Die Zukunft erfinden

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Ausblick

Die Kritik von Folk-Politik, die wir in diesem Buch vorstellen, bemüht sich ebenso sehr um eine Situationsbeschreibung wie sie sich als Warnung versteht.50 Tendenziell sind heute sowohl die Mehrheitslinke als auch die radikale Linke bereit, auf eine solche Politik einzuschwenken. Wir möchten dazu beitragen, diesen Trend umzukehren. Die erste Hälfte unseres Buchs setzt es sich daher zum Ziel, der zunehmenden Dogmatisierung heutiger politischer Strategien und Praxisformen entgegenzutreten. Ausgehend von einer kritischen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen politischen Feldes ist Kapitel 2 bemüht, die Beschränktheiten des folkpolitischen Ansatzes nachzuzeichnen und zu analysieren. Kapitel 3 zeigt, wie der Neoliberalismus auf den Weg des Erfolges einschwenkte, während die Linke es versäumte, Hegemonie aufzubauen und sich breiter zu verankern. In der zweiten Hälfte des Buchs umreißen wir ein linkes Projekt globaler und universeller Emanzipation, als eine Alternative zu Folk-Politik. Kapitel 4 argumentiert, eine zukunftsorientierte Linke müsse die Modernisierungsinitiative zurückerobern und nachdrücklich für Fortschritt und universelle Befreiung eintreten. Kapitel 5 skizziert die wichtigsten Tendenzen des gegenwärtigen Kapitalismus und legt dabei den Akzent insbesondere auf die Krise der Arbeit und die gesellschaftliche Reproduktion. Die analysierten Tendenzen verlangen eine Antwort, und wir meinen, die Linke sollte anfangen, progressive gesellschaftliche Kräfte politisch zu mobilisieren. Im Gegensatz zur heute herrschenden Konzentration auf Schulden und Ungleichheiten nimmt Kapitel 6 das Ende der Arbeitsgesellschaft in den Blick. Die Kapitel 7 und 8 widmen sich einigen Schritten, die notwendig sind, um das Ziel zu erreichen, etwa der Frage einer gegenhegemonialen Bewegung und des politischen Potentials der Linken. Der Schluss betrachtet die Dinge noch einmal aus einem etwas größeren Abstand und denkt über das Projekt der Moderne aus der Perspektive einer Linken nach, die in die Zukunft schaut und dabei das Ziel universeller Befreiung nicht aus den Augen verliert. So beruht dieses Buch auf einer einfachen Überzeugung: dass eine moderne Linke heute sich weder mit dem System arrangieren und einfach so weitermachen noch in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehren kann, sondern sich der Aufgabe stellen muss, eine neue Zukunft zu schaffen.

Kapitel 2
Eine Kritik der Linken heute

Goldman Sachs kümmert es nicht, ob du Hühner aufziehst.

Jodi Dean

Eine Bilanz der Enttäuschungen und Niederlagen des jüngsten Zyklus von Auseinandersetzungen und Kämpfen gehört zu den wichtigsten Aufgaben der heutigen Linken. In der politischen Praxis, von den globalisierungskritischen Bewegungen bis Occupy, hatten folkpolitische Orientierungen Hochkonjunktur. Warum scheiterten jene Bewegungen, trotz beachtlicher Mobilisierung von Menschen und Leidenschaften, warum gelang ihnen keine nennenswerte Veränderung des politischen Status quo? Verschiedentlich wird angeführt, die politischen Unzulänglichkeiten heutiger linker Bewegungen ließen sich durch ihre Klassenzusammensetzung erklären, insofern die Arbeiterklasse in ihnen unterrepräsentiert sei, oder auch durch ein Übergewicht reformistischer und liberaler Vorstellungen.51 Andere machen geltend, das Problem liege in der Natur des Systems, jeder Versuch radikaler Veränderung scheitere an unüberwindlichen Hürden. Solcherart Erklärungsversuche treffen den Punkt jedoch bestenfalls zum Teil. Das Problem sind, wie wir im Folgenden zu zeigen versuchen, in erster Linie die folkpolitischen Annahmen, die den strategischen Horizont linker Politik begrenzen.

