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Zwanzig Jahre nachher

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XI
Mißgeschick

D’Artagnan hatte kaum diese Worte gesprochen, als ein Pfiff auf der Felucke ertönte, welche in den Nebel und die Dunkelheit zu dringen anfing.

»Das bedeutete etwas, wie Ihr wohl begreift,« sprach der Gascogner.

In diesem Augenblick sah man eine Stocklaterne auf dem Verdecke erscheinen und Schatten auf dem Hintertheil hervorheben. Plötzlich durchdrang ein schrecklicher Schrei, ein Schrei der Verzweiflung den Raum, und als ob derselbe die Wolken vertrieben hätte, entfernte sich der Schleier, der den Mond verbarg, und man sah an dem von einem bleichen Lichte versilberten Himmel das graue Segelwerk und die schwarzen Taue der Felucke abgezeichnet.

Schatten liefen auf dem Schiffe hin, ein klägliches Geschrei begleitete diese wahnsinnigen Spaziergänger.

Mitten unter diesem Geschrei erblickte man Mordaunt, welcher auf dem Hackbord, eine Fackel in der Hand, erschien.

Die auf dem Schiffe umherlaufenden Schatten waren Groslow und seine Leute, welche er zu der von Mordaunt bezeichneten Stunde versammelt hatte, während der Letztere, nachdem er an der Thüre der Kajüte gehorcht, ob die Musketiere noch schliefen, durch ihr Stillschweigen beruhigt, in den Raum hinabgestiegen war.

In der That, wer hätte ahnen können, was vorgefallen war?

Mordaunt hatte dem zufolge die Thüre geöffnet und war zu der Lunte gelaufen. Glühend, wie ein nach Rache dürstender Mensch, und derselben sicher, wie die von Gott Geblendeten, legte er Feuer an den Schwefel.

Während dieser Zeit hatten sich Groslow und seine Leute auf dem Hintertheile versammelt.

»Holt das Tau an,« sprach Groslow, »und zieht die Schaluppe zu uns.«

Einer von den Matrosen schwang sich auf den Rand des Schiffes, nahm die Kabel und zog sie an. Die Kabel ging ohne irgend einen Widerstand zurück.

»Die Kabel ist abgeschnitten!« rief der Matrose, »kein Boot mehr!«

»Wie? kein Boot mehr!« rief Groslow. und stürzte nach der Schanzkleidung vor, »das ist unmöglich!«

»Doch ist es möglich,« sprach der Seemann. »Seht nur selbst. Nichts mehr im Soge und hier das Ende des Taues.«

Da hatte Groslow das Gebrüll ausgestoßen, welches von den Musketieren gehört worden war^

»Was gibt es denn?« rief Mordaunt, der aus der Luke hervorkommend, seine Fackel in der Hand, ebenfalls nach dem Hintertheile lief.

»Unsere Feinde entkommen uns; man hat das Tau abgeschnitten und sie fliehen mit dem Nachen.«

Mordaunt machte nur einen Sprung bis in die Kajüte, deren Thüre er mit dem Fuße eintrat.

»Leer!« rief er. »Oh! die Teufel!«

»Wir verfolgen sie,« sagte Groslow; »sie können nicht ferne sein, und wenn wir sie erreichen, bohren wir die Schurken in den Grund.«

»Ja, aber das Feuer!« erwiderte Mordaunt; »ich habe Feuer angelegt.«

»An was?«

»An die Lunte.«

»Tausend Donner!« brüllte Groslow, nach der Luke eilend, »vielleicht ist es noch Zeit.«

Mordaunt antwortete nur durch ein furchtbares Lachen, und die Züge mehr vom Hasse, als vom Schrecken verstört, suchte er den Himmel mit seinen wilden Augen, um ihm eine Blasphemie zuzuschleudern. Zuerst warf er seine Fackel in das Meer, dann stürzte er sich selbst nach.

In demselben Augenblick und als Groslow den Fuß auf die Treppe der Luke setzte, öffnete sich das Schiff, wie der Krater eines Vulkans, eine Feuergarbe warf sich mit einer Explosion, der von hundert zu gleicher Zeit donnernden Kanonen ähnlich, zum Himmel empor, die Luft entzündete sich, durchfurcht von ebenfalls entzündeten Trümmern, dann verschwand der gräßliche Blitz, die Trümmer fielen hinter einander zischend in den Abgrund, in welchem sie erloschen, und, abgesehen von einem Vibriren in der Luft, hätte man nach einem Augenblick glauben sollen, es wäre nichts vorgefallen.

Es war nun die Felucke von der Oberfläche des Meeres verschwunden und Groslow und seine drei Leute hatten dabei ihren Untergang gefunden.

