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Fräulein oder Frau

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Es hatte zu bedeuten, daß Turlington seine Rache an dem Weibe, das ihn betrogen, noch nicht genommen; es hatte zu bedeuten, daß Sir Josephs Leben noch zwischen dem Manne, der seine Ermordung hatte veranstalten wollen, und dem Gelde stand, welches dieser Mann fest entschlossen war, sich zu verschaffen; es hatte endlich zu bedeuten, daß Richard Turlington sich zum Äußersten getrieben sah, und daß die Schrecken und die Gefahren dieser Nacht noch nicht ihr Ende erreicht hatten.

Natalie und ihre Tante, die zu beiden Seiten des Bettes standen, in welchem Sir Joseph lag, sahen einander an. Der Verwundete war in eine Art von Halbschlaf versunken; von ihm konnte ihnen keine Aufklärung kommen. Sie konnten sich nur einander mit klopfendem Herzen und verwirrten Sinnen fragen, was wohl Richards Benehmen zu bedeuten habe – sie konnten nur instinktiv fühlen, daß ihnen eine schreckliche Entdeckung bevorstehe. Die Tante war die ruhigere von beiden, weil kein Geheimnis ihr Gewissen belastete. Sie konnte sich der Tröstungen der Religion erfreuen.

»Unser teurer Bruder und Vater ist uns erhalten«, sagte die alte Dame sanft, »Gott ist gütig gegen uns gewesen; wir sind in seinen Händen, und das muß uns genug sein.«

Während sie diese Worte sprach, erscholl ein lautes Klingeln an der Haustürglocke. Die weiblichen Dienstboten drängten sich in ängstlicher Aufregung in das Schlafzimmer. Stark durch ihre Zahl und von Natalien, die sich aufgerafft hatte und ihnen voranging, ermutigt, wagten sie es, das Fenster zu öffnen und auf den Balkon hinauszutreten, der sich längs dieser ganzen Seite des Hauses hinzog. Unten erkannte man die Umrisse einer männlichen Gestalt, welche sie mit einer lallenden, schweren Zunge anrief. Die Dienstboten erkannten ihn; es war ein Bote der auf dem Bahnhofe befindlichen Telegraphenstation. Sie gingen hinunter, um mit ihm zu reden und kamen mit einem Telegramm zurück, welches der Bote unter die verschlossene Haustür geschoben hatte. Die Entfernung von der Station bis zum Hause war beträchtlich; der Bote hatte seinen Weihnachtsabend unterwegs in mehr als einer Bierkneipe gefeiert, und so hatte sich die Ablieferung des Telegramms um mehrere Stunden verzögert. Dasselbe war an Natalie adressiert. Sie öffnete es, sah es an, ließ es zu Boden fallen und stand mit vor Entsetzen weit geöffnetem Munde, mit stieren Blicken vor sich hinstarrend, sprachlos da.

Fräulein Lavinia hob das Telegramm vom Boden auf und las wie folgt:

»Natalie Graybrooke, Church Meadows, Baxdale Somersetshire.

Entsetzliche Nachrichten. R.T. hat Deine Heirat mit Launce entdeckt. Die Wahrheit wurde bis heute den vierundzwanzigsten vor mir verborgen gehalten. Unverzügliche Flucht mit Deinem Manne ist die einzige Rettung für Dich. Ich würde mich direkt mit Launce in Verbindung gesetzt haben, aber ich weiß seine Adresse nicht. Ich hoffe und glaube, daß Du dieses erhalten wirst, bevor R.T. nach Somersetshire zurückkehren kann. Ich bitte Dich dringend, telegraphiere mir zurück, daß Du in Sicherheit bist; wenn ich nicht in angemessener Zeit von Dir höre, so werde ich selbst meiner Depesche folgen.

Lady Winwood.«

Fräulein Lavinia erhob ihr graues Haupt und blickte ihre Nichte an. »Ist das wahr?« fragte sie und deutete dabei auf das ehrwürdige Haupt des Verwundeten, das in die weißen Bettkissen zurückgelehnte dalag. Natalie wäre, als ihre Blicke denen ihrer Tante begegneten, fast besinnungslos zu Boden gesunken; Fräulein Lavinia fing sie in ihren Armen auf.

