Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis

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Sie spuckte Ving Wipper voller Verachtung ins Gesicht. Er trat zurück, zeigte keine Regung. Langsam wischte er sich mit dem Ärmel ihren Speichel ab.

»Du hast sehr viel Mut, Mädchen«, stellte er fest. Er schaffte sogar ein beinahe anerkennendes Lächeln. »Das muss ich schon sagen. In einer solchen Situation wagt das nicht so bald jemand.«

»Ich bin die Partnerin eines der besten Privatdetektive New Yorks«, stieß Belinda Fox heiser hervor. Ihre Augen funkelten kriegerisch. »Sein Name ist Hank Hogan, und er wird dich bis in den letzten Winkel der Hölle jagen, Ving Wipper. Ganz gleich, was du mir antust … Du bist ein toter Mann!«

Er schlug sie. Mit der Faust. Wie einen Mann. »So darf man mit Ving Wipper nicht reden!«, brüllte er sie an. Speichel flog wie ein Sprühregen von seinen Lippen. Und dann rastete er völlig aus. Er schlug so lange auf sie ein, bis sie das Bewusstsein verlor.

Kapitel 3

»Jack. Schön, dich zu sehen. Seit wann bist du wieder draußen?«

Jack Corrington griente. »Willst du es in Stunden oder in Minuten wissen, Huff?«

Huff McGlone winkte ab. »Hauptsache du bist wieder da.« Er rümpfte seine große Knollennase. Seine Lachfalten waren tief und schattig. »War's schlimm?«

Corrington schüttelte den Kopf. »Nicht besonders.«

»Mit wem warst du zusammen?«

»Kennst du alle nicht.«

»Und was führt dich zu mir?«, erkundigte sich Huff McGlone. »Kann ich irgend etwas für dich tun?«

»Hast du eine Kanone für mich?«

»Sicher. Sicher.« Huff McGlone lachte. »Niemand läuft gerne nackt herum, nicht wahr?«

Jack Corrington nickte. »Du sagst es, mein Freund.« Er stand in der Gowanus Bay auf der Mole. Sonnenstrahlen tanzten wie kleine Blitze auf dem Wasser. Es roch nach Seetang, Motoröl und toten Fischen.

Corrington gegenüber befand sich Huff McGlones weiß gestrichenes Hausboot. Die Esmeralda. Nicht schön. Nicht hässlich. Eine Dutzendware, die ihren Zweck voll erfüllte.

McGlone winkte Corrington einladend zu. »Komm an Bord, Jack. Lass uns eine Flasche Whisky köpfen.«

Corrington schritt grinsend über die wippende Gangway. Er stolperte, fing sich aber gleich wieder. Huff McGlone streckte ihm hoch erfreut beide Hände entgegen.

Er war die Herzlichkeit in Person. Wenn er sich freute, sah man ihm das auch stets an. Jack Corrington ergriff McGlones Hände und drückte sie kräftig.

»Du siehst großartig aus, Junge«, stellte McGlone fest, nachdem er den Freund eingehend gemustert hatte. »Wenn ich nicht wüsste, wo du die vergangenen dreieinhalb Jahre verbracht hast, würde ich nie auf die Idee kommen, dass du ein Ex-Knacki bist.« Er schüttelte den Kopf. »Mann, dreieinhalb Jahre sind schon wieder um. Die Zeit rast dahin …«

Corrington verzog das Gesicht. »Für mich verging sie etwas langsamer.«

»Das ist klar«, gab ihm McGlone Recht.

Er trug weiße Jeans und ein blau-weiß kariertes Hemd. Er war immer gleich gekleidet. Seit vielen Jahren schon. Corrington kannte ihn nur in diesem Outfit. Im Winter trug er über dem weißen Hemd noch eine weiße Jacke.

»Im Knast ist die Zeit anders getaktet«, sagte McGlone. »Aber mir kommt es nicht so vor, als hätte ich dich so lange nicht gesehen.«

»Dein Haar ist schütterer geworden«, stellte Corrington schmunzelnd fest.

Huff McGlone spitzte die Lippen, als wollte er drauf pfeifen, und zuckte mit den Achseln. »Mir soll nichts Schlimmeres passieren. Die Zeit geht an niemandem spurlos vorüber. Der eine verliert seine Haare, der andere seine Zähne. Ich finde Letzteres schlimmer. Komm rein. Lass uns was trinken. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.«

Sie betraten das Hausboot.

»Ist nicht viel größer als deine Zelle im Knast war, nicht wahr?«, sagte McGlone.

