MITTELSCHICHT FÜR ALLE

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
MITTELSCHICHT FÜR ALLE
Font:Smaller АаLarger Aa

Mittelschicht für alle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright © CapQM GmbH, Hamburg 2019

CapQM GmbH

Baumwall 7

20459 Hamburg

www.capqm.com

Inhalt

Einleitung

1. Der Weg in die digitale Massenarbeitslosigkeit

2. Von der Kooperation zur Alimentation

3. Wenn die Arbeit nicht mehr zu retten ist

4. Mit Bildung den Abstieg hinausschieben

5. Endstation Bodensatzwirtschaft

6. Der digitale Sozialstaat: Inklusion ohne Arbeit?

7. Geld ist vorhanden

8. Die Eliten arbeiten lassen

9. Demokratie: nicht verwässern, sondern verteidigen!

10. Transformation statt Apokalypse: die Zukunft der Mittelschicht

Über den Autor

Anmerkungen

Einleitung

Ein Menschenaffe nimmt einen Knochen und schleudert ihn triumphierend in die Luft. Dort verwandelt er sich plötzlich in ein Raumschiff. Diese Filmszene ist die wohl kürzeste Zusammenfassung der gesamten menschlichen Technologiegeschichte.1 Sie entstammt dem Science-Fiction-Klassiker „2001: Odyssee im Weltraum“. Gedreht wurde er 1968. Der Fortschrittsglaube der westlichen Industriegesellschaften war noch ungebrochen, Wachstum, Vollbeschäftigung und immer neue Konsumgüter galten als selbstverständlich. Doch der Regisseur Stanley Kubrick spielt im Verlauf des Films schon mit unseren heutigen Ängsten. HAL, der Steuerungsroboter des Raumschiffs, schwingt sich zu dessen Herrscher auf und der letzte Astronaut muss mit ihm um sein Leben kämpfen.

Inzwischen haben wir das Jahr 2001 längst hinter uns gelassen, um unser Leben müssen wir noch immer nicht fürchten. Aber die Angst vor den Robotern und der künstlichen Intelligenz wächst. Täglich übernehmen sie mehr Funktionen auf dem Raumschiff Erde. Nicht unsere physische Existenz ist in Gefahr, aber unser soziales Leben. Die Digitalisierung verdrängt die menschliche Intelligenz, menschliche Entscheidungsbefugnis und, gesellschaftlich am brisantesten, die tägliche Arbeit. Wenn immer mehr Arbeitsplätze verloren gehen ohne das gute neue entstehen, zerbricht eine uralte Regel menschlicher Gesellschaften: der Zusammenhang zwischen Jagen und Teilen durch die Kooperation innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Schon heute findet die Mehrheit der Bevölkerung die Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne ungerecht.2 Die Digitalisierung wird dieses Gefühl auf die Spitze treiben. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat 2018 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor der versammelten globalen Elite die Themen Digitalisierung und Verteilung als die größte Herausforderung bezeichnet.3 Völlig zu Recht. Genau an diesem Punkt setzt das Buch an. Es handelt von Digitalisierung und Verteilung, vor allem von der Verteilung durch die Digitalisierung. Die Wirkung der neuen Technologien auf die Einkommensverteilung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die jetzt arbeitende Generation und ihre Kinder stehen in seinem Mittelpunkt. Es greift die aktuelle Zukunftsangst der westlichen Mittelschicht auf, die fürchtet, dass die Digitalisierung die wirtschaftliche Ungleichheit weiter verschärft, ihre Arbeit verschwinden lässt und ihren sozialen Abstieg zementiert.

Dabei geht es nicht um eine weitere Utopie oder Dystopie. Der schnelle technologische Fortschritt der vergangenen Jahre hat das Thema aus dem Bereich der Science-Fiction zu den Trendforschern, Philosophen und sogar zu futuristisch gewandelten Historikern gespült. In deren weit ausgreifenden Zukunftsszenarien sind wir irgendwann alle nachhaltig4 oder nutzlos, beherrscht von Algorithmen und biotechnologisch optimierten Übermenschen.5 Dazwischen liegt ein großer, allerdings bisher mit wenig futuristischer und sozialer Fantasie ausgefüllter Raum. Manche mögen dies für weitgehend irrelevant halten, da wir nach dem Anthropozän ohnehin von der Weltbühne abtreten. Doch die heutige Generation und ihre Kinder, die sich innerhalb der nächsten 50 Jahre mit der politischen Gestaltung der Digitalisierung auseinandersetzen müssen, werden mit weit praktischeren Fragen konfrontiert sein. Sie müssen in den Niederungen des Alltags um ihren Anteil am wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt kämpfen. Dieser Kampf, die Fortsetzung des uralten menschlichen Verteilungskampfs, wird sich in der kommenden digitalen Gesellschaft möglicherweise deutlich verschärfen. In den folgenden Kapiteln betrachten wir, mit welchen Mitteln er zukünftig ausgetragen wird. Doch vorher wollen wir einen Blick auf die heutige Ausgangssituation werfen, auf die die Digitalisierung trifft.