Die vier Freunde hatten Alles gesehen; keine von den Einzelheiten dieses furchtbaren Dramas war ihnen entgangen. Einen Augenblick Übergossen von dem blendenden Lichte, das die See auf mehr als eine Meile erhellte, hätte man sie, jeden in einer andern Stellung, erblicken können, jeden den Schrecken ausdrückend, den sie insgesamt, trotz ihrer ehernen Herzen, unwillkürlich empfanden. Bald fiel der Flammenregen um sie her nieder; dann erlosch der Vulkan, wie wir erzählt haben, und Alles kehrte in die Dunkelheit zurück. Die Barke schwamm und das Meer brauste.

Sie verharrten einen Augenblick in tiefem Stillschweigen. Porthos und Aramis, welche jeder ein Ruder genommen hatten, hielten dasselbe maschinenmäßig über dem Wasser und preßten es mit ihren krampfhaften Händen zusammen.

»Meiner Treue,« sprach Aramis, zuerst das Stillschweigen unterbrechend, »diesmal, glaube ich, ist Alles vorbei.«

»Zu Hilfe, Mylord, zu Hilfe!« rief eine klägliche Stimme, deren Töne wie die irgend eines Meergeistes zu den vier Freunden drangen.

Alle schauten sich an, selbst Athos bebte.

»Er ist es, es ist seine Stimme,« sagte er.

Alle beobachteten ein tiefes Stillschweigen, denn Alle hatten, wie Athos, diese Stimme erkannt. Nur wandten sie ihre Blicke mit den erweiterten Augensternen in der Richtung, wo das Schiff verschwunden war, und strengten sich in höchstem Maße an, um die Dunkelheit zu durchdringen.

Nach einem Augenblick sing man an, einen Menschen zu unterscheiden. Er näherte sich kräftig schwimmend.

Athos streckte langsam den Arm gegen ihn aus und zeigte ihn seinen Geführten mit dem Finger.

»Ja, ja,« sagte d’Artagnan, »ich sehe ihn wohl.«

»Abermals er!« sprach Porthos, schnaufend wie der Blasebalg eines Schmiedes. »Ah! ist er denn von Eisen?«

Oh, mein Gott!« murmelte Athos. Aramis und d’Artagnan flüsterten sich Etwas zu. Mordaunt machte noch ein paar Klafter, erhob eine Hand als Nothzeichen über das Meer und rief:

»Habt Mitleid, meine Herren, im Namen des Himmels, meine Kräfte verlassen mich; ich muß sterben!«

Die Stimme, welche um Hilfe flehte, war so beweglich, daß sie das Mitleid im Grunde des Herzens von Athos rege machte.

»Der Unglückliche,« murmelte er.

»Gut,« sprach d’Artagnan, »es fehlte nichts mehr, als daß Ihr ihn beklagtet! In der That, ich glaube, er schwimmt auf uns zu. Denkt er vielleicht, wir werden ihn aufnehmen? Rudert, Porthos, rudert!«

Und ein Beispiel gebend, tauchte d’Artagnan sein Ruder in das Meer. Zwei Ruderstöße entfernten die Barke auf zwanzig Klafter.

»Oh! Ihr werdet mich nicht umkommen lassen, Ihr werdet nicht mitleidlos sein!« rief Mordaunt.

»Oh, oh!« sprach Porthos zu Mordaunt, »ich glaube, wir halten Euch endlich, mein Braver, und um Euch zu retten, habt Ihr keinen andern Hafen mehr, als den der Hölle.«

»Oh, Porthos,« murmelte der Graf de la Fère.

»Laßt mich in Ruhe, Athos. Ihr werdet in der That lächerlich mit Eurer ewigen Großmuth. Ich erkläre Euch, daß ich ihm mit einem Ruderschlage den Schädel zerschmettere, wenn er sich der Barke aus zehn Schritte nähert.«

»Oh, Gnade! flieht mich nicht, meine Herren! Habt Mitleid mit mir!« rief der junge Mensch, dessen keuchender Athem zuweilen, wenn sein Kopf unter der Woge verschwand, das eisige Wasser sieden machte.

D’Artagnan, der, mit dem Auge jede Bewegung von Mordaunt verfolgend, sein Gespräch mit Aramis beendigt hatte, stand auf und rief, sich an den Schwimmer wendend:

»Mein Herr, ich bitte, entfernt Euch. Eure Reue ist von zu neuem Datum, als daß wir ein großes Zutrauen zu derselben haben sollten. Bedenkt wohl, daß das Schiff, in welchem Ihr uns rösten wolltet, einige Fuß unter dem Wasser raucht, und daß die Lage, in der Ihr Euch befindet, ein Rosenbett in Vergleichung mit der ist, in welche Ihr uns zu versetzen gedachtet, und in die Ihr Herrn Groslow und seine Gehilfen versetzt habt.«