Wie wir oben bereits gesehen haben, entwickelte sich Folk-Politik als eine Reaktion auf die zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse an einem bestimmten Punkt in der Geschichte linker Bewegungen im 20. Jahrhundert. Das vorliegende Kapitel wird untersuchen, wie die im Laufe der Zeit herausgebildeten folkpolitischen Haltungen für wichtige Stränge heutiger linker Politik prägend wurden. Der Anspruch lautet dabei nicht, das gesamte Feld aktueller sozialer Bewegungen abzudecken, sondern es geht vor allem um politisch signifikante Momente in der radikalen Linken der vergangenen fünfzehn Jahre. Auch ist keine der von diesen Bewegungen verfolgten politischen Taktiken per se problematisch, denn die Vor- und Nachteile eines bestimmten Vorgehens lassen sich nur beurteilen, wenn man den gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext ebenso berücksichtigt wie die allgemeine Strategie, um diese Verhältnisse zu verändern. Die prinzipielle Schwäche der Linken heute ist daher in der gegenwärtigen Situation zu verorten – gekennzeichnet durch eine im Wesentlichen durch die Imperative des globalisierten Kapitalismus determinierte Welt, in der folkpolitische Strategien sich ganz auf das Lokale und das Spontane konzentrieren. Zunächst werden wir eine der meistverbreiteten politischen Tendenzen der vergangenen fünfzehn Jahre beleuchten, nämlich den sogenannten Horizontalismus, die politische Präferenz für »Horizontalität«, um uns im Anschluss der allgemeinen Konzentration auf die lokale Dimension sowie der Neigung zu eher reaktiver Politik zuzuwenden, wie sie sowohl den Mainstream als auch die radikalen Strömungen linker Politik prägen.

Horizontalismus

Bereits in den 1970er Jahren setzten soziale Bewegungen in den USA auf »horizontale« Strukturen, später propagierten die Zapatistas, altermondialistische Gruppen und schließlich die »Bewegung der Plätze« das Prinzip, und heute ist der Horizontalismus in der radikalen Linken weithin dominant.52 Horizontalistische Bewegungen reagierten auf die gescheiterten Strategien politischen Wandels, die im 20. Jahrhundert auf den Staat gesetzt hatten, und traten stattdessen dafür ein, die Gesellschaft »von unten« zu verändern, um die Verhältnisse insgesamt umzuwälzen.53 Wollten sie – wie es einmal formuliert wurde – »die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen«, so stand das in einer langen theoretischen und praktischen politischen Tradition, die vom Anarchismus über die verschiedenen Strömungen des libertären und des Rätekommunismus bis zur Autonomie reicht.54 Herzstück der Bewegungen ist die Ablehnung des Staates und anderer formeller Institutionen, während die Gesellschaft selbst als der Ort gilt, von dem jedwede radikale Veränderung ihren Ausgang nimmt. Dem Horizontalismus geht es politisch nicht um Hegemonie, die als herrschaftsförmig zurückgewiesen wird, sondern er setzt auf eine Politik der Affinitäten.55 Horizontalistische Bewegungen appellieren weder an den Staat, noch wollen sie dessen vertikale Machtstrukturen übernehmen, sondern treten dafür ein, dass Individuen sich aus freien Stücken assoziieren, eigene selbstbestimmte Gemeinschaften aufbauen und ihr Zusammenleben regeln. In groben Zügen vereinen horizontalistische Vorstellungen somit vier politische Grundsätze:

1. das Zurückweisen jeder Form von Herrschaft,

2. das Eintreten für direkte Demokratie und/oder konsensuelle Entscheidungen,

3. das Eintreten für eine Politik, die Modellcharakter hat, und

4. die Betonung direkter Aktion.56

Diese Grundsätze bergen indes eine Reihe von Problemen, die das Spektrum der Möglichkeiten im Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus beschränken.