Corrington sah sich um. »Aber wesentlich gemütlicher.«

McGlone lachte. »Und man kann jederzeit raus, wenn einem danach ist.«

Corrington hob die Augenbrauen und wiegte den Kopf. »Diesen Vorteil weiß man erst richtig zu schätzen, wenn man eine Zeitlang drinnen war.«

»Da sagst du was Wahres.« McGlone stellte zwei Gläser auf den Tisch. »Setz dich, mein Lieber.«

Corrington nahm Platz.

McGlone holte eine Whiskyflasche, die noch original verschlossen war. Er öffnete sie und schenkte ein. »Der Stoff wird dir gut tun nach dieser langen Zwangsabstinenz«, bemerkte er, während er dem Freund das volle Glas zuschob. »Wie viele Kumpels hast du seit deiner Entlassung schon besucht?«

»Du bist der Erste.«

»Oh. Ich fühle mich geehrt.«

McGlone setzte sich ebenfalls. Sie stießen an und tranken.

»Gutes Feuerwasser«, stellte Corrington lächelnd fest.

»Für ein so erfreuliches Wiedersehen ist das Beste gerade gut genug«, behauptete Huff McGlone. Corrington musste erzählen, wie es ihm drinnen ergangen war. McGlone hörte aufmerksam zu. Sie leerten in dieser Zeit drei Gläser.

Dann holte McGlone einen Revolver, der funkelnagelneu zu sein schien. Vernickelt. Blitzblank.

»Wow!«, sagte Corrington beeindruckt.

»Na?« McGlone lachte so stolz, als hätte er die Waffe selbst angefertigt. »Ist das ein Prachtstück? Es wurde nur einmal damit geschossen.«

»Von wem?«, wollte Corrington wissen.

»Von Morton Granger«, antwortete McGlone.

Corrington wusste, wer Granger war: Ein professioneller Kaltmacher. Er kannte ihn sogar persönlich. »Wen hat er damit umgelegt?«, erkundigte er sich.

»Barry Zane«, gab McGlone zur Antwort.

Corrington staunte. Er hatte auch Barry Zane gekannt. »Zane lebt nicht mehr?«

»Granger auch nicht«, sagte McGlone. »Er wurde eine Woche nach Zane abserviert. Tja, Jack, die Welt hat sich weitergedreht, während du im Gefängnis warst. Es gab hier draußen große Turbulenzen. Eine Menge Leute mussten den Kopf einziehen. Bei manchen hat es genützt, bei anderen nicht. Aber die Wogen haben sich inzwischen wieder geglättet.«

Corrington stellte fest, dass die Waffe geladen war. »Wie viel willst du dafür haben, Huff?«

»Darüber reden wir ein andermal«, erwiderte McGlone. Er schenkte die Gläser wieder voll. »Du nimmst die Kanone erst mal mit, damit du dich besser fühlst. Okay? Ein Mann sollte nicht unbewaffnet durchs Leben gehen. Das hat auch Chuck Heston so gesehen. Erinnerst du dich an den Spruch, den er mal abgelassen hat, als die Debatte losging, alle Amerikaner sollten ihre Waffe abgeben?«

Corrington nickte. »Er sagte: ›Ihr könnt meine Waffe bekommen, wenn ihr sie aus meiner kalten, toten Hand lösen könnt.‹«

»Richtig. Und genauso denke auch ich.« Als die Flasche fast leer war, fragte McGlone: »Hast du vor, dich wieder bei Thandie blicken zu lassen, Jack?«

Thandie Scott war bis vor dreieinhalb Jahren Corringtons Freundin gewesen.

»Hast du mal was von ihr gehört?«, fragte Corrington zurück.

»Sie besitzt jetzt eine kleine, recht gut gehende Dessous-Boutique namens ›Sonata‹«, berichtete McGlone.

»Von wem hat sie das Geld dafür bekommen?«, wollte Corrington wissen.

McGlone trank einen Schluck. »Sie hat sich neu orientiert, nachdem man dich aus dem Verkehr gezogen hat.« Er sah den Freund prüfend an. »Du nimmst ihr das hoffentlich nicht übel.«

»Mit wem ist sie jetzt zusammen?«, erkundigte sich Corrington.

»Mit Craig Travis.«

Es zuckte kurz in Corringtons Gesicht. »Mit diesem Scheißkerl?«

»Sie ist nicht besonders glücklich mit ihm.«

»Hat er die Boutique finanziert?«, fragte Corrington.