»Meine Herren,« erwiderte Mordaunt mit verzweiflungsvollem Tone, »ich schwöre Euch, daß meine Reue wahr ist. Meine Herren, ich bin so jung, bin kaum dreiundzwanzig Jahre alt! Meine Herren, ich ließ mich durch einen sehr natürlichen Groll hinreißen, ich wollte meine Mutter rächen, und Ihr hättet Alle dasselbe gethan.«

»Bah!« sprach d’Artagnan, als er sah, daß Athos immer weicher wurde, »je nachdem.«

Mordaunt hatte kaum noch drei bis vier Klafter zu machen, um die Barke zu erreichen. Das Herannahen des Todes schien ihm übermenschliche Stärke zu verleihen.

»Ach!« rief er, »ich soll also sterben! Ihr wollt den Sohn tödten, wie Ihr die Mutter getödtet habt! Und dennoch war ich nicht schuldig: nach allen göttlichen und menschlichen Gesetzen muß ein Sohn seine Mutter rächen. Wenn es ein Verbrechen ist,« fügte er die Hände faltend bei, »so muß es mir vergeben werden, da ich es bereue, da ich um Verzeihung bitte.«

Dann, als ob ihm die Kräfte mangelten, schien er sich nicht mehr über dem Wasser halten zu können, und es ging eine Welle über seinem Kopfe hin, die seine Stimme erstickte.

»Oh! das zerreißt mir das Herz,« sprach Athos.

Mordaunt erschien wieder.

»Und ich,« versetzte d’Artagnan, »ich sage, daß ein Ende werden muß. Herr Mörder Eures Oheims, Herr Henker des Königs Karl, Herr Brandstifter, ich fordere Euch auf, in den Grund zu fahren, oder wenn Ihr Euch der Barke noch um eine einzige Klafter nähert, zerschmettere ich Euch den Kopf mit meinem Ruder.«

Mordaunt schwamm wie in Verzweiflung eine Klafter. D’Artagnan nahm sein Ruder mit beiden Händen. Athos stand auf.

»D’Artagnan! d’Artagnan!« rief er; »mein Sohn, ich flehe Euch an! Der Unglückliche wird sterben, und es ist furchtbar, einen Menschen sterben zu lassen, ohne ihm die Hand zu reichen, wenn man nichts Anderes zu seiner Rettung zu thun hat. Oh! mein Herz verbietet mir eine solche Handlung. Ich kann nicht widerstehen, er muß leben.«

»Mord und Tod!« erwiderte d’Artagnan, »warum überliefert Ihr uns nicht an Händen und Füßen gebunden diesem Elenden? das wäre schneller geschehen. Oh, Graf de la Fère! Ihr wollt durch ihn umkommen! Wohl, ich, Euer Sohn, wie Ihr mich nennt, ich will es nicht.«

 

Es war das erste Mal, daß d’Artagnan einer Bitte widerstand, welche Athos, ihn seinen Sohn nennend, aussprach.

Aramis zog kalt seinen Degen, den er schwimmend zwischen den Zähnen gehalten hatte.

»Wenn er seine Hand an den Rand des Schiffes legt,« sagte er, »so haue ich sie ihm ab, wie einem Königsmörder.«

»Und ich,« sprach Porthos, »wartet!«

»Was wollt Ihr machen?« fragte Aramis.

»Ich stürze mich in das Meer und erdrossle ihn.«

»Oh, meine Herren!« rief Athos mit einem unwiderstehlichen Gefühle, »laßt uns Menschen, laßt uns Christen sein.«

D’Artagnan stieß einen Seufzer aus. Aramis senkte sein Schwert, Porthos setzte sich wieder.

»Seht/’ fuhr Athos fort, »seht, der Tod ist auf seinem Antlitz ausgeprägt. Seine Kräfte verlassen ihn noch eine Minute, und er sinkt in den Abgrund. Oh? verschont mich mit so furchtbaren Gewissensbissen. Nöthigt mich nicht, ebenfalls vor Scham zu sterben; meine Freunde, bewilligt mir das Leben dieses Unglücklichen. Ich werde Euch segnen, ich werde …«

»Ich sterbe,« murmelte Mordaunt; zu Hilfe!… zu Hilfe!«

»Laßt uns eine Minute gewinnen,« sagte Aramis, sich links gegen d’Artagnan wendend. »Einen Ruderschlag,« fügte er bei, sich rechts gegen Porthos neigend.

D’Artagnan antwortete weder mit der Geberde, noch mit dem Worte. Er fing, an, halb durch die Bitten von Athos, halb durch das Schauspiel, das er vor Augen hatte, bewegt zu werden. Porthos allein gab einen Ruderschlag; da aber dieser Schlag kein Gegengewicht Hütte, so drehte sich nur die Barke und diese Bewegung brachte Athos dem Sterbenden näher.