Das Bekenntnis war gemacht Worte der Reue – und Worte der Vergebung wurden zwischen den beiden ausgesprochen. Das friedliche Antlitz des Vaters lag noch still da. Langsam verflossen die Minuten, eine nach der anderen, in der Stille der Nacht, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre. Es war fast wie eine Erlösung, als die Stille ein zweites Mal durch ein Geräusch außerhalb des Hauses unterbrochen wurde; ein kleiner Stein flog ans Fenster und eine Stimme rief vorsichtig hinauf: »Fräulein Lavinia!«

Sie erkannten die Stimme eines Dieners und öffneten sofort das Fenster. Er hatte den Damen etwas im Geheimen mitzuteilen. Wie sollte er das bewerkstelligen? Ein glücklicher Zufall, der schon von Launce, als für die beabsichtigte Entführung günstig, ins Auge gefaßt worden war, wurde jetzt von dem Diener als ein willkommenes Mittel benutzt, um die notwendige Verbindung mit den Damen herzustellen. Das Schloß in dem naheliegenden Gebüsch befindlichen Schuppens, welcher dem Gärtner zur Aufbewahrung seiner Gerätschaften diente, war in Reparatur, so daß die Leiter des Gärtners für jedermann zugänglich war. Bei der geringen Höhe des Balkons war die Leiter mehr als lang genug für den beabsichtigten Zweck. In wenigen Minuten hatte der Diener den Balkon erstiegen und konnte mit Natalien und ihrer Tante am Fenster sprechen.

»Ich habe keine Ruhe«, sagte der Diener. »Ich will mich ins Dorf hinunterschleichen, um zu sehen, was dort vorgeht. Es ist hart für Damen wie Sie, hier eingeschlossen zu sein. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Natalie nahm Lady Winwoods Telegramm zur Hand. »Launce muß das erfahren«, sagte sie zu ihrer Tante. »Wenn ich ihn nicht wissen lassen, was vorgefallen ist«, fügte sie flüsternd hinzu, »kommt er mit Tagesanbruch hierher.«

Fräulein Lavinia erbleichte. »Wenn er und Richard sich begegnen —! Laß es ihn wissen! Laß es ihn wissen, bevor es zu spät ist.«

Natalie schrieb einige Zeilen an Launce unter der Adresse seines angenommenen Namens in seinem Logis im Dorfe, in welchen sie ihn flehentlich bat, keinen übereilten Schritt zu tun, und schloß Lady Winwoods Telegramm bei. Als der Diener mit dem Briefe expediert war, erfüllte das Gemüt beider Frauen dieselbe Hoffnung, welche aber jede von ihnen sich der anderen einzugestehen schämte – die Hoffnung, daß Launce sich der Gefahr, die sie für ihn fürchteten, aussetzen und zu ihnen kommen würde. Sie waren noch nicht lange wieder allein, als Sir Joseph schläfrig die Augen öffnete und sie fragte, was sie in seinem Zimmer zu tun hätten. Auf sanfte Weise brachten sie ihm bei, daß er krank sei. Er legte die Hand an den Kopf und sagte, sie hätten Recht, und verfiel dann wieder in seinen Schlummer. Erschöpft durch die Aufregungen, die sie durchzumachen gehabt hatten, warteten die beiden Frauen schweigend der Dinge, die da kommen würden. Beide hatte eine Art stumpfer Resignation ergriffen. Nachdem sie Tür und Fenster geschlossen, hatten sie zusammen gebetet, hatten das ruhige, auf dem Kissen daliegende Antlitz geküßt, und zueinander gesagt: »Wir wollen mit ihm leben oder sterben, wie es Gott gefällt.« Fräulein Lavinia saß neben dem Bett, Natalie auf einem Schemel zu den Füßen ihrer Tante, und hatte, die Augen schließend, den Kopf in deren Schoß gelegt.