Die Ablehnung von Herrschaft in allen ihren Formen ist vielleicht das hervorstechendste Merkmal des Horizontalismus.57 Indem die Bewegungen die in der alten Linken vorhandene Fokussierung auf Staat und Kapital hinter sich lassen, richten sie das Augenmerk auf die vielfältige Art und Weise, wie andere (rassistische, patriarchale, sexistische, ableistische etc.) Herrschaftsverhältnisse die Gesellschaft strukturieren. Zweifellos ist es ein bedeutender Fortschritt, wenn viele in der heutigen radikalen Linken sich solche Einsichten zu eigen machen und die Beseitigung jedweder Form von Unterdrückung ins Zentrum ihrer politischen Praxis stellen – eine Perspektive, die unseres Erachtens jede ernstzunehmende linke Politik zu übernehmen hat. Doch die Möglichkeiten horizontalistischer Bewegungen, Herrschaft und Unterdrü­ckung zu überwinden, stoßen häufig an folkpolitisch begründete Grenzen. Im Bemühen, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse unmittelbar abzuschaffen, laufen die Bewegungen Gefahr, fortbestehende und unter Umständen weniger offensichtliche Formen von Herrschaft zu übersehen, oder aber sie scheitern daran, dauerhafte politische Strukturen zu errichten, um neu entstehende gesellschaftliche Verhältnisse abzustützen.

Das Engagement gegen jede Form von Herrschaft ist eng verbunden mit der Kritik der Repräsentation, sowohl konzeptionell als auch politisch. Im Kern führt das zu einer Ablehnung hierarchischer Strukturen, wie sie repräsentative Politik in der Regel auszeichnen.58 Angesichts der Korruption, die Gewerkschaften und die liberale Demokratie untergräbt, münde Repräsentation, so die verbreitete Meinung, unausweichlich in Selbstbedienungsmentalität und in einer Annäherung an die herrschenden Eliten. Solche Strukturen sollten daher durch Formen direkter Demokratie ersetzt werden, die stärker auf politisches Handeln in erster Person und somit auf Unmittelbarkeit statt auf Vermittlung setzen.59 Vorgestellt wird eine Demokratie »von Angesicht zu Angesicht«, die als authentischer, ungekünstelter und daher eher resistent gegen die Herausbildung von Hierarchien gilt.60 Politische Entscheidungen sollen nicht von Repräsentanten getroffen werden, sondern von Individuen, die für sich selbst sprechen.61 Direkte Demokratie wird so letzten Endes zu einem Grundwert, gestützt auf die folkpolitische Vorstellung, Unmittelbarkeit sei in jedem Fall besser als Vermittlung. Nicht die Mehrheit, die Einhaltung parlamentarischer Regeln oder das Diktat eines Zentralkomitees sollen den Ausschlag geben, sondern das eigentliche Ziel ist in vielen Fällen Konsens.62 Debatten und Handeln haben möglichst alle einzuschließen, die Prozesse der Entscheidungsfindung als solche, nicht nur die Ergebnisse sollen respektiert werden.63 Nun sind Formen partizipatorischer Demokratie verständlicherweise für viele Menschen attraktiv, zumal im Licht des sinnentleerten und ritualisierten Auftretens heutiger repräsentativer Demokratie.64 Viele Beteiligte sprechen etwa von der Empowerment-Erfahrung, die aus konsensorientierten Entscheidungsprozessen erwachse.65 Größtmögliche Inklusivität und Konsens gelten per se als Wert, Verfahren und Vorgehensweisen werden daher wichtiger als strategische Überlegungen und Ziele.

 

Direkte Demokratie, Konsens und Inklusivität sind unter Vorzeichen der Horizontalität Momente einer Politik, die Modellcharakter haben soll und die darauf abzielt, im Hier und Jetzt eine Welt zu schaffen, wie sie sein sollte. Die Verpflichtung auf eine solche »präfigurative« Politik hat in der Linken eine lange Tradition, insbesondere im Anarchismus seit den Zeiten Kropotkins und Bakunins, doch erst in jüngster Zeit wurde sie zum Merkmal maßgeblicher Strömungen in der linken Politik. Früher hieß es immer, nach der Revolution würden Hierarchie und Exklusion von selbst verschwinden, doch war es für Frauen und People of Color nur ein schwacher Trost, wenn weiße Männer an der Spitze linker Organisationen ihre Belange wieder einmal ignorierten. Statt daher auf die eines Tages vielleicht kommende Revolution zu warten, setzt präfigurative Politik darauf, augenblicklich eine neue Welt zu schaffen – und auch hier schwingt die implizite Vorstellung mit, die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt sei einem Herangehen überlegen, das auf Vermittlung baut. Präfigurative Politik bemüht sich so im besten Fall, utopische Impulse aufzunehmen und die Zukunft bereits im Heute konkret werden zu lassen.66 Im schlechtesten Fall indes wird aus dem präfigurativen Beharren das Dogma von der notwendigen Übereinstimmung der Mittel und Ziele, das zudem die strukturellen Bedingungen ausklammert, die einem solchen Anspruch entgegenstehen.67