»Herr Graf de la Fère!« rief Mordaunt, »Herr Graf de la Fère, an Euch wende ich mich, Euch flehe ich an! Habt Mitleid mit mir! … Wo seid Ihr, Herr Graf de la Fère? Ich sehe nichts mehr, …ich sterbe! …Herbei! zu Hilfe!«

»Hier bin ich, mein Herr,« sprach Athos sich vorbeugend und den Arm gegen Mordaunt mit der ihm eigenthümlichen Geberde voll Adel und Würde ausstreckend; »hier bin ich, nehmt meine Hand und steigt in unsere Barke.«

»Ich will lieber nicht zuschauen,« sprach d’Artagnan, »diese Schwäche widerstrebt mir.«

Er wandte sich gegen die zwei Freunde, welche sich nach dem Hintergrunde des Schiffes drängten, als hätten sie denjenigen zu berühren gefürchtet, welchem Athos allein die Hand zu reichen sich nicht fürchtete.

Mordaunt machte eine äußerste Anstrengung, erhob sich, ergriff die Hand, die sich nach ihm ausstreckte, und klammerte sich mit der Heftigkeit der letzten Hoffnung daran.

»Gut,« sprach Athos, »legt Eure andere Hand hierher.«

Und er bot ihm seine Schulter als zweiten Stützpunkt, so daß sein Kopf beinahe den Kopf von Mordaunt berührte und die zwei Todfeinde sich wie zwei Brüder umarmt hielten.

Mordaunt zerdrückte mit seinen krampfhaften Fingern den Kragen von Athos.

»Gut, mein Herr,« sprach der Graf, »nun seid Ihr gerettet. Beruhigt Euch.«

»Ah! meine Mutter,« rief Mordaunt mit einem flammenden Blicke und mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke des Hasses, »ich kann Dir nur ein Opfer bieten, aber es soll wenigstens das sein, welches Du gewählt hättest.’«

Und während d’Artagnan einen Schrei ausstieß, Porthos das Ruder erhob und Aramis eine Stelle aussuchte, um zu schlagen, riß ein furchtbarer Stoß an die Barke Athos in das Wasser. Mordaunt erhob ein Triumphgeschrei, preßte den Hals seines Opfers zusammen und umschloß, um jede Bewegung zu hemmen, die Beine des Unglücklichen mit den seinigen, wie es nur eine Schlange hätte thun können.

Einen Augenblick suchte sich Athos, ohne einen Ton von sich zu geben, auf der Oberfläche des Meeres zu halten, aber das Gewicht zog ihn hinab, und er versank allmälig. Bald sah man nur noch seine langen schwimmenden Haare; dann verschwand Alles, und ein breiter Gischt, der sich ebenfalls nach und nach verlor, deutete allein noch die Stelle an, wo Beide in die Tiefe gesunken waren.

Stumm vor Schrecken, unbeweglich, erstickt durch Entrüstung und Grauen, verharrten die drei Freunde mit gähnendem Munde, mit weit aufgerissenen Augen, die Arme vor sich ausgestreckt. Sie schienen Statuen zu sein, und dennoch hörte man, trotz der Unbeweglichkeit, ihre Herzen schlagen. Porthos kam zuerst zu sich selbst und rief, sich mit vollen Händen die Haare ausraufend, unter einem, besonders bei solchen Menschen herzzerreißenden Schluchzen:

»Oh, Athos, Athos! edles Herz! wehe, wehe über uns, die wir Dich haben sterben lassen!«

»Ja, ja,« wiederholte d’Artagnan, »wehe, wehe!«

»Wehe!« murmelte Aramis.

In demselben Augenblick erneuerte sich mitten in dem weiten von den Strahlen des Mondes beleuchteten Kreise, vier bis fünf Klafter von der Barke, derselbe Wirbel, der die Versenkung bezeichnet hatte, und man sah zuerst Haare, dann ein bleiches Gesicht mit offenen, aber tobten Augen, und endlich einen Körper erscheinen, der, nachdem er sich bis unter die Brust über dem Meere erhoben hatte, sich nach der Laune der Wellen sachte auf den Rücken legte.

In der Brust des Körpers stack ein Dolch, dessen goldner Griff im Monde funkelte.

»Mordaunt! Mordaunt! Mordaunt!« riefen die drei Freunde, »es ist Mordaunt!«

»Aber Athos?« sprach d’Artagnan.

Plötzlich neigte sich die Barke unter einem neuen und unerwarteten Gewichte links, und Grimaud stieß ein Freudengeschrei aus. Alle wandten sich um, und man sah Athos, leichenbleich, das Auge erloschen und die Hand zitternd, sich am Rande des Bootes halten. Acht nervige Arme hoben ihn sogleich empor.und legten ihn in die Barke, wo sich Athos in einem Augenblick, unter den Liebkosungen seiner freudetrunkenen Freunde erwärmt, wiederbelebt fühlte.