Die Zeit verfloß. Die Uhr in der Halle hatte eben zehn oder elf, sie wußten nicht genau wieviel, geschlagen, als sie das Signal vernahmen, durch welches sich der aus dem Dorfe zurückgekehrte Diener ankündigte. Er brachte Nachrichten, und mehr als das, er brachte einen Brief von Launce. Natalie las wie folgt:

»Ich werde fast gleichzeitig mit diesen Zeilen bei Dir sein, Geliebte! Der Überbringer wird Dir sagen, was im Dorfe vorgefallen ist; das Telegramm, welches Du mir geschickt hast, wirft auf alles ein ganz neues Licht. Ich komme, sobald ich dem Pfarrer, der zugleich die Magistratsperson hier ist, gewesen sein werde, um mich für Deinen Gatten zu erklären. Alle Verstellung muß jetzt ein Ende haben. Mein Platz ist bei Dir und den Deinigen. Die Sache ist schlimmer als das Schlimmste, was Du fürchtest – Turlington ist der Urheber des Angriffs auf das Leben Deines Vaters. Urteile darnach, ob Du nicht des Schutzes Deines Gatten bedarfst! – L.«

Natalie reichte den Brief ihrer Tante und deutete auf die Stelle, wo behauptet war, daß Turlington das Attentat auf Sir Josephs Leben veranstaltet habe. Die beiden Frauen sahen sich in schweigendem Entsetzen einander an; sie erinnerten sich, wie auffallend Turlingtons Benehmen am heutigen Abend gewesen war, jetzt war ihnen ein furchtbares Licht über dieses Benehmen aufgegangen. Der Diener lenkte ihre Aufmerksamkeit erst durch seine Erzählung, was er im Dorfe erlebt hatte, wieder auf die Gegenwart.

Er habe das ganze Dorf, als er hingekommen, in Aufruhr gefunden. Ein in Baxdale unbekannter, alter Mann sei auf der Landstraße, ganz nahe bei der Kirche, in Krämpfen gefunden worden und die Person, die ihn dort gefunden, sei niemand anders gewesen, als Herr Launce selbst. Er war auf dem Rückwege nach seinem Logis im Dorfe im Dunkeln über den Körper von Thomas Wild gestolpert.

»Der Herr schlug Lärm, Fräulein«, fuhr der Diener fort, indem er den Vorfall erzählte, wie er ihm mitgeteilt worden war, »und der Mann, ein riesiger, dicker, alter Mann, wurde nach dem Wirtshaus getragen. Der Wirt erkannte ihn. Er hatte sich erst heute im Wirtshaus einlogiert und der Constabler fand sehr wertvolle Gegenstände bei ihm: eine Geldbörse und eine goldene Uhr und Kette. Es war aber nicht zu ersehen, wer der rechtmäßige Besitzer von Geld und Uhr sei. Erst als mein Herr und der Doktor ins Wirtshaus kamen, erfuhr man, wen er beraubt und zu ermorden versucht hatte. Alles, was man, bevor die Herren kamen, aus seinen Fieberphantasien entnehmen konnte, war, daß jemand ihn zu der Tat angestiftet habe. Er nannte diese Person ‚Kapitän‘ und bisweilen ‚Kapitän Howard‘. Soviel man aus seinen wahnsinnigen Faseleien verstehen konnte, hatte ihn der Krampfanfall in dem Augenblick ergriffen, wo er die Hand auf Sir Josephs Herz gelegt hatte, um zu fühlen, ob es noch schlage. Soviel ich verstanden habe, muß in jenem Augenblick eine Art von Vision über ihn gekommen sein. Sie erzählten mir, er habe phantasiert, die See bräche in den Kirchhof ein und ein ertrinkender Matrose treibe auf einem Hühnerkorb auf den Wellen, und dieser Matrose ziehe ihn bei den Haaren zur Hölle hinunter, und mehr dergleichen schrecklichen Unsinn, Fräulein! Er lag noch schreiend im schlimmsten Fieber da, als mein Herr und der Doktor ins Zimmer traten. Bei dem Anblick eines von beiden – man meint, Herrn Turlingtons, weil dieser voranging – wurde er plötzlich still und sank dann fiebernd wieder in die Arme der Männer zurück, die ihn hielten. Der Doktor gab der Krankheit einen gelehrten Namen, der so viel bedeutete wie Säuferwahnsinn, und erklärte den Fall für hoffnungslos. Indessen hieß er die Leute aus dem Zimmer gehen, damit er sehen könne, was zu tun sei. Als ich mich mit der Antwort des Herrn auf Ihr Billet, Fräulein, aus dem Dorfe auf den Rückweg begab, hieß es, daß mein Herr noch mit dem Doktor bei dem Kranken sei, um abzuwarten, ob der Mann sterben oder am Leben bleiben werde. Ich wagte es nicht, zu bleiben und zu hören, wie die Sache zu Ende gehen werde, aus Furcht, daß Herr Turlington es erfahren möchte.«