Die Geschichte von Neoliberalismus und Globalisierung hat ausgedient

Im Jahr 1944, als der Sieg des freien Westens über den Faschismus absehbar wurde, veröffentlichte Friedrich A. von Hayek, ein Vordenker der neoliberalen Marktwirtschaft, in London seinen prophetischen Bestseller „Der Weg zur Knechtschaft“.6 Er sollte die zukünftigen Siegermächte mahnen, nicht nach Kriegsende den Weg des Sozialismus und der Planwirtschaft zu gehen. Sein Ideal war die freie Marktwirtschaft für freie Menschen, mit so wenig staatlicher Regulierung wie nötig. Doch Hayeks neoliberale Ansicht passte nicht zu den gesellschaftlichen Herausforderungen der Nachkriegszeit. Im demokratischen Teil Europas hielt der Staat seine schützende Hand über die Bevölkerungen der vom Krieg zerstörten Länder. Die Sozialstaaten expandierten, die Schlüsselbranchen der Wirtschaft blieben öffentliches Eigentum. Das Wirtschaftswunder der 1950er- und 1960er-Jahre sorgte dafür, dass die Massen konsumieren konnten und die Einkommen breit verteilt wurden. Der Neoliberalismus blieb eine „kleine fundamentalistische Sekte“ 7.

Doch dann kam seine historische Chance. Die Ölstaaten forderten einen Teil vom westlichen Wohlstand, das Wirtschaftswachstum verebbte, die Geldentwertung nahm zu. Die westliche Wirtschaft befand sich im Krisenmodus, die herrschende Wirtschaftstheorie hatte weder Erklärung noch Lösung. 1974 erhielt Hayek den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, der Neoliberalismus wurde damit hoffähig. Konservative Politiker wie der US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margaret Thatcher übernahmen in den 1980er Jahren seine Rezepte, um die Krise zu überwinden. Zusammengefasst in dem berühmten Motto „so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“8 wurde der Markt zum zentralen Lösungsmechanismus für fast alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert, öffentliche Unternehmen privatisiert, die Finanzmärkte dereguliert.

Innerhalb des Westens wurden die Sozialstaaten kräftig umgestaltet. Nicht nur von den Konservativen. Die US-Demokraten unter Bill Clinton, New Labour in Großbritannien unter Tony Blair und die Sozialdemokraten in Deutschland unter Kanzler Schröder setzten die Sozialstaatsreform in abgemilderter Form fort. Sie war angeblich alternativlos und wer anders dachte, konnte sich vom Internationalen Währungsfonds, der OECD und der EU eines Besseren belehren lassen.

Hayek, gestorben 1992, hat den beginnenden Siegeszug des Neoliberalismus gerade noch miterlebt. Dessen Vertrauenskrise nicht mehr. 2008 brach die US-Bank Lehman Brothers zusammen, der symbolische Startschuss für die weltweite Finanzkrise. Bald darauf folgte die Eurokrise, Griechenland hing jahrelang am Tropf der westlichen Geldgeber. 2013 veröffentlichte der französische Ökonom Thomas Piketty sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ und brachte die seit Jahren steigende Einkommensungleichheit auf die politische Agenda.

Über dreißig Jahre hatte der Neoliberalismus seine historische Chance. Doch die Erwartungen der westlichen Mittelschicht hat er nicht erfüllt. Nach Jahrzehnten mit Deregulierung, Privatisierung und Sozialstaatsabbau wissen wir es besser. Die Kosten der Finanzkrise bezahlte die Mittelschicht mit Arbeitsplatzabbau, Zinsverlusten und ihren Steuergeldern. Privatisierungen ehemals öffentlicher Leistungen führten nicht immer zu niedrigeren Preisen und besserem Service, sondern oft zum Gegenteil. Dafür fast immer zu guten Gewinnen für die Investoren. Die Drosselung des sozialen Wohnungsbaus in vielen europäischen Städten ist ein warnendes Beispiel. Den Umbau der Wohlfahrtsstaaten zu „aktivierenden Sozialstaaten“ betrachten viele Betroffene nicht als einen Gewinn an Menschenwürde und Teilhabe, sondern als unwürdige Gängelung und Überwachung durch Jobcenter und kleinteilige Vorschriften.