McGlone nickte. »Ja.«

»Hast du die Adresse des Ladens?«

»Du kriegst sie, wenn du mir versprichst, keine Dummheiten zu machen.« McGlone sah auf den Revolver, der auf dem Tisch lag. »Ich mag Thandie. Ich möchte nicht, dass ihr was zustößt.«

»Es wird ihr nichts zustoßen«, sagte Corrington. Er setzte ein ehrliches Lächeln auf. »Ich verspreche es. Ich habe nicht die Absicht, ihr etwas anzutun. Weil ich sie genauso mag wie du. Ich habe Verständnis dafür, dass sie sich einen anderen Lover gesucht hat. Sie ist eine rollige Katze. Warum hätte auch sie leiden sollen?« Ein Schatten legte sich über seine Augen. »Mir wäre bloß lieber gewesen, wenn sie sich nicht zu Craig Travis ins Bett gelegt hätte. Aber wahrscheinlich hatte er für sie nach meinem Abgang das beste Angebot.«

»Davon kannst du ausgehen«, sagte McGlone. »Er macht eine Menge Kohle als rechte Hand von Nic Orlando.«

*

Wir wollten Ben Warwick besuchen, doch es kam anders. Der Mann, mit dem wir reden wollten, hatte von seinem Bewährungshelfer einen Job in einem schmierigen Fastfood-Restaurant zugeschanzt bekommen, doch da trafen wir ihn nicht an. Sein Chef sagte verdrossen: »Der ranzige Sack feiert mal wieder krank. Das zweite Mal schon in diesem Monat.«

»Was fehlt ihm?«, erkundigte ich mich.

»Die Krankheit, wenn Sie mich fragen«, grummelte der Chef. »Ist ja auch bequemer, zuhause auf der faulen Haut zu liegen und mit der Freundin eine Nummer nach der andern zu schieben, als hier zu malochen.«

Da wir G-men waren, wollte der Mann natürlich wissen, ob Ben Warwick etwas ausgefressen hatte. Wir sagten Nein. Schließlich galt vorläufig noch die Unschuldsvermutung.

Als wir das Fastfood-Restaurant verließen, um Warwick daheim aufzusuchen, rief Hank Hogan an. Er sagte, er wäre auf dem Weg zu Kimberley Gish.

»Hat sich ihr Zustand verschlechtert?«, fragte ich sogleich besorgt.

»Gebessert«, erwiderte unser bester V-Mann. »Er hat sich erfreulicherweise gebessert, Jesse. Angeblich haben sich ein paar Erinnerungslücken geschlossen.«

 

Ich wollte wissen, wo sich Hank im Moment befand. Er sagte es mir. »Dann hast du etwa zwanzig Minuten zur Klinik«, überlegte ich laut.

»Könnte hinkommen«, bestätigte Hank.

»In zwanzig Minuten können wir die Klinik ebenfalls erreichen«, sagte ich.

»Dann sehen wir uns dort«, sagte Hank und legte auf.

Dr. Foster war im OP, als wir im Krankenhaus erschienen, und sein wesentlich jüngerer Stellvertreter war sehr viel freundlicher, netter und umgänglicher als der Stationsarzt, der sich offenbar selbst nicht besonders leiden konnte. Es freute ihn merklich, dass der Zustand der Patientin einen beträchtlichen Sprung nach vorn gemacht hatte.

Er war noch begeisterungsfähig und nicht so abgestumpft wie Rob Foster. Er brachte uns zu Kimberley Gish und ließ uns mit ihr allein, ohne ein Zeitlimit festzulegen. Diesmal nahm Kimberley auch von Milo und mir Notiz, und sie wirkte sehr viel frischer als bei unserem ersten Besuch. Ihr Blick war auch nicht mehr so verzweifelt und verloren.

»Was ist mit Belinda?«, erkundigte sie sich.

Hank Hogan hob seufzend die Schultern. »Wir suchen sie noch«, antwortete er.

»Ich kann mich an den Überfall erinnern, Hank«, sagte Kimberley. »Es passierte urplötzlich. Die Erinnerung war auf einmal da. Als hätte jemand in meinem Kopf einen Schalter umgelegt.«

Ich trat näher an das Krankenbett heran. »Haben Sie den Kidnapper gesehen, Miss Gish?«, fragte ich mit gedämpfter Stimme.

»Nennen Sie mich Kimberley.«

Ich nickte.