 

Als der Diener mit seiner Erzählung zu Ende war, sah er sich unruhig nach dem Fenster um. Sein Herr konnte jeden Augenblick zurückkommen und es konnte ihm das Leben kosten, wenn sein Herr ihn, nachdem er ihn zum Hause hinausgeschickt hatte, wieder in demselben fände. Er bat um die Erlaubnis, das Fenster zu öffnen und sich wieder nach den Ställen zu retten, so lange es noch Zeit sei. Als er eben die Stangen von den Läden abhob, wurden sie durch eine Stimme erschreckt, die sie von unten her anrief. Es war Launce, der Natalien rief. Der Diener eilte davon und Natalie lag in Launces Armen, noch ehe sie wieder zu Atem kommen konnte.

Einen köstlichen Augenblick lang ließ sie ihren Kopf an seiner Brust ruhen, dann stieß sie ihn plötzlich mit den Worten von sich: »Warum kommst du her? Er wird dich umbringen, wenn er dich hier findet. Wo ist er?«

Launce wußte aber noch weniger von Turlington, als selbst der Diener. »Wo er auch sein mag, Gott sei Dank, daß ich vor ihm hier bin!« Das war alles, was Launce antworten konnte.

Natalie und ihre Tante hörten ihm in schweigendem Jammer zu. Sir Joseph erwachte und erkannte Launce, noch ehe ein weiteres Wort gesprochen worden war.

»Ah, mein lieber Junge!« murmelte er mit schwacher Stimme. »Es tut mir wohl, dich wiederzusehen. Wie kommst du her?« – Er ließ sich mit der ersten besten Erklärung abfinden und versank mit den Worten: »Wir wollen morgen weiter darüber reden« wieder in Schlaf. – Natalie machte einen abermaligen Versuch, Launce zu bewegen, das Haus wieder zu verlassen.

»Wir wissen nicht, was geschehen sein kann«, sagte sie. »Er kann dir auf dem Wege hierher gefolgt sein, er kann dich absichtlich ins Haus haben hineingehen lassen. Verlass‘ uns, so lange es noch möglich ist.«

Fräulein Lavinia vereinigte ihre Bitten mit denen Nataliens. Umsonst! Launce schloß ruhig die schweren, mit Eisen belegten Fensterladen und legte die Stange wieder vor. Natalie rang verzweifelt die Hände.

»Bist du bei dem Pfarrer gewesen?« fragte sie.

»Sage uns wenigstens, ob du auf seinen Rat hergekommen bist und ob er selbst herkommen wird, uns beizustehen!«

Launce zauderte. Wenn er die Wahrheit hätte sagen wollen, hätte er bekennen müssen, daß er ganz gegen den Rat des Pfarrers hier sei. Er antwortete ausweichend: »Wenn der Pfarrer nicht kommt, so wird der Doktor kommen. Ich habe ihm gesagt, daß Sir Joseph transportiert werden müsse. Sei guten Muts, Natalie! Der Doktor wird ebenso bald hier sein wie Turlington.«

In dem Augenblick, wo er diesen Namen aussprach, drang plötzlich, ohne daß irgendein Geräusch von außen her sie darauf vorbereitet hätte, Turlingtons Stimme ins Zimmer. Er mußte dicht hinter dem Fenster stehen.