Das Ziel ist eine Welt, die im Hier und Jetzt geschaffen werden soll; da man sich nicht auf vermittelnde Institutionen verlassen kann (oder zumindest darauf verzichten will), muss politisches Handeln notwendigerweise die Form direkter Aktion annehmen. Solcherart politische Praxis umfasst ein breites Spektrum möglicher Taktiken, die vom theatralischen Protest im Stil der Situationisten bis zu wilden Streiks, von der Blockade von Häfen bis zu Brandanschlägen gegen im Bau befindliche Luxuswohnungen reichen. Deutlich wird auch hier das Wirken folkpolitischer Vorstellungen, das Herausstellen des unmittelbaren, direkten und intuitiven Handelns. Gewiss sind Formen direkter Aktion in manchen Fällen erfolgreicher und sinnvoller als ein einfacher Protest, etwa wenn sogenannte Anti-Homeless-Spikes – vor Gebäuden angebrachte Spitzen aus Metall, um Obdachlose abzuwehren – mit Beton ausgegossen werden oder wenn in Arbeitskämpfen die Taktik des Bummelstreiks zum Einsatz kommt.68 Doch wie wir noch sehen werden, reichen solche Taktiken häufig nicht aus, auf Dauer die Dinge zu verändern; sie bleiben isoliert und stellen sich der Macht von Staat und Kapital nur vorübergehend in den Weg.

Direkte Demokratie, präfigurative Politik und direkte Aktion sind wohlgemerkt keineswegs per se ein Fehler.69 Es geht nicht darum, solche Formen von vornherein abzulehnen, sondern das Urteil über ihre Nützlichkeit vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Situation und der darin verfolgten strategischen Ziele zu fällen – ob sie also imstande sind, tatsächlich Macht auszuüben, um herbeigeführte Veränderungen dauerhaft zu verteidigen. Tatsächlich ist es im komplexen, globalisierten Kapitalismus höchst unwahrscheinlich, dass kleine Interventionen durch relativ begrenzte Aktionen jemals in der Lage sein werden, das gesamte sozio-ökonomische System umzuorganisieren. Wie wir später noch zeigen werden, hat das taktische Repertoire des Horizontalismus durchaus seinen Nutzen, doch nur in Verbindung mit anderen, stärker vermittelten Formen politischer Organisierung und Praxis.

Doch zunächst beenden wir unseren kurzen Überblick über die theoretischen Grundsätze des Horizontalismus sowie die damit verbundenen allgemeinen Fragen und wenden uns im Folgenden zwei wichtigen Sequenzen in der politischen Geschichte des 21. Jahr­hun­derts zu, um die praktische Möglichkeiten, aber auch die folkpolitischen Beschränkungen zu beleuchten, die horizontalistischen Bewegungen innewohnen. Als bemerkenswerte Beispiele des Horizontalismus untersuchen wir zum einen die in der Finanzkrise nach 2008 entstandene Occupy-Bewegung, zum anderen die argentinische Erfahrung im Gefolge des Staatsbankrotts von 2001. In beiden Fällen begegnen wir tatsächlichen Erfolgen ebenso wie den offensichtlichen Grenzen derartiger Ansätze.