Vom Neoliberalismus profitiert haben vor allem die Bevölkerungskreise, die über sehr gute Ausbildungen verfügen, Vermögen besitzen und in den richtigen Branchen beschäftigt sind. Der Oxford-Professor Jan Zielonka, ein überzeugter Liberaler, kommt zu dem Schluss: „Im Liberalismus sagen Minderheiten – professionelle Politiker, Journalisten, Banker und Jetset-Experten – Mehrheiten, was das Beste für sie ist.“9 Der Neoliberalismus hat sich als Elitenprojekt herausgestellt. Für weite Teile der westlichen Mittelschicht hat er seine Versprechungen nicht gehalten. Sie wurden wirtschaftlich abgehängt, die Ungleichheit ist massiv gestiegen. „Es gibt keine ernst zu nehmende Chance für Gleichheit ohne von der neoliberalen Wirtschaft Abstand zu nehmen“10, so Zielonka.

 

Gesteigert wurde die Wirkungsmacht des Neoliberalismus durch die Globalisierung. Sie hat die soziale Schieflage in den westlichen Ländern weiter verschärft. Als 1991 die Sowjetunion zerfiel und mit ihr die zentrale planwirtschaftliche Gegenmacht des Westens, trat der Neoliberalismus seinen globalen Siegeszug an. Die gesamte Weltwirtschaft wurde zum Experimentierfeld. Das Ziel: die Marktwirtschaft international verbreiten und die ganze Welt in einen freien Markt verwandeln. Zunächst halfen neoliberale westliche Ökonomen in den zersplitterten Resten der ehemaligen Sowjetunion, ganze Volkswirtschaften nach ihren marktwirtschaftlichen Lehrbuchmeinungen umzugestalten. Ohne ausreichende Vorbereitung und ohne viel Rücksicht auf deren historische, kulturelle und soziale Besonderheiten. Um die Globalisierung voranzubringen, gründete man 1995 die Welthandelsorganisation, der inzwischen 164 Länder angehören.11 2001 folgte der entscheidende Durchbruch, China wurde in das Welthandelssystem aufgenommen.

Um den westlichen Bevölkerungen die Sorgen vor dem internationalen Wettbewerb zu nehmen, wurde überall der Schlachtruf der Freihändler propagiert: Internationaler Handel nützt allen. „Keine Angst vor der Globalisierung“ lautete der Titel eines Buchs von Christa Müller und Oskar Lafontaine, dem früheren deutschen Finanzminister. Sie glaubten nicht, dass eine Milliarde Chinesen nur darauf warteten, den deutschen Beschäftigten die Arbeit wegzunehmen.12

Heute wissen wir mehr. Die Globalisierung hat in den asiatischen und südamerikanischen Ländern Hunderte Millionen von Menschen aus der Armut gehoben und eine neue Mittelschicht geschaffen. Der US-Konzern Apple stellte 2007 sein Smartphone vor. Zehn Jahr später beschäftigte er mehr als 120.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sein asiatischer Zulieferer Foxconn über eine Million. Eine ungezählte Masse westlicher Arbeitsplätze ist im Tausch gegen preiswerte Flatscreens, Laptops und Mobiltelefone nach Asien verschwunden. Die Globalisierung hat nicht nur neue, gut bezahlte Arbeit im Westen geschaffen, sondern auch Millionen von Beschäftigten in den westlichen Industrieländern die Jobs gekostet, Einkommen stagnieren lassen und Abstiegsängste geschürt.13 Doch die Befürworter des freien Welthandels wollen noch mehr Globalisierung. Sie argumentieren, dass die Globalisierung einfach noch nicht weit genug gegangen sei. „In Wirklichkeit ist die Globalisierung nicht Schuld“, behauptet die Ökonomin Dambisa Moyo. „Die Politik hat sich mit einer Globalisierung-Lite zufrieden gegeben, statt voller Globalisierung die echte Chance zu geben „alle Boote zu heben“. Globalisierung macht Märkte effizienter, steigert den Wettbewerb und verteilt den Wohlstand gleichmäßiger über die Welt. Das ist das Versprechen der vollen Globalisierung.“14 Doch für die Millionen westlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch die Globalisierung ihre Arbeitsplätze verloren haben, ist es kein Trost, dass der Wohlstand gleichmäßiger über die Welt verteilt wurde. Sie werden dem Versprechen einer noch weitergehenden Globalisierung keinen Glauben mehr schenken.

