalistischen Aspekte jener Aufbrüche hingegen finden sich beiseite gedrängt.

Alles in allem sehen wir also den Zusammenbruch der traditionellen Organisationen der Linken und die gleichzeitige Herausbildung einer politischen Alternative, der Neuen Linken, die sich mit Leidenschaft der Kritik bürokratischer und vertikaler Strukturen, von Exklusion und institutioneller Verknöcherung widmete, verbunden mit dem Umstand, dass es der Apparatur des Neoliberalismus gelang, sich eine Reihe der neuen politischen Forderungen einzuverleiben. Vor diesem Hintergrund sedimentierten folkpolitische Vorstellungen und bildeten einen neuen Common Sense, wie er in den Bewegungen für eine andere Globalisierung schließlich seinen Ausdruck fand.48 Deren Entstehungsgeschichte hatte zwei Phasen. Die erste reichte von Mitte der 1990er bis in die frühen 2000er Jahre und war gekennzeichnet durch Bewegungen wie die Zapatistas, durch antikapitalistische und altermondialistische Gruppen, durch die Weltsozialforen und globale Proteste gegen den Krieg. Eine zweite Phase setzte unmittelbar nach Beginn der Finanzkrise ab 2007 ein, und die Akteure waren verschiedene Gruppen, die vor allem ähnliche organisatorische Formen und ideologische Positionen einten, darunter die Occupy-Bewe­gung, der Movimiento 15-M in Spanien und auch einige studentische Bewegungen in verschiedenen Ländern. All diese sozialen Bewegungen suchten die Konfrontation mit dem Neoliberalismus und seinen Statthaltern in Regierungen und Konzernen, wobei zunächst der Schwerpunkt mehr auf dem Welthandel und den Organisationen globaler Governance lag, während später Finanzsphäre, Ungleichheit und Schulden stärker in den Fokus rückten.49 Beeinflusst von früheren sozialen Bewegungen neigt dieser jüngste Zyklus von Kämpfen und Auseinandersetzungen politisch vor allem zu lokalen Themen und spontanen Aktionsformen, zu einer horizontalen Organisierung und zu einer antistaatlichen Perspektive. Zur offenkundigen Attraktivität von Folk-Politik trägt der Zusammenbruch traditioneller linker Organisationsformen ebenso bei wie die Einbeziehung sozialdemokratischer Parteien in eine »alternativlos« erscheinende neoliberale Hegemonie oder das Gefühl der Machtlosigkeit, das die politische Leere gegenwärtiger Parteipolitik hervorruft. In einer Welt, deren wirklich ernsten Probleme alle auf eine unlösbare Weise komplex wirken, verspricht Folk-Politik einen Weg, eine egalitäre Zukunft hier und jetzt vorwegzunehmen. Aus sich heraus allerdings ist eine solche Politik außerstande, längerfristig die Kräfte zu mobilisieren, die tatsächlich in der Lage wären, dem Kapitalismus weltweit nicht nur Widerstand entgegenzusetzen, sondern ihn auch zu überwinden.