Occupy

Die signifikanteste politische Umsetzung horizontalistischer Vorstellungen in jüngster Vergangenheit zeigte die »Bewegung der Plätze«. Eine (Platz-)Besetzung setzt zwar keineswegs eine horizontalistische Koordination voraus (und tatsächlich gibt es eine lange militärische Vorgeschichte), doch die große Mehrheit der Besetzungen seit 2008 weist die beschriebenen Organisationsprinzipien auf.70 Die Welle von Besetzungen öffentlicher Plätze schwappte bis 2011 auf 950 Städte weltweit über, und jede dieser Aktionen artikulierte lokale politische und ökonomische, kulturelle und Klassenbelange. Im Folgenden werden wir das Scheitern der Occupy-Bewegungen im Westen untersuchen, da in den entwi­ckelten kapitalistischen Ländern der politische Misserfolg die Unzulänglichkeiten folkpolitischen Denkens deutlich werden lässt.71

Bemerkenswert ist zunächst, dass es zu jenem Scheitern kam, obgleich eine große Vielfalt unterschiedlicher Ansätze unter der Bezeichnung Occupy subsumiert wurde. In den USA beispielsweise reichte das Spektrum von Occupy Wall Street bis Occupy Oakland, von dogmatischer Gewaltfreiheit bis zum offenen Antagonismus, vom öfter einmal verwirrten Liberalismus bis zur libertär-kom­munistischen Militanz.72 Doch es gab nicht nur regionale Unterschiede, auch die Beteiligten offenbarten die verschiedensten ideologisch-politischen Einstellungen, deren Spannbreite einen reformistischen Liberalismus ebenso wie antikapitalistische und aufrührerisch anarchistische Positionen einbegriff, antietatistischen Kom­munismus oder gewerkschaftlichen Aktivismus ebenso wie einen oberflächlichen Libertarismus, der sich vor allem gegen die Federal Reserve, die US-Notenbank, richtete. Hinzu kam eine weit verbreitete Abneigung gegen das Artikulieren politischer Forderungen, was es noch schwieriger machte, so etwas wie eine politische Einheit der Occupy-Bewegung zu entdecken.

Es lässt sich relativ leicht begreifen, warum so viele motiviert waren, sich der Bewegung anzuschließen. Der horizontalistische Charakter von Occupy gab den Leuten die Möglichkeit, sich in und gegenüber einer Gesellschaft zu äußern, die ihre Stimmen kaum einmal wahrnahm.73 Insbesondere in den USA führt der Zustand der auf Wahlen und zwei große Parteien zentrierten Demokratie dazu, dass für politische Debatten nur unglaublich wenig Raum bleibt. Die in der Occupy-Bewegung geradezu explosionsartig aufgekommenen Slogans und artikulierten Bedürfnisse verweisen auf viel unterdrückten Ärger; politische Ansprüche, die ansonsten unbekannt geblieben wären, traten nunmehr auf vielfältige Weise hervor. Selbst Menschen, die sich nicht direkt an den Besetzungsaktionen beteiligten, bot Occupy eine Plattform. Zu einem Forum entwickelte sich beispielsweise die Tumblr-Site We Are The 99 Percent, die einen Chor von Stimmen versammelte, die gegen ökonomische Verelendung und soziale Exklusion protestierten.74 Ohne dass es direkte politische Folgen gehabt hätte, war die Gelegenheit, der eigenen Frustration öffentlich Luft zu machen, vielen Ausgeschlossenen Inspiration und Ermutigung.

Occupy unterbrach für Beteiligte und Beobachter gleichermaßen Alltag und Normalität. So wurde die Möglichkeit geschaffen, sich in ein gemeinsames politisches Projekt einzubringen. »Selbstbestimmtes Handeln führt den Menschen ihre eigene Macht vor Augen«, wie es ein Beobachter formulierte.75 An Orten wie Oakland drängten die Aktivisten des Öfteren auf eine stärkere Radikalisierung der Politik, während die üblichen Vermittlungsinstanzen (wie etwa gemeinnützige Organisationen) weiter um Mäßigung bemüht waren. Occu­py war, wie viele andere Protestbewegungen auch, ein Weg, der die Beteiligten radikalisierte, insbesondere angesichts des unverhältnismäßigen und brutalen Vorgehens der Polizei. Die Besetzungen sollten, so wurde erwartet, eine neue Welt vorbilden; doch auch wenn diese neue Welt weiterhin erst noch entstehen musste, demons­trierten die Bewegungen den Beteiligten zweifellos, was politische Solidarität bewirken konnte.76