Nach Jahrzehnten von Neoliberalismus und Globalisierung herrscht innerhalb der westlichen Bevölkerung Zukunftsskepsis. Unter der neoliberalen Ägide ist das wirtschaftliche Wachstum im Westen verkümmert. Während nach dem Zweiten Weltkrieg jährliche Wachstumsraten und Einkommenssteigerungen von fünf bis sechs Prozent als selbstverständlich erschienen, ist das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in der Eurozone in den vergangenen zehn Jahren auf weniger als ein Prozent geschrumpft. Der Massenkonsum hat seine schädliche Kehrseite, die Umweltverschmutzung, gezeigt. Irreversible Klimaschäden sind die Folge. Doch die Staaten der Welt, die sie global verschmutzt haben, können sich nicht auf eine tragfähige Lösung einigen, um sie global zu bekämpfen, noch nicht einmal die bisherigen Vereinbarungen einhalten. Nach 1991 schoss die Zahl der demokratischen Staaten in der Welt nach oben. Seit zwölf Jahren befindet sich die Demokratie nach Untersuchungen der US-Organisation Freedom House weltweit im Rückwärtsgang.15 Viele Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, und nicht nur sie, haben sich von der Demokratie wieder abgewandt. Der ehemals solide westliche Block zeigt zunehmende Risse. Die Migrationsfrage spaltet Europa. Der Brexit trennt Großbritannien vom Kontinent. Der amerikanische Schutzschild für Europa wird zweifelhafter, obwohl seine Notwendigkeit gerade wieder steigt. Die Globalisierung ist umstritten. Waren es bis vor kurzem noch engagierte Bürgerinnen und Bürger, die in Europa gegen das geplante transatlantische Handelsabkommen TTIP auf die Straße gingen, ist jetzt die US-Regierung selbst nicht mehr daran interessiert, hält das globale Handelssystem für unfair gegenüber den USA. Gleichzeitig wird die wirtschaftliche und politische Macht Asiens in der Welt immer spürbarer. China verteidigt selbstbewusst seine wirtschaftlichen und politischen Interessen, geopolitisch verschieben sich die Gewichte von West nach Ost. Wer hätte 1991 vorausgesagt, dass im Jahr 2017 ein chinesischer Staatspräsident von den westlichen Topmanagern beim Weltwirtschaftstreffen in Davos dankbar beklatscht wird, weil er sich, anders als die USA, für den Welthandel stark macht? Kein Wunder, dass im Westen der Fortschrittsglaube der Nachkriegszeit verflogen ist.

Der technokratische Mainstream aus Wirtschaft und Politik, vor 30 Jahren mit großen Versprechungen gestartet, befindet sich in der Krise. Nicht mehr in der wirtschaftlichen, sondern in der Legitimationskrise. Neoliberalismus und Globalisierung haben sich nicht als nutzlos erwiesen, im Westen jedoch vorrangig als Elitenprojekt. Sie haben die westlichen Gesellschaften gespalten, wirtschaftlich, sozial und politisch. Nie war die Einkommensungleichheit seit dem Zweiten Weltkrieg so extrem, nie die Unterschiede zwischen Stadt und Land, nie die politische Landschaft. Die wirtschaftlichen und politischen Eliten befinden sich nicht nur in der Defensive, sie verfügen auch über keine Vision, diese Krise durch ein großes gesellschaftliches Projekt für die Zukunft zu überwinden. Die alten Geschichten haben ausgedient, eine neue ist noch nicht entstanden.

Mit Digitalisierung zum exponentiellen Neoliberalismus

Auf diese schwierige wirtschaftliche und politische Konstellation trifft jetzt mit zunehmender Wucht die Digitalisierung. Nach einem langsamen Start über Großrechner, Personal Computer und Internet durchdringt sie nun Wirtschaft und Gesellschaft immer schneller. Mobiltelefone, weltumspannende soziale Netzwerke, Handelsplattformen, Roboter und künstliche Intelligenz schälen sich nicht nur als technologische, sondern auch als gesellschaftliche Revolution heraus. Vorangetrieben von marktbeherrschenden IT-Unternehmen schaffen sie neue Chancen, aber auch Gefährdungen.