»Ja, ich habe den Mann gesehen«, gab Kimberley zur Antwort. »Aber nur ganz kurz.«

»Können Sie ihn trotzdem beschreiben, Kimberley?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Wie sah er aus? Jedes noch so unbedeutende Detail kann für uns sehr hilfreich sein.«

Sie beschrieb den Täter, und sie brachte es so gut hin, dass ich meinen Optimismus, damit etwas anfangen zu können, für berechtigt hielt.

Wir hörten uns an, was sie sonst noch zu erzählen hatte. Das war dann allerdings nicht mehr allzu viel. Während der blonde Hüne noch bei Kimberley blieb, verließen wir die Klinik. Ich fuhr den Bordcomputer hoch, mit dem mein Sportwagen ausgestattet war, fütterte ihn mit Kimberleys Angaben und wenig später hatten wir ein Foto, einen Namen und eine Adresse. Der mutmaßliche Täter hieß demnach Ving Wipper.

Sein Vorstrafenregister war fast so lang wie der Broadway. Er wurde als extrem gefährlich eingestuft. Ein Psychopath reinster Prägung.

Belinda Fox in der Gewalt eines solchen Menschen zu wissen, ließ auf meinem Kopf graue Haare sprießen. Ich startete hastig den Motor und fuhr los.

Hank Hogans Liste konnten wir vergessen. Keiner von denen, deren Namen der blonde Hüne aufgeschrieben hatte, hatte etwas mit Belindas Entführung zu tun.

Ving Wipper war unser Mann. Ein unberechenbarer Typ, der nicht richtig tickte. Weshalb er Belinda entführt hatte, wussten wir noch nicht.

Das würde er uns verraten müssen, sobald wir ihn hatten. Und auch, wohin er Belinda gebracht hatte, wo sie zur Zeit gefangen gehalten wurde.

»Wipper arbeitet für Nic Orlando«, sagte Milo, während wir zu der Adresse des Verbrechers unterwegs waren.

»Ich habe es gelesen«, gab ich zurück, ohne den dichten Verkehr auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Ob er Belinda in Orlandos Auftrag entführt hat?«

»Wir werden es in Kürze wissen.«

Offiziell war Nic Orlando Geschäftsmann. Er handelte mit Waren aller Art, kaufte und verkaufte Konkursmassen, Ladenhüter oder Waren, die bei einem Brand gerade noch vor den Flammen gerettet werden konnten (denen man das aber ansah) und dergleichen mehr.

Doch das dicke Geschäft machte er auf der kriminellen Seite mit Schutzzöllen, Erpressung, Nötigung, Hehlerei – und was sonst noch alles reichlich Geld einbrachte. Das konnte ihm bisher allerdings noch niemand nachweisen. Stand jetzt etwa auch Kidnapping auf seinem Programm? Wenn ja, warum hatte er Ving Wipper dann nicht aufgetragen, eine Tochter aus reichem Hause, den Sohn eines mächtigen Medien-Tycoons oder die Frau eines betuchten Industriemagnaten zu entführen?

Wir erreichten Wippers Adresse in relativ guter Zeit. Bevor ich klingelte, zogen wir unsere Dienstwaffen. Dann drückte ich auf den Knopf.

Die Tür öffnete sich und im nächsten Moment klirrte Glas. Der Mann, der uns gegenüberstand, hatte vor Schreck seinen Entspannungsdrink fallen lassen, wurde schlagartig bleich und streckte die Hände so hoch, als wollte er den Putz von der Decke kratzen.

Er sah nicht aus wie Ving Wipper. Und er war es auch nicht. Sein Name war David Baxley. Tanzlehrer von Beruf. Er wohnte seit zwei Wochen hier, sagte er.

Das Apartment habe davor einen Monat leer gestanden. Dass Ving Wipper vor ihm hier gewohnt hatte, war ihm zwar bekannt, aber wohin dieser gezogen sei, wisse er nicht, und er habe Wipper auch nie persönlich kennen gelernt.

Ich war enttäuscht und verbarg das auch nicht vor ihm. Wir steckten unsere SIGs weg.

Er hob bedauernd die Schultern. »Tut mir leid, Ihnen nicht helfen zu können.« Sein neugieriger Blick wanderte zwischen Milo und mir hin und her. »Darf ich fragen, weshalb Sie Mr Wipper suchen?«

»Wir brauchen ein paar Antworten von ihm«, erklärte ich ausweichend.