Von den besetzten öffentlichen Orten gingen ferner, über ihre Wirkung innerhalb der Bewegungen hinaus, Aktionen aus, die sich gegen das politische System insgesamt richteten, etwa bei den Protestcamps gegen G8-Treffen.77 In den meisten Fällen handelte es sich um Demonstrationen und Kundgebungen, und die Occupy-Camps dienten dabei als Räume kollektiver Entscheidungsfindung. Darüber hinaus waren die besetzten Plätze Orte, an denen die Beteiligten Aktionsformen trainieren, also beispielsweise Akte zivilen Ungehorsams oder den Umgang mit polizeilicher Repression, sowie Informationen austauschen konnten, etwa über ihre gesetzlichen Rechte.78 Allgemein lässt sich feststellen, dass sich in den Besetzungen die Infrastruktur der Bewegungen in der »realen« Welt am offenkundigsten manifestierte. Gleichzeitig waren die besetzten Plätze häufig (doch keineswegs immer) Orte, an denen gesellschaftlich besonders Marginalisierte, insbesondere Obdachlose, Unterstützung fanden.79 Vielleicht am wichtigsten aber war, dass die Occupy-Camps – und insbesondere das im Zuccotti Park in New York City – nachdrücklich ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit rückten und so viele ansonsten gewöhnlich ignorierte Themen in der breiteren Öffentlichkeit und bei staatlichen Stellen Beachtung fanden.80 Zumindest eine Zeit lang gelang es Occupy, die Aufmerksamkeit des publizistischen Mainstream in Presse und Fernsehsendern auf die Frage ökonomischer Gerechtigkeit zu lenken, was angesichts des zutiefst neoliberalen Common Sense in den Medien ein wirklicher Erfolg war.

Ungeachtet solcher Verdienste gibt es wichtige Fragen, an denen Occupy scheiterte. Verschiedene Kommentatoren aus den Bewegungen selbst haben bereits einige benannt, darunter auch die Tatsache, dass die Inklusivitätsrhetorik eine Reihe von Ausschlüssen – aufgrund von Race, Gender, Einkommen oder frei verfügbarer Zeit – bemäntelt.81 In den Handlungsweisen und Vorstellungen von Occupy wurden zudem folkpolitische Beschränkungen deutlich, was letztlich dazu führte, dass die Bewegung außerstande war, sich territorial auszudehnen, sich längerfristig zu halten oder sich politisch zu verallgemeinern. Gewiss hatten manche Strömungen in der Occupy-Bewegung gar nicht die Absicht, sich zu entfalten, zu halten oder zu verallgemeinern. Und manche Intellektuellen der Horizontalität (wenn auch nicht alle) betonen die besondere Dynamik einer relativ kurzlebigen, spontanen Politik oder vertreten die Auffassung, Beständigkeit sei »nicht unbedingt eine Tugend«.82 Doch beabsichtigt oder nicht, die in der Praxis der Bewegungen zum Ausdruck kommende Tendenz, zeitlich, räumlich und konzeptionell allein auf Unmittelbarkeit zu setzen, schwächte sie insgesamt und hinderte sie, kurzlebig wie sie waren, ihre grundlegenden Ziele ernsthaft zu verfolgen.