»Ihr seid doch nicht verwundet?« fragte d’Artagnan.

»Nein,« antwortete Athos. »Und er?«

»Oh, er ist diesmal, Gott sei Dank! sehr todt. Seht!« und d’Artagnan nöthigte Athos in der Richtung zu schauen, die n ihm andeutete, und zeigte ihm den Leichnam von Mordaunt, der auf den Wellen schwimmend bald untertauchend, bald sich wieder erhob, und die vier Freunde mit einem Blicke voll tödtlichen Hasses zu verfolgen schien.

Endlich sank der Todte in den Abgrund. Athos war ihm mit einem schwermüthigen, mitleidigen Blicke gefolgt.

»Bravo, Athos!« sprach Aramis mit einem Ergüsse, wie man ihn selten bei ihm wahrnahm.

»Ein schöner Stoß!« rief Porthos.

»Ich hatte einen Sohn,« sagte Athos, »ich wollte leben.«

»Endlich,« rief d’Artagnan, »hier hat Gott gesprochen!«

»Ich habe ihn nicht getödtet, das Geschick hat es gethan,« murmelte Athos.

XII
Worin Mousqueton, nachdem er beinahe gebraten worden wäre, fast gefressen wird

Es herrschte lange Zeit ein tiefes Stillschweigen in der Barke nach der furchtbaren Scene, die wir so eben erzählt haben. Der Mond, der sich einen Augenblick gezeigt hatte, als wäre es Gottes Wille gewesen, daß keine Einzelheit dieses Ereignisses vor den Augen der Menschen verborgen bliebe, verschwand hinter den Wolken; Alles versank wieder in die in allen Wüsten und besonders in der flüssigen Wüste, die man den Ocean nennt, so gräßliche Dunkelheit, und man hörte nichts mehr, als das Pfeifen des Westwindes über der Oberfläche der Wellen.

Porthos brach zuerst das Stillschweigen.

»Ich habe viele Dinge gesehen,« sagte er, »aber nichts hat mich so sehr bewegt, als das, was ich so eben mit anschaute. So groß auch die Aufregung bei mir sein mag, so erkläre ich Euch doch, daß ich mich unendlich glücklich fühle. Es ist eine Centnerlast von meiner Brust gefallen, und ich athme endlich frei.«

Porthos athmete wirklich mit einem Geräusch, das dem Spiele seiner Lungen alle Ehre machte.

»Ich meines Theils sage nicht so viel, als Ihr, Porthos,« sprach Aramis; »ich bin noch so sehr erschrocken, daß ich meinen Augen nicht traue, daß ich nicht glaube, was ich gesehen habe, daß ich rings um die Barke her suche und den Elenden, den Dolch in der Hand haltend, den er im Herzen hatte, wieder zu erschauen befürchte.«

»Ich bin ruhig,« versetzte Porthos, »der Stoß ging gegen die sechste Rippe und drang bis an das Heft ein. Ich mache Euch keinen Vorwurf darüber, Athos; stößt man, so muß man so stoßen. Jetzt lebe, jetzt athme ich, jetzt bin ich lustig.«

»Singt nicht so rasch Victoria, Porthos,« sagte d’Artagnan, »denn nie waren wir größerer Gefahr preisgegeben. Gin Mensch wird mit einem andern Menschen fertig, aber nicht mit einem Elemente. Wir sind aber auf der See, mitten in der Nacht, ohne Führer, in einem gebrechlichen Fahrzeuge; wirft ein Windstoß unsere Barke um, so sind wir verloren.«

»Ihr seid «.undankbar, d’Artagnan, ja undankbar, daß Ihr an der Vorsehung in dem Augenblick zweifelt, wo sie uns Alle auf eine so wunderbare Weise gerettet hat. Glaubt Ihr, sie habe uns an ihrer Hand durch so viele Gefahren geleitet, um uns sodann zu verlassen? Nein. Wir sind mit einem Westwinde ab. gefahren und dieser weht immer noch.«

Athos orientirte sich nach dem Polarstern.