»Er war im Haus nicht besonders beliebt«, sagte Baxley. »Die Nachbarn haben ihn nach Möglichkeit gemieden. Ich bin eigentlich ganz froh, ihm nie persönlich begegnet zu sein. Er soll kein angenehmer Mensch sein.«

Du ahnst nicht, wie glücklich du dich preisen kannst, Ving Wipper nicht zu kennen, dachte ich. Und da war die gefrorene Salami wieder, die mir über die Wirbelsäule strich, weil sich Belinda Fox nach wie vor in der Gewalt dieses unangenehmen Menschen befand.

Da David Baxley so wenig ergiebig war, beendete ich das Gespräch, indem ich auf die Glasscherben und auf die Pfütze zu seinen Füßen wies und sagte: »Entschuldigen Sie, dass wir Sie erschreckt haben, Sir.«

Er winkte ab. »Ist schon in Ordnung.«

Wir gingen.

»Augenblick noch!«, rief uns Baxley plötzlich nach.

Ich drehte mich um.

»Mir ist da gerade etwas eingefallen …«

Wir kehrten zu ihm zurück.

»Ja?«, sagte ich gespannt.

»Da war ein Anruf. Von einer Frau. Wipper hatte Schulden bei ihr. Sie wollte endlich ihr Geld wiederhaben.«

»Um welchen Betrag hat es sich gehandelt?«, wollte mein Partner wissen.

Baxley schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«

»Hat die Frau ihren Namen genannt?«, fragte Milo weiter.

»Ja. Aber er fällt mir im Moment nicht ein.« Baxley sah uns unglücklich an. »Zu dumm, nicht wahr? Vielleicht hätte Ihnen diese Frau weiterhelfen können. Aber woher hätte ich wissen sollen, dass es mal wichtig sein würde, ihren Namen zu behalten?«

Ich gab ihm meine Karte. »Rufen Sie an, sobald Ihnen der Name einfällt, okay?«

Baxley nahm die Karte. Er schaute darauf. »Ja, Agent Trevellian. Das werde ich tun. Sie können sich darauf verlassen.«

*

Jack Corrington stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete Thandie Scotts Dessous-Boutique. Das Geschäft war nicht groß, machte aber einen sehr eleganten Eindruck.

Das Portal bestand aus ochsblutfarbenem Kunstmarmor. Über der Tür und dem Schaufenster stand in silberner Schreibschrift »Sonata«.

Die Auslage war geschmackvoll und dezent dekoriert, und Corrington zählte in der halben Stunde, die er nun schon hier stand, sechs Kunden – fünf Frauen und einen Mann.

Nicht schlecht, dachte Corrington. Thandie scheint ganz gut von dem Geschäft zu leben. Kaum hatte er das gedacht, setzte eine Flaute ein.

»Mal sehen, was sie sagt, wenn sie mich wiedersieht«, murmelte Corrington und überquerte die Fahrbahn. »Entweder springt sie vor Freude an die Decke – oder sie fällt vor Schreck in Ohnmacht.« Er öffnete die Ladentür und trat ein. Thandie war gerade damit beschäftigt, die Ware im Regal zu schlichten. Sie hatte früher schulterlanges sandfarbenes Haar gehabt. Jetzt war sie künstlich erblondet.

An der Länge des Haares hatte sich nichts geändert. Er betrachtete wohlgefällig ihre wohlgeformte Rückseite. Sie hatte weder zu- noch abgenommen. Ihre Figur war noch genauso perfekt wie vor dreieinhalb Jahren, als der gottverfluchte Richter sie gnadenlos voneinander trennte. Und es war nicht mal ein Scheidungsrichter gewesen.

»Hallo, Thandie.«

Sie fuhr herum, hatte seine Stimme sofort erkannt. »Jack!«

Er lachte dunkel. »Ja, Baby. Ich bin wieder frei.«

»Jack. O mein Gott.« Sie legte die schlanken, gepflegten Hände auf ihre Wangen. In ihren Augen glänzten Tränen. Waren es Freudentränen? Oder hatte sie Angst? Sie ließ die Hände sinken, ging auf ihn zu, ging an ihm vorbei, schloss die Tür ab – die Welt sollte jetzt draußen bleiben -, drehte sich zu ihm um und umarmte ihn begeistert. »Schön, dich zu sehen, Jack. Ehrlich. Jesus, wie habe ich dich vermisst.«

»Tatsächlich?« Ihre körperliche Nähe brachte sein Blut in Wallung. Wie früher. Er reagierte noch immer genau so heftig auf sie.