Ein Erkennungszeichen von Occupy war das horizontalistische Beharren auf direkter Demokratie. Nun kann eine solche die unterschiedlichsten Formen annehmen, und sie charakterisiert Arbeiterräte ebenso wie etwa die Demokratie der Schweizer Kantone. Bei Occupy wurde die General Assembly oder Vollversammlung zum dominanten Merkmal einer praktizierten direkten Demokratie.83 Angesichts der Erosion bestehender demokratischer Prinzipien eine neue Art demokratischen Handelns zu schaffen, gehörte zu den am weitesten verbreiteten politischen Ambitionen der Proteste.84 Indes wirkt auch direkte Demokratie unausweichlich restriktiv, sobald man sie als ein Ziel an sich verabsolutiert. Zunächst einmal erfordert diese Form demokratischen Handelns ein Niveau der Mitwirkung und des Engagements, das nur äußerst schwierig aufrechtzuerhalten ist. Ein Entwurf wie Parecon beispielsweise, ein Projekt partizipatorischer Ökonomie, sieht Verfahren direkter Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen vor. In einer solchen Welt »nach dem Kapitalismus« würden Versammlungen der Beteiligten in jeder Verästelung des Alltags über jedes Detail entscheiden – schwerlich eine besonders inspirierende Vorstellung.85 Ähnliche Situationen entstanden in vielen Occupy-Versammlungen, wo selbst die banalsten Fragen akribisch im Kollektiv behandelt wurden.86 Die erbitterte Debatte, die während des Camps im Zuccotti Park über eine Gruppe lärmender Trommler entbrannte, bietet nur ein besonders absurdes Beispiel. Doch der eigentliche Punkt ist, dass direkte Demokratie ein erhebliches Maß an Beteiligung und Engagement verlangt – mit anderen Worten zunehmend Arbeit macht. In einem Augenblick revolutionären Enthusiasmus mag eine solche zusätzliche Belastung folgenlos bleiben, doch sobald die Normalität wieder Einzug hält, tritt sie einfach zu den gewöhnlichen Mühen des Alltags hinzu.87 Diese Zusatzbelastung durch die direkte Demokratie ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil auch sie tendenziell exklusiv wirkt: Wer es nicht einrichten kann, persönlich anwesend zu sein, wem größere Gruppen unangenehm sind oder wer Schwierigkeiten hat, öffentlich zu sprechen, der oder die wird ausgeschlossen – nicht zu vergessen all die anderen Exklusionsfaktoren wie Gender und Race, die ebenfalls eine Rolle spielen.88 Mit zunehmender Dauer der Besetzungen platzten General Assemblies immer häufiger, einfach unter der Last der Erschöpfung und des Überdrusses der Beteiligten. Das Problem der Demokratie heute, so lässt sich daraus schließen, besteht nicht darin, dass die Leute darauf aus wären, jeden einzelnen Aspekt ihres Lebens zu diskutieren und zu entscheiden; das wirkliche Demokratiedefizit liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass Durchschnittsmenschen jegliche Mitwirkung an wirklich bedeutenden gesellschaftlichen Entscheidungen entzogen ist.89 Die direkte Demokratie von Occupy ist eine Reaktion auf dieses Problem, doch versucht sie es zu lösen, indem sie Demokratie als direkte, körperliche Erfahrung inszeniert, die jedwede Vermittlung ablehnt. Hinzu kommt die Vorliebe für räumliche Unmittelbarkeit, die jede territoriale Ausbreitung hemmt. Einfach gesagt: Direkte Demokratie bedarf kleiner, überschaubarer Gemeinwesen. Bemerkenswerterweise wurde von den Hunderttausenden auf dem Tahrir-Platz in Kairo keine Vollversammlung einberufen, und selbst bei Occupy Wall Street nahm an der General Assembly nur ein Bruchteil der insgesamt Aktiven teil.90 Die Mechanismen und Ideale direkter Demokratie, die Diskussion von Angesicht zu Angesicht, sorgen dafür, dass eine solche Form politischer Beteiligung jenseits überschaubarer Gemeinwesen nur schwer zu realisieren ist und kaum als Antwort auf die Probleme der Demokratie auf regionaler, nationaler oder gar globaler Ebene gelten kann. Zudem ignoriert die räumliche Beschränkung direkter Demokratie die regressiven Aspekte kleiner sozialer Zusammenhänge. Nicht selten sind in solchen Gemeinschaften die aggressivsten Formen von Xenophobie, Homophobie und Rassismus zu Hause, und bösartige Gerüchte sowie alle möglichen sonstigen Arten rückwärtsgewandten Denkens gedeihen hier. Kleine Gemeinschaften, wie direkte Demokratie sie voraussetzt, sind für eine moderne linke Bewegung kein erstrebenswertes Ziel. Zudem kann eine partizipatorische Demokratie gut auf sie verzichten, insbesondere wenn sie sich der heute verfügbaren Kommunikationstechnologien bedient.

 

Im Bemühen um Konsens ein grundlegendes Ziel politischer Willensbildung zu sehen, ist eine weitere folkpolitische Einschränkung von Occupy. Konsens sollte dazu dienen, Entscheidungen für alle akzeptabel zu machen, was wiederum Unmittelbarkeit und Nähe voraussetzt. Der Anarchist David Graeber stellt fest: »Es ist in einer Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt, viel leichter herauszubekommen, was die meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft tun wollen, als herauszufinden, wie man die Ansichten derjenigen ändern kann, die das nicht wollen.«91 Doch was auf der einen Ebene – nämlich im Rahmen der erwähnten Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt – gut funktioniert, lässt sich auf einer erweiterten Stufenleiter ungleich schwerer umsetzen. Im Fall einer relativ heterogenen Bewegung wie Occupy drückte sich das Bemühen um Konsens unausweichlich in Forderungen aus, die, wenn sie überhaupt zustandekamen, nichts weiter als den kleinsten gemeinsamen Nenner formulierten.