Ihre Chancen erleben wir konkret anhand der neuen Produkte und Apps, die mittlerweile im Tagesrhythmus auf den Markt kommen. Wir erfahren aber auch, wie sie blitzschnell ganze Branchen umkrempeln kann und mit ihnen unsere Arbeitsplätze. Suchmaschinen und soziale Netzwerke haben innerhalb weniger Jahre die Printmedien in eine Existenzkrise gestürzt und damit auch unzählige Journalisten. Online-Shopping revolutioniert mit unserer Unterstützung den klassischen Einzelhandel. Kleine Läden kämpfen um ihr Überleben. Einkaufszentren auf der grünen Wiese verzeichnen Leerstände. Die nächste große Umwälzung wird im Automobilbau und in der Logistik stattfinden. Jede neue Pressemeldung über die Fortschritte des autonomen Fahrens führt den Truckern und Taxifahrerinnen der Welt vor Augen, dass es ihren Arbeitsplatz bald nicht mehr geben wird. Langsame Anpassung hilft nicht mehr, für die Betroffenen geht es um 100 Prozent oder gar nichts. Die Digitalisierung zerstört nicht nur etablierte Geschäftsmodelle, sie vernichtet auch damit verbundene Arbeit.

Tatsächlich ist die Digitalisierung nicht einfach der Beginn einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Phase nach Neoliberalismus und Globalisierung. Sie bringt alle Voraussetzungen mit, sie auf die Spitze zu treiben. Beide haben sich mit geringen Ergebnissen bemüht, das wirtschaftliche Wachstum im Westen anzukurbeln. Sehr viel erfolgreicher waren sie jedoch darin, in vielen Staaten den Anteil der Arbeitsentgelte am Volkseinkommen zurückzudrehen, zum Vorteil der Unternehmensgewinne. Besonders seit den 1980er-Jahren ist die Lohnquote in den meisten Industrieländern massiv gefallen.16 Mit Beginn der intensiven Globalisierung um die Jahrtausendwende zeigte der Trend in vielen Staaten noch einmal deutlich nach unten. Die Relationen wurden weiter zugunsten der Unternehmensgewinne verschoben. In den USA lag der Anteil der Löhne und Gehälter 2011 auf dem niedrigsten Niveau der Nachkriegszeit17, in Deutschland war er 2017 wieder auf das Niveau von 1970 gesunken18. Die Digitalisierung hat das Potenzial, diese Entwicklung exponentiell zu beschleunigen. Neoliberalismus und Globalisierung haben ihr die Wege geebnet, alle Grenzen niedergerissen. Um dem Neoliberalismus zu seinen umstrittenen Erfolgen zu verhelfen, mussten noch innerstaatlich Gesetze geändert und Regulierungen abgebaut werden. Für die Digitalisierung gab es von Anfang an praktisch keine. Die Globalisierung musste in langwierigen internationalen Abstimmungsprozessen herbeigeredet werden. Das Internet setzte sich fast automatisch über alle Grenzen hinweg. Private Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft konnten und können die Digitalisierung ungehindert vorantreiben. Ohne innerstaatliche Regulierung und globale Übereinkünfte wird sie einem Virus gleich, der auf ein völlig geschwächtes Immunsystem stößt, blitzschnell die Welt erobern. Am Ende könnte ein Neoliberalismus im exponentiellen Tempo der Digitalisierung stehen.

Heute, 75 Jahre nach Erscheinen von Hayeks Buch, wächst die Gefahr, dass die neoliberalen Eliten selbst den Rest der Gesellschaft auf den Weg in die Knechtschaft führen. Nicht willentlich, aber wissentlich. Nicht durch Kommunismus, Totalitarismus und staatliche Planwirtschaft. Sondern durch die Befreiung der Massen von guter Arbeit, eigenem Einkommen und gesellschaftlichem Einfluss. Planvoll gesteuert werden sie dennoch. Nicht mit Zwang, sondern durch Überredung. Mittels Informationsselektion und Werbung, die den Einzelnen ihre Bedürfnisse nicht vorschreiben, sondern für sie vorausahnen. Die Pointe der Geschichte der neoliberalen Angst vor der sozialistischen Planwirtschaft wäre dann die nahezu in Echtzeit digital gesteuerte Marktwirtschaft, verwaltet nicht von Funktionären, sondern den Eigentümern der Algorithmen. Sie würden den Trend gegen die bezahlte Arbeit weiterführen, in nie gekannte Tiefen. Im Westen, indem sie die breite Mittelschicht ausdünnen und einem unvorbereiteten Sozialstaat überantworten. Im Rest der Welt, indem sie die hoffnungsvoll aufstrebenden Mittelschichten, die noch nicht einmal das westliche Einkommensniveau erreicht haben, in ihrer Entwicklung stoppen. Ohne dass diese überhaupt Zeit hatten, angemessene soziale Absicherungssysteme aufzubauen.