Sie drückte sich an ihn. Er spürte ihre festen Brüste und ihre kräftigen Schenkel. Sie war eine gute Reiterin. Auf dem Pferd und …

»Du glaubst mir nicht?«, fragte sie heiser.

Ihr warmer Atem strich an seinem Ohr vorbei. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Wenn er nicht zuvor bei Chantalle gewesen wäre, hätte er das auch garantiert nicht geschafft. »Na ja, du hast mich kein einziges Mal besucht.« Er sagte es nicht vorwurfsvoll. Es war eine reine Feststellung.

»Du weißt, dass ich einen Horror vor Gefängnissen habe«, rechtfertigte sich Thandie. »Ich kann keinen Knast betreten. Das bringe ich einfach nicht über mich. Aber ich habe sehr oft an dich gedacht. Und ich habe viele Nächte wach gelegen und geweint.«

Er löste sich von ihr. Es war besser so. »Du hast dir eine hübsche Existenz aufgebaut. Bist Geschäftsfrau geworden.«

»Die Boutique läuft zufriedenstellend«, sagte Thandie Scott. »Aber eine Angestellte könnte ich mir nicht leisten. Ich muss alles selbst machen. Wer hat dir von meinem Geschäft erzählt?«

»Huff McGlone.«

»Huff. Wie geht es ihm?«

»Oh, ganz gut.«

»Wohnt er noch immer in diesem kleinen Hausboot?«, erkundigte sich Thandie.

Corrington schmunzelte. »Er würde sich nur dann eine andere Bleibe suchen, wenn man es versenkt.«

»Ich weiß gar nicht mehr, wann ich ihn zuletzt gesehen habe«, sagte Thandie.

»Er hat mir erzählt, wer das hier alles finanziert hat.« Corringtons Geste schloss die gesamte Boutique ein.

Sie schwieg kurz und senkte verlegen den Blick. Schließlich sah sie ihn an und sagte: »Bist jetzt sauer auf mich, Jack?«

»Nein, bin ich nicht.« Er war es wirklich nicht.

»Du weißt, dass ich nicht allein sein kann«, sagte sie kleinlaut.

Er nickte. »Das weiß ich. Du brauchst ständig einen Kerl, der es dir besorgt.«

»So bin ich nun mal«, sagte sie, als würde sie sich ihrer Triebhaftigkeit schämen. »Ich kann es nicht ändern.«

Er runzelte die Stirn. »Aber ausgerechnet Craig Travis.«

»Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«

»Huff hat mir erzählt, dass du mit Craig nicht glücklich bist.«

»Das stimmt«, gab Thandie zu. Sie seufzte. »Aber wenn man bei Craig einmal A gesagt hat …«

»Wärst du bereit, zu mir zurückzukehren, Thandie?«, fragte Corrington. »Könntest du dir vorstellen, wieder mit mir zusammen zu leben?«

»Ich soll Craig verlassen?«

»Darauf würde es hinauslaufen«, antwortete Corrington.

Sie sah ihn betrübt an. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre, Jack. Wenn du … Wenn du Geld hättest … Ich meine ausreichend Geld. Viel Geld. Dann könnte ich die Boutique verpachten oder verkaufen, und wir könnten nach Los Angeles, nach San Franzisko oder sonst wohin ziehen. In irgendeine Stadt, die weit genug von New York entfernt ist, damit uns Craig in Ruhe lässt.«

»Ich werde bald wieder Geld haben, Thandie«, erklärte Corrington. »Ich habe nicht vor, die Hände in den Schoß zu legen und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Ich werde in Kürze wieder arbeiten.«

 

»Aber wenn dabei nicht viel mehr herausschaut als in der Vergangenheit …« Sie sagte es fast wehmütig. »Du müsstest mal ein größeres Ding drehen, Jack. Es müsste sich so richtig lohnen, verstehst du? Mit genügend Geld kann man sich alles richten. Und ich könnte mich auch irgendwie mit Craig arrangieren.«

»Wohnt Craig bei dir?«, erkundigte sich Corrington.

»Nein«, gab Thandie zur Antwort. »Ich habe gleich hier um die Ecke ein Apartment.«

»Und Craig besucht dich?«

»Ja.«

»Wie oft?«, wollte Corrington wissen.

»Dreimal in der Woche. Montag, Mittwoch und Samstag.«

»Und das reicht dir?«, fragte Corrington verwundert.

Thandie zuckte mit den Achseln. »Craig macht die Regeln. Ich muss sie akzeptieren und mich an sie halten.«

»Bleibt er über Nacht?«

»Meistens«, antwortete Thandie.