»Dort ist der Himmelswagen,« sagte er weiter, »und folglich in dieser Richtung auch Frankreich. Überlassen wir uns dem Winde, und wenn er sich nicht ändert, wird er uns nach der Küste von Calais oder Boulogne treiben. Schlägt die Barke um, so sind wir fünf zusammen so gute Schwimmer, daß wir sie umkehren, oder wenn dies unsere Kräfte übersteigt, uns an sie anhängen können. Wir befinden uns auf dem Wege aller Schiffe, welche von Dover nach Calais und von Portsmouth nach Boulogne gehen. Hinterließe das Wasser ihre Spur, so hätte ihr Sog an der Stelle, wo wir sind, ein Thal gegraben. Wir müssen also nothwendig am Tage eine Schifferbarke finden, die uns aufnimmt.«

»Fänden wir aber keine und der Wind drehte sich nach Norden?«

»Dann wäre es etwas Anderes,« sagte Athos, »wir würden nur auf der andern Seite des atlantischen Meeres Land finden.«

»Das heißt, wir würden Hungers sterben,« sprach Aramis.

»Das ist mehr als wahrscheinlich,« versetzte der Graf de la Fère.

Mousqueton stieß einen zweiten Seufzer aus, welcher noch schmerzlicher klang als der erste.

»He, Mousqueton!« fragte Porthos, »was habt Ihr denn immerwährend zu seufzen? das wird langweilig.«

»Ich friere, gnädiger Herr.«

»Unmöglich,« sprach Porthos.

»Unmöglich?« sagte Mousqueton erstaunt.

»Gewiß. Euer Leib ist mit einer Fettlage bedeckt, die dem Winde jeden Zugang versperrt. Es ist etwas Anderes; sprecht offenherzig.«

»Nun wohl, ja, gerade diese Fettlage, zu der Ihr mir Glück wünscht, erschreckt mich.«

»Und warum dies, Mouston? Sprecht unumwunden. Diese Herren erlauben es Euch.«

»Ich erinnerte mich, gnädiger Herr, daß es in der Bibliothek des Schlosses Bracieux eine Menge Reisebücher gibt, und unter diesen Büchern ist das Werk von Jean Moquet, dem berühmten Reisenden von König Heinrich IV.

»Nun?«

»Gnädiger Herr,« sprach Mousqueton, »in diesen Büchern ist viel die Rede von Seeabenteuern und von Ereignissen, denen ähnlich, welche uns in diesem Augenblicke bedrohen.«

»Fahrt fort, Mousqueton,« sprach Porthos; diese Vergleichung ist höchst interessant.«

»In solchen Fällen, gnädiger Herr, haben die ausgehungerten Reisenden, wie Jean Moquet sagt, die abscheuliche Gewohnheit, einander aufzufressen, und fangen dann …«

»Mit dem Fettesten an!« rief d’Artagnan, der sich trotz der ernsten Lage des Lachens nicht enthalten konnte.

»Ja, gnädiger Herr,« erwiderte Mousqueton, etwas verblüfft über diese Heiterkeit, »und erlaubt mir, Euch zu sagen, daß ich nicht begreife, was hierbei Lächerliches zu finden ist.«

»Dieser brave Mouston ist doch die personificirte Ergebenheit,« sagte Porthos. »Ich wette, Du hast Dich bereits von Deinem Herrn zerstückelt und gespeist gesehen.«

»Ja, gnädiger Herr, obgleich die Freude, die Ihr in mir errathet, redlich gestanden, nicht ohne eine Beimischung von Traurigkeit ist. Ich würde mich jedoch nicht zu sehr beklagen, wenn ich sterbend die Gewißheit hätte, Euch noch nützlich sein zu können.«

»Mouston,« sprach Porthos gerührt, »wenn wir je mein Schloß Pierrefonds wiedersehen, so bekommt Ihr als erbliches Eigenthum für Euch und Eure Nachkommen den eingezäunten Weinberg, der über dem Pachthofe liegt.«

»Und Ihr nennt ihn den Weinberg der Ergebenheit, Mouston,« sprach Aramis, »um auf die spätesten Zeiten die Erinnerung an Euer Opfer fortzupflanzen.«

»Chevalier,« sagte d’Artagnan lachend, »Ihr hättet Mouston ohne großes Widerstreben verspeist, nicht wahr, besonders nach einem dreitägigen Fasten?«

»Oh! meiner Treue, nein,« versetzte Aramis, »Blaisois wäre mir lieber gewesen. Wir kennen ihn noch nicht so lange.«

 

Man begreift, daß während dieses Austausches von Scherzen, wodurch man hauptsächlich aus dem Geiste von Athos die so eben vorgefallene Scene zu entfernen suchte, die Diener mit Ausnahme von Grimaud, welcher wußte, daß die Gefahr jedenfalls über seinem Haupt hingehen würde, durchaus nicht ruhig waren.

Ohne Antheil an dem Gespräche zu nehmen und seiner Gewohnheit gemäß stumm, arbeitete Grimaud auch, ein Ruder in der Hand, aus Leibeskräften.

»Du ruderst?« fragte Athos.

Grimaud machte ein bejahendes Zeichen.

»Warum ruderst Du?«

»Um warm zu haben.«

Während die Andern vor Kälte schnatterten, schwitzte der schweigsame Athos wirklich große Tropfen.