Letztlich glorifizierte man die Absenz gezielter Forderungen wortreich als irgendwie radikal. Innerhalb der Bewegung kursierte das Argument, Forderungen wirkten polarisierend und spaltend; insofern sie an »institutionelle« Mächte wie etwa den Staat appellierten, entfremdeten sie die Bewegung von sich selbst und verantworteten, dass jene Mächte die Bewegung vereinnahmten.92 Kritikerinnen einer solchen Position haben hingegen auf die durchaus vorhandenen positiven Aspekte einer Polarisierung hingewiesen: Zugespitzte Forderungen mögen manche Beteiligte verschrecken, doch gleichzeitig wirken sie mobilisierend auf andere, die sich für ihre Anliegen stärker engagieren. Und darüber hinaus tragen Zuspitzungen dazu bei, politische Differenzen innerhalb der Bewegung herauszuarbeiten – Differenzen, die in der Praxis häufig ignoriert werden, obwohl sie sich möglicherweise als unüberbrückbar erweisen.93

Auch die plakative Ablehnung jeglicher Form vertikaler Organisation bei Occupy stellte ein Problem dar, das sich insbesondere im Verhältnis zu anderen, mit den Zielen der Bewegung sympathisierenden politischen Gruppierungen zeigte. Während die Bewegungen in Ägypten und Tunesien nachdrücklich die Verbindung zu bestehenden politischen Strukturen der Arbeiterbewegung in ihren Ländern suchten, lehnten die Occupy-Bewegungen im Westen solche Beziehungen weithin ab.94 Die Ablehnung jeglicher vertikalen Organisation nun führte zu dreierlei: erstens zu einer häufig lähmenden Entscheidungsfindung. Wenn Occupy aktiv wurde, ging die eigentliche Aktion in der Regel von einer Untergruppierung aus, die auf eigene Faust handelte, und nur selten von der Vollversammlung mit ihren Konsensentscheidungen.95 Anders gesagt: Horizontalität führte nicht zur politischen Praxis. Zweitens lehrt die Erfahrung, dass hierarchische Organisationsstrukturen von wesentlicher Bedeutung sind, wenn es darum geht, eine Bewegung gegen die Staatsmacht zu verteidigen. Die Verteidigung der Besetzung gegen die polizeiliche Repression war nicht ein Verdienst der Horizontalität, sondern hierarchisch organisierter Gruppierungen, die ihre Mitglieder mobilisierten, um Occupy zu unterstützen.96 In Ägypten spielten Fußballfans und religiöse Organisationen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung des Tahrir-Platzes gegen die Gewalt des Staates und der Reaktion.97 Drittens schließlich war die Ablehnung vertikaler Organisationsformen ein wichtiges Moment, das einer räumlichen und zeitlichen Expansion der Bewegung entgegenstand. Verbindungen zu Gewerkschafts- oder Bürgerrechtsgruppen und selbst zu politischen Parteien hätten Occupy Möglichkeiten jenseits folkpolitischer Beschränkungen bieten können. In Ägypten beispielsweise waren es organisierte Arbeiter, die den Massenprotest in einen (Beinahe‑)Ge­neralstreik verwandelten, der das Land lahmlegte und dem Mubarak-Regime den letzten Stoß versetzte.98 In Island, Griechenland und Spanien waren Verbindungen zu politischen Parteien hilfreich und konsolidierten die politischen Erfolge der Besetzungsbewegungen. Occupy hingegen unternahm niemals Schritte, wie sie notwendig gewesen wären, wollte man gesellschaftliche Strukturen umwälzen – trotz des expliziten Bemühens, die eigenen Vorstellungen zu propagieren, und trotz der tatsächlich gewonnenen öffentlichen Aufmerksamkeit.