Er sah ihr tief in die Augen. »Darf ich dich auch mal besuchen?« Er lächelte. »Um zu sehen, ob wir noch so prima zusammenpassen wie früher.«

»Ich hätte nichts dagegen«, gestand Thandie. »Aber wir müssten vorsichtig sein.«

*

»Wir wären soweit, Boss«, kam Craig Travis' Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Ich komme«, sagte Nic Orlando. Er befand sich in seinem luxuriös ausgestatteten Penthouse. Sein Blick wanderte zum Panoramafenster. Brooklyn lag ihm zu Füßen. Ein Ausblick, den er immer wieder genoss. »Hast du Chris und Jeff mitgebracht?«, wollte er wissen.

Chris Keeslar und Jeff Fahey waren vielseitig verwendbare Männer. Mal waren sie Orlandos Leibwächter. Mal fungierten sie als brutale Schläger. Sie verrichteten auch Botengänge oder brachten jemanden auf ihre Weise zur Räson, wenn er nicht richtig spuren wollte.

»Wie gewünscht, Boss«, beantwortete Craig Travis Orlandos Frage.

»Ich bin in zwei Minuten unten.« Der geschäftstüchtige Gangsterboss warf einen prüfenden Blick in den venezianischen Wandspiegel.

Er trug einen rehbraunen Nadelstreifanzug. Selbstverständlich maßgeschneidert. Mit rasiermesserscharfen Bügelfalten. Die Zeiten, wo er seine Anzüge von der Stange gekauft hatte, gehörten schon längst der Vergangenheit an.

Er legte großen Wert auf ein elegantes Outfit. Kleider machen bekanntlich Leute. Die Menschen sollten auf den ersten Blick erkennen, dass sie es mit jemandem zu tun hatten, der in seinem Job erfolgreich war.

O ja, er konnte stolz auf das sein, was er – der kleine verrotzte Junge, den seine heroinsüchtige Mutter in der Gosse geboren hatte - erreicht hatte.

Die alte Schlampe, wie er sie nannte, wenn er überhaupt einmal von ihr sprach, hatte sich vor zwei Jahren mit einem goldenen Schuss verabschiedet.

Er fand, dass sie das schon viel früher hätte tun sollen. Er hatte seine Mutter nie gemocht. Sie war nie für ihn da gewesen, als er sie gebraucht hätte. Und als dann Jahre später sie ihn gebraucht hätte, war er ebenfalls nicht für sie da gewesen. Auge um Auge …

Einen Vater hatte er nie gehabt. Aber jede Menge Onkel. Manche waren gut zu ihm gewesen. Die meisten hatten ihn jedoch nicht gemocht – und er sie nicht. Nic Orlando verließ sein Penthouse und fuhr mit dem Lift nach unten. Als er auf die Straße trat, erwarteten ihn Craig Travis und die beiden Gorillas in einer weißen Stretchlimousine.

Auch Orlandos Männer waren bestens gekleidet. Das war ihm ebenfalls sehr wichtig. Er stieg ein und Travis startete den Motor.

»Wohin, Boss?«, erkundigte er sich.

»Zu Bruce Judd«, antwortete Nic Orlando. »Ich habe mit ihm ein ernstes Wort zu reden.«

Travis griente. Er wusste, was diese Formulierung bedeutete. Und deshalb waren auch Chris und Jeff – die starken Männer - mit von der Partie.

»Wenn du mich fragst, hättest du das schon viel früher tun sollen, Boss.« Travis fuhr los.

»Ich hatte gehofft, er würde von selbst Vernunft annehmen«, brummte Orlando.

Travis lachte. »Bruce Judd? Dieser störrische Kretin versteht nur eine Sprache. Das wissen wir doch.«

Orlando sah mit saurer Miene aus dem Fenster. »Gewalt«, sagte er dunkel. »Immer muss man Gewalt anwenden. Du wirst es mir nicht glauben, Craig, aber ich hasse das. Es kotzt mich an. Ich habe es langsam satt, meine Ziele immer nur mit Gewalt erreichen zu können. Okay, am Anfang war das nötig. Ich musste mir den erforderlichen Respekt verschaffen, musste dafür sorgen, dass man mich ernst nimmt. Aber heute … Ich bin etabliert, bin angesehen, und man respektiert mich.«

»Aber man würde dir sehr schnell auf der Nase herumtanzen, wenn du nicht weiterhin hart bleiben würdest, Boss«, erwiderte Travis.