Plötzlich stieß Mousqueton, seine mit einer Flasche bewaffnete Hand über den Kopf erhebend, ein Freudengeschrei aus.

»Oh!« rief er, seine Flasche Porthos reichend, »oh! gnädiger Herr, wir sind gerettet. Die Barke ist mit Lebensmitteln versehen.«

Und rasch unter der Bank suchend, unter welcher er bereits eine kostbare Probe hervorgezogen hatte, brachte er nach und nach ein Dutzend ähnlicher Flaschen, Brod und ein Stück gesalzenes Rindfleisch.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß der Fund Alle, mit Ausnahme von Athos, heiter machte.

»Mord und Tod!« rief Porthos, der, wie man sich erinnert, bereits Hunger hatte, als er den Fuß auf die Felucke setzte, »es ist doch sonderbar, wie solche Gemüthsbewegungen den Magen aushöhlen.«

Und er leerte eine Flasche mit einem Zuge und aß ganz allein ein gutes Drittel von dem Brod und von dem gesalzenen Rindfleisch.

»Nun schlaft oder sucht zu schlafen,« sprach Athos, »ich werde wachen.«

Für andere Menschen, als für unsere kühnen Abenteuerer, wäre ein solcher Vorschlag als Hohn erschienen. Sie waren in der That bis auf die Knochen naß; es ging ein eisiger Wind, und die Gemüthsbewegungen, die sie kurz zuvor erfahren hatten, schienen sie abzuhalten, ein Auge zu schließen. Aber für diese auserwählten Naturen, für diese eisernen Temperamente, für diese gegen jede Anstrengung abgehärteten Körper kam der Schlaf unter allen Umständen zu seiner Stunde, ohne je beim Appell zu fehlen.

Nach einem Augenblick hatte sich auch Jeder voll Vertrauen zu dem Lootsen auf seine Weise gelegt, und Jeder versuchte es, den Rath von Athos zu benützen, welcher, am Steuerruder sitzend und die Augen nach dem Himmel gerichtet, wo er ohne Zweifel nicht allein den Weg nach Frankreich, sondern auch das Antlitz Gottes suchte, seinem Versprechen gemäß allein wach blieb und die Barke auf dem Wege lenkte, den sie zu verfolgen hatte.

Nach einigen Stunden Schlafes wurden die Reisenden von Athos geweckt.

Der erste Schimmer des Tages bleichte das bläuliche Meer, und ungefähr aus zehn Musketenschüsse vorwärts sah man eine schwarze Masse, über der sich ein dreieckiges, schwalbenartig verlängertes Segel ausbreitete.

»Eine Barke,« riefen einstimmig die drei Freunde, während die Lackeien ihrer Seits ihre Freude ebenfalls in verschiedenen Tonarten ausdrückten.

Es war m der That eine dünkirchische Flüte, welche gegen Boulogne segelte.

Die vier Herren, Blaisois und Mousqueton vereinigten ihre Stimmen in einem einzigen Schrei, welcher über der elastischen Oberfläche der Wellen vibrirte, während Grimaud, ohne etwas zu sagen, seinen Hut an das Ende seines Ruders steckte, um die Blicke derjenigen anzuziehen, welche der Ton der Stimmen berühren sollte.

Eine Viertelstunde nachher bugsierte sie das Boot dieser Flüte. Sie bestiegen das Verdeck des kleinen Fahrzeuges. Grimaud bot dem Patron im Auftrage seines Herrn zwanzig Guineen, und bei gutem Winde setzten um neun Uhr Morgens unsere Franzosen den Fuß auf den Boden ihres Vaterlandes.

»Donner und Teufel! wie stark ist man auf diesem Boden,« sagte Porthos, mit seinen breiten Füßen tief in den Sand tretend. »Nun wage man es, Streit mit mir zu suchen, mich schief anzusehen oder mich zu verspotten, und man wird sehen, mit wem man es zu thun hat. Bei Gott! ich würde einem ganzen Königreiche Trotz bieten.«

»Und ich,« sagte d’Artagnan, »ich fordere Euch auf, Eure Herausforderung nicht so laut klingen zu lassen, Porthos, denn es scheint mir, man betrachtet uns hier gar sehr.«

»Bei Gott!« sagte Porthos, »man bewundert uns.«

»Darauf bin ich nicht eitel, das schwöre ich Euch, Porthos,« versetzte d’Artagnan; »ich sehe nur Leute in schwarzen Röcken und gestehe Euch, daß mich in unserer Lage Schwarzröcke erschrecken.«

»Es sind die Schreiber der Kaufleute des Hafens,« sagte Aramis.