»Sie sind bei Nacht in mein Haus gedrungen«, rief er, »und Sie sollen auf diesem Wege nicht wieder herauskommen!«

Fräulein Lavinia sank auf die Knie. Natalie flog zu ihrem Vater. Mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen starrte dieser vor sich hin; stöhnend gab er mit schwacher Stimme zu erkennen, daß ihm die von draußen her ertönende Stimme bekannt sei. Das nächste vernehmbare Geräusch wurde durch die Entfernung der Leiter vom Balkon hervorgerufen. Turlington hatte die Leiter, nachdem er auf ihr wieder herabgestiegen war, weggezogen. Natalie hatte nur zu richtig vorausgesehen, was geschehen werde. Turlingtons Mitschuldiger war in dem Wirtshause gestorben und hatte den Ersteren von jeder Besorgnis vor Verrat befreit. Wohlüberlegterweise war er Launce nachgegangen und hatte es absichtlich geschehen lassen, daß dieser eine unerlaubte Handlung beging, indem er heimlich auf der Leiter in das Haus einstieg.

Es entstand eine Pause – eine schreckliche Pause – und dann hörten sie die Haustür öffnen. Ohne, wie man nach der Abwesenheit eines entsprechenden Geräusches annehmen mußte, sich damit aufzuhalten, die Tür wieder zu schließen, ging Turlington die Treppe hinauf und versuchte es, die Zimmertür zu öffnen, die von innen geschlossen war.

»Kommen Sie heraus und ergeben Sie sich!« rief er durch die Tür. »Ich habe meinen Revolver bei mir und ich habe das Recht, auf einen Mann, der in mein Haus eingedrungen ist, zu schießen. Wenn die Tür nicht geöffnet wird, bevor ich Drei gezählt habe, so komme Ihr Blut über sie. Eins!«

Launce hatte keine andere Waffe als seinen Stock. Er trat, ohne einen Augenblick zu zögern, vor, um sich zu ergeben, aber Natalie umschlang ihn mit ihren Armen und drückte ihn fest an sich, noch ehe er die Tür erreicht hatte.

»Zwei!« rief Turlington von außen, während Launce sich von Natalie loszumachen suchte. In demselben Augenblick fiel sein Blick auf das Bett. Es stand gerade der Türe gegenüber, genau in der Schußlinie. Sir Josephs Leben war, wie Turlington es sehr wohl berechnet hatte, augenblicklich in größerer Gefahr als Launces Leben. Launce riß sich von Natalien los, stürzte auf das Bett zu und hob den alten Mann auf seinen Armen aus dem Bette.

»Drei!«

Der Knall ertönte, die Kugel flog durch die Tür, streifte Launces linken Arm und drang in das Kopfkissen, genau an der Stelle, auf welcher noch einen Augenblick zuvor Sir Josephs Haupt geruht hatte. Launce hatte das Leben seines Schwiegervaters gerettet. Turlington hatte seinen ersten Schuß um des Geldes willen abgefeuert und hatte seinen Zweck doch nicht erreicht.

In der Ecke des Zimmers neben der Türe standen sie für den Augenblick sicher, Sir Joseph, hilflos wie ein Kind, in Launces Armen, die Frauen bleich, aber wunderbar ruhig, als die zweite, schräg durch die Tür gehende Kugel rechts von ihnen in die Wand einschlug.

»Ich höre Euch wohl«, schrie der Schurke von außen. »Ich will Euch schon kriegen, auch durch die Wand.«

Sie hörten, wie er mit den Händen die Wand untersuchte, um aufzufinden, wo sie aus solidem Holz und wo sie nur aus Gips bestehe. Auch in diesem schrecklichen Augenblick verlor Launce seine Fassung nicht. Er legte Sir Joseph sanft auf den Boden und wies Natalie und ihre Tante durch Zeichen an, sich neben ihn niederzulegen. Ihr Leben hing jetzt davon ab, daß weder ihre Stimmen noch ihre Bewegungen dem Mörder einen Anhaltspunkt für die Richtung seiner Schüsse boten. Er selbst wechselte seinen Standort.

Der Lauf des Revolvers knarrte, als er ihn gegen die Wand anlegte. Er stieß an das Piston. Statt eines Knalles erfolgte nur der schwache, stumpfe Ton, den das Zuschnappen des Hahnes verursachte. Der dritte Lauf hatte versagt. Sie hörten ihn, sich mit einem Fluche fragen: »Was ist denn da in Unordnung?« – Einen Augenblick war alles still.