Orlando nickte ernst. »Deshalb fahren wir zu Bruce Judd. Damit niemand auf die Idee kommt, ich werde weich.«

Zwanzig Minuten später betrat er mit seinen Begleitern Judds Büro.

»Mi-Mi-Mister Orlando«, stammelte Judds Sekretärin, eine dickliche Mittfünfzigerin, die wegen ihrer ausgeprägten Krampfadern blickdichte Stützstrümpfe trug.

Sie ahnte, dass das persönliche Erscheinen dieses vornehm gekleideten Mannes mit seinen Gorillas nichts Gutes zu bedeuten hatte.

»Hallo, Ethel«, sagte der Gangsterboss. Er sprach sehr freundlich. Schließlich hatte er nichts gegen sie. Dafür aber um so mehr gegen Bruce Judd. »Ist Ihr Chef da?«

»Ja, Mr Orlando«, beeilte sich Ethel Silversteen zu antworten. »Sie haben Glück. Vor zehn Minuten war er noch außer Haus.« Sie griff nach dem Telefonhörer und wollte den »hohen« Besuch anmelden.

Craig Travis nahm ihr den Hörer sanft aus der Hand und legte ihn wieder auf den Apparat. Er lächelte. »Mr Orlando möchte Ihren Brötchengeber überraschen. Verderben Sie ihm nicht die Freude.«

»Okay.« Ethel Silversteen legte die Hände flach auf den Schreibtisch. »Okay.«

Orlando sah sie an. »Keine Anrufe. Kein Kaffee. Kein Besuch. Keine Störung.«

»Okay«, sagte Ethel Silversteen noch einmal.

Nic Orlando ging weiter. Unangemeldet betrat er mit seinen Männern Judds großes Büro. Bruce Judd hatte sein Jackett ausgezogen. Es hing über der Rückenlehne seines Schreibtischsessels, und Judd spielte auf dem weichen Teppich Golf. Als er den Gangsterboss erblickte, lehnte er den Schläger an die Wand.

»Nic«, sagte er erstaunt.

»Tag, Bruce.«

Craig Travis schloss die Tür und postierte sich davor. Orlando brauchte Judd seinen Stellvertreter nicht vorzustellen. Den kannte dieser schon lange. Aber die Gorillas hatte er noch nie gesehen.

Nic Orlando wies mit einer beiläufigen Geste auf sie. »Das sind Chris Keeslar und Jeff Fahey, meine Bodyguards«, erklärte er. »Zuverlässige Jungs. Anständig, arbeitswillig und loyal.«

Judd nickte den beiden nervös zu, schwieg und begann zu schwitzen. Sein Teint war dunkel. Er hatte ein schmales Gesicht, und sein langes schwarzes Haar war am Hinterkopf zu einem wenig attraktiven Schwänzchen zusammengefasst. Jetzt rieb er sich verlegen die etwas zu lang geratene Nase.

Als er mit belegter Stimme nach dem Grund fragte, der Orlando hierher geführt hatte, antwortete dieser: »Es gibt ein paar grundsätzliche Dinge zu klären. Das lässt sich weder per Telefon noch per Fax, SMS oder E-Mail erledigen.«

»Verstehe«, sagte Judd. Aus der anfänglichen Spannung, die sich im Raum ausgebreitet hatte, wurde Hochspannung. Judd fühlte sich in seiner Haut immer weniger wohl. Er zeigte – um Entspannung bemüht - auf eine Sitzgruppe und fragte: »Wollen wir uns setzen?«

»Nein«, antwortete Nic Orlando abweisend. Die Polarkälte, die von ihm ausging, verhieß nichts Gutes für Judd.

»Kann ich euch irgendetwas anbieten?«, krächzte Bruce Judd.

Orlando kniff die Augen zusammen. »Wie lange kennen wir uns schon, Bruce?«

Der Gefragte überlegte kurz. »Sieben Jahre …? Ungefähr.«

»Und wie lange machen wir schon Geschäfte miteinander?«, wollte Orlando wissen.

»Ebenso lange.«

Orlando nickte. »Sieben Jahre. Habe ich dich in dieser Zeit jemals übervorteilt?«

»Äh, wie bitte?«

»Habe ich dich schon mal übers Ohr gehauen?«, fragte Orlando schneidend.

Schweißperlen glänzten auf Judds Stirn. »Nein. Niemals.«

»Ich war immer ehrlich, fair und korrekt.«

»Das stimmt, Nic«, bestätigte Judd. Er biss sich auf die Unterlippe.