»Unter dem andern Cardinal, unter dem großen,« sprach Athos, »wäre man mehr auf uns als auf die Waaren aufmerksam gewesen; aber unter diesem, seid unbesorgt, Freunde, wird man mehr auf die Waaren, als auf uns aufmerksam sein.«

»Ich traue nicht und wende mich nach den Dünen,« sagte d’Artagnan.

»Warum nicht nach der Stadt?« sprach Porthos; »ein gutes Wirthshaus wäre mir lieber, als diese furchtbaren Sandwüsten, welche Gott nur für die Kaninchen geschaffen hat. Ueberdies habe ich Hunger.«

»Macht es, wie Ihr wollt, Porthos; ich aber meines Theils bin überzeugt,« sprach d’Artagnan, »daß für Menschen in unserer Lage das freie Feld das Sicherste ist.«

Ueberzeugt, die Stimmenmehrheit für sich zu gewinnen, wandte sich d’Artagnan nach den Dünen, ohne die Antwort von Porthos abzuwarten.

Die kleine Truppe folgte und verschwand bald mit ihm hinter den Sandhügeln, jedoch nicht ohne die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben.

»Nun laßt uns sprechen,« sagte Aramis, als man ungefähr eine Viertelmeile zurückgelegt hatte.

»Nein, laßt uns fliehen,« versetzte d’Artagnan. »Wir sind Cromwell, Mordaunt, dem Meere, drei Abgründen, welche uns verschlingen wollten, entkommen; wir werden Herrn Mazarin nicht entkommen.«

»Ihr habt Recht, d’Artagnan,« sprach Aramis, »und ich rathe sogar, daß wir uns zu größerer Sicherheit trennen.«

»Ja, ja, Aramis, trennen wir uns,« versetzte d’Artagnan.

Porthos wollte sprechen, um sich diesem Entschlüsse zu widersetzen, aber d’Artagnan machte, ihm seine Hand drückend, begreiflich, er sollte schweigen. Porthos war äußerst gehorsam gegen diese Zeichen seines Geführten, dessen geistige Ueberlegenheit er mit seinem gutmüthgen Charakter stets anerkannte. Er drängte also die Worte zurück, die aus seinem Munde gehen wollten.

»Aber warum uns trennen?« sprach Athos.

»Weil wir, Porthos und ich, von Herrn Mazarin an Cromwell abgeschickt worden sind,« erwiderte d’Artagnan, »und statt Cromwell zu dienen, dem König Karl I. gedient haben, was nicht ganz dasselbe ist. Kommen wir mit den Herren de la Fère und d’Herblay zurück, so ist unser Verbrechen erwiesen. Kommen wir dagegen allein, so bleibt unser Verbrechen zweifelhaft, und mit dem Zweifel führt man die Menschen sehr weit. Ich aber will Herrn Mazarin Land sehen lassen.

»In der That! rief Porthos, »das ist wahr.«

»Ihr vergeßt,« sprach Athos, »daß wir Euere Gefangenen sind, daß wir uns durchaus nicht als unseres Wortes entbunden betrachten, und führt Ihr uns als Gefangene nach Paris …«

»Wahrhaftig, Athos,« unterbrach ihn d’Artagnan, »es thut mir leid, daß ein Mann von Geist, wie Ihr, beständig solche Armseligkeiten ausspricht, worüber Schüler der dritten e erröthen würden. Chevalier,« fuhr d’Artagnan fort, indem er sich an Aramis wendete, der stolz auf sein Schwert gestützt, obgleich er Anfangs eine entgegengesetzte Meinung von sich gegeben hatte, sich bei dem ersten Worte seinem Gefährten angeschlossen zu haben schien, »Chevalier, begreift doch, daß hier, wie immer, mein mißtrauischer Charakter übertreibt. Porthos und ich waren im Ganzen Nichts. Aber wenn man zufällig es versuchte, uns in Euerer Gegenwart zu verhaften, so wird man nicht sieben Menschen fassen, wie man drei faßt. Die Schwerter würden das Sonnenlicht sehen, und die für Jedermann schlimme Angelegenheit würde zu etwas Ungeheurem, das uns alle Vier verderben müßte. Uebrigens, wenn Zweien von uns ein Unglück widerfährt, ist es nicht besser, daß die andern Zwei in Freiheit sind, um Jene aus der Schlinge zu ziehen, um zu graben, zu arbeiten, sie los zu machen; … und dann, wer weiß, ob wir nicht, getrennt, Ihr; von der Königin, wir von Mazarin eine Begnadigung erhalten werden, die man den Vereinigten verweigern würde. Vorwärts, Athos und Aramis? zieht links, Ihr, Porthos, kommt mit mir rechts. Laßt diese Herren nach der Normandie zusteuern, während wir auf dem kürzesten Wege Paris zu erreichen suchen wollen.«