Untersuchte er seine Waffe? Noch bevor sie sich diese Frage tun konnten, drang ein neuer Knall an ihr Ohr, dem auf der Stelle ein schwerer Fall nachkam. Sie sahen nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers, aber weder hier noch irgendwo war die Spur einer Kugel zu sehen. Launce gab ihnen ein Zeichen, sich noch nicht zu rühren. Sie warteten und horchten. Auf dem Vorplatz draußen regte sich nichts. Plötzlich wurde die Stille durch das laute Schreien vieler Stimmen vor der offenen Haustüre unterbrochen. Waren die Revolverschüsse im Pfarrhause gehört worden? Allerdings! Die in dem Zimmer Eingeschlossenen unterschieden die Stimme des Pfarrers unter den übrigen Stimmen. Im nächsten Augenblick vernahmen sie einen allgemeinen Schrei des Entsetzens auf der Treppe. Launce öffnete die Tür des Zimmers. Aber sofort schloß er sie wieder, noch ehe Natalie ihm folgen konnte. Turlingtons Leiche lag draußen auf dem Vorplatz. Die Ladung in dem vierten Laufe des Revolvers war explodiert, während er denselben untersuchte. Die Kugel war ihm ins Gesicht gefahren, durch das Auge quer in das Hirn, und hatte ihn auf der Stelle getötet.

Einige Zeit später las man in dem Morgenblatte einer Londoner Zeitung:

»Wir werden ersucht, kürzlich in Umlauf gesetzte, ungünstige Gerüchte in Betreff der Firma Pizzituti, Turlington & Branca für völlig unbegründet zu erklären. Eine vorübergehende Störung des Geschäftsbetriebes war lediglich durch den plötzlichen Tod des allgemein beklagten, geschäftsleitenden Associés, Herrn Turlington, infolge er zufälligen Explosion eines von ihm untersuchten Revolvers, hervorgerufen. Diese vorübergehende Störung ist jetzt völlig beseitigt. Wir erfahren aus bester Quelle, daß die wohlbekannte Firma der Herren Bulpit Brothers ein Interesse an dem Geschäft hat und dasselbe bis auf Weiters fortführen wird.« –

Ein junges Paar, welches kurz vorher von Freunden und Verwandten zur Eisenbahn geleitet worden war und jetzt als einzige Insassen eines Coupés in dem von London nach Dover fahrenden Kurierzuge dahin dampfte, las ebenfalls jene Notiz in der Morgenzeitung; vor der Abfahrt hatte der junge Gatte das Blatt auf dem Perron des Bahnhofes gekauft.

»Was meinst du dazu?« fragte er jetzt die reizende Frau an seiner Seite. »Wenn dein Vater vorhin diese Notiz noch hätte lesen können?«

»Ach, still davon, Launce!« sprach die junge Gattin; »danken wir Gott, daß er genesen und alles so zum Besten gekommen ist. Wirf die böse Zeitung fort, sie soll uns nicht auf unserer Hochzeitsreise begleiten und Erinnerungen an die letzten, schrecklichen Weihnachtstage in uns wach rufen.«

Launce war gewöhnt, alle wohlbegründeten Wünsche der schönen Bittstellerin zu erfüllen. Er öffnete das Fenster des Coupés und überließ das verhaßte Papier dem Spiel der Lüfte, die es hastig von dannen trugen.

»Weißt du, was mir leid tut?« begann Natalie wieder.

»Nun, was denn?«

»Daß uns Lady Winwood nicht eine Strecke weit begleitet! Sie hat doch von allen am meisten für uns getan!«

»Ja, sie ist eine vortreffliche Freundin – und wenn wir zurückkehren von unserer Reise nach dem Kontinent, so wollen wir es ihr lohnen durch die treueste Anhänglichkeit und die zartesten Aufmerksamkeiten.«

»Ach, Launce, ich bin doch recht froh, daß wir diese Reise, begleitet von den Segenswünschen meines lieben Vaters und meiner Tante machen, anstatt daß wir wie Missetäter uns auf die Flucht begeben müßten —«

»Still davon, Natalie!« fiel ihr diesmal der hochbeglückte Gatte in die Rede, »die Wege der Vorsehung sind wunderbar – und wenn sie am dunkelsten und verworrensten scheinen, so gewinnen sie oftmals ein ungeahntes Licht und führen uns an das Ziel unserer innigsten Wünsche!«

E n d e