Der Finanzmarkt sind wir

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Der Finanzmarkt sind wir
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Volker Schmitz

Der Finanzmarkt sind wir

Wie private Anleger die Kontrolle über ihr Geld zurückgewinnen

Impressum

Copyright © CapQM GmbH, Hamburg 2016.

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Published by: epubli GmbH, Berlin

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Verwendete Handelsnamen, Firmennamen, Produktbezeichnungen u. ä. können, auch wenn sie nicht besonders gekennzeichnet sind, durch Warenzeichen- und Markenschutzrechte der Inhaber geschützt sein.

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Der private Anleger ist der kleinste Fisch in der Nahrungskette

Kontrolle über das Kapital zurückgewinnen

Beteiligung der Anleger stärkt die Marktwirtschaft

2. Es ist unser Geld

Wir sind der Finanzmarkt

Wir kümmern uns nicht genug um unser Geld

Finanzunternehmen nutzen unsere Schwäche

3. Kapitalanlage als gesellschaftlicher Prozess

Die alte Finanzmarkttheorie hat ausgedient

Wir brauchen einen neuen Finanzmarkt

Rendite und Risiko sind nicht planbar

Prognosen verändern die Zukunft

Aktive Kapitalanlage senkt unsere Durchschnittsrendite

Kämpft bei der Kapitalanlage jeder gegen jeden?

Mehr Rendite durch passive Kapitalanlage

Nobelpreis legitimiert passive Kapitalanlage

Hat passive Kapitalanlage auch Nachteile?

Indexanlagen beeinflussen die Kapitalallokation

Passive Kapitalanlage muss nicht Indexanlage sein

Gefährden Indexanlagen die Liquidität?

Erfolg der passiven Kapitalanlage zeigt die Lernfähigkeit des Finanzmarkts

Steuerung und Kontrolle müssen verbessert werden

4. Übermächtige Agenten beschränken

Private Anleger verlieren Einfluss

Agentensystem nützt sich selbst

5. Private Anleger stärken

Die Illusion vom unabhängigen Berater

Anlageberater ohne Interessenkonflikte wählen

Mit unserer Provision zahlen wir für die anderen mit

Keine Beratung ohne Information zur passiven Kapitalanlage

Passive Kapitalanlage als erste Option für langfristiges Investment

Preiswert diversifizieren mit Indexfonds

Brauchen wir noch Finanzanalysten?

Passive Kapitalanlage braucht neue Finanzanalysten

6. Unser Geld selbst steuern

Was können wir steuern?

Wie wird unser Geld eingesetzt?

Produktive Kapitalanlage schafft Werte

Konsumfördernde Kapitalanlage begünstigt andere Verbraucher

Spekulative Kapitalanlagen sind häufig Nullsummenspiele

Langfristig hängen fast alle Renditen an der produktiven Kapitalanlage

7. Mehr produktive Kapitalanlage

Warum kein produktiver Investmentboom?

Werden unsere Agenten fehlgeleitet?

Kurzfristiges Shareholdervalue-Denken begrenzt produktive Investitionen

Erwartete Eigenkapitalrendite begrenzt Investitionen

Investiert wird in die Fortschreibung des Bestehenden

Niedrige Investitionen fördern die Flucht in Finanzinvestments

Finanzinvestments verteilen Erträge um

Produktive Investition nützt allen

8. Kapital außer Kontrolle

Hilft uns die staatliche Finanzaufsicht?

Mehr Aufsicht heißt nicht automatisch mehr Anlegerrechte

Nicht nur mehr sondern neue Kontrolle

Neue Kontrolle ist Sache der Anleger

9. Keine Rendite ohne Rechte

Aktiengesellschaften betreffen uns alle

Wer darf mitbestimmen?

Wo bleibt der private Anleger?

Großaktionäre nutzen die Machtlosigkeit der privaten Anleger

Finanzunternehmen bieten keine Lösung

Europäische Regulierung geht am privaten Anleger vorbei

 

Der private Anleger ist sein bester Interessenvertreter

Empowerment der privaten Anleger

Corporate Governance ist mehr als eine Investmentstrategie

Corporate Governance ermöglicht langfristiges Engagement

Von der unsichtbaren Hand des Markts zur offenen Hand der Vorstände

Neue Kapitalanlage braucht neue Anreize

Beteiligung der privaten Anleger stärkt die demokratische Marktwirtschaft

10. Engagement für Wachstum

Shareholdervalue durch Mitnahmeeffekte

Umverteilung war Motor des Shareholdervalue-Wachstums

Werden die Vorstände zu Agenten der Erosion der Mittelschicht?

Aktienkurse haben soziale Grenzen

Das Dilemma der Babyboomer

Wachstumsförderung: die neue Aufgabe der Vorstände

Brauchen wir einen Niedriglohnsektor für das Kapital?

1 Einleitung

Wer interessiert sich schon für den Finanzmarkt? Eine abstrakte, trockene Materie mit viel Mathematik. Wir haben Besseres zu tun. Aber auch, wenn wir uns nicht für ihn interessieren: der Finanzmarkt interessiert sich für uns. Genau genommen, die Finanzunternehmen, die Vermittler auf dem Finanzmarkt. Sie interessieren sich zwar nicht für uns als Person, aber für unser Geld, unsere Ersparnisse. Unser Desinteresse lassen sie sich teuer bezahlen.

Dem amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson wird der Satz zugeschrieben, der Preis der Freiheit sei ewige Wachsamkeit. Auf dem Finanzmarkt hat unser Mangel an Wachsamkeit dazu geführt, dass wir Rechte an unserem Geld verlieren. Unternehmen und Menschen, die wir nicht kennen, können unser Geld für Zwecke verwenden, die uns schaden, und wir bezahlen sie auch noch dafür. Alles um den Preis des unverbindlichen Versprechens, uns eine gute Rendite zu erwirtschaften. Nachdem wir uns Jahrzehnte nicht richtig um unser Geld gekümmert haben, hat die jüngste Finanzkrise gezeigt, welchen Preis wir wirklich dafür zahlen müssen.

Wie konnte es dazu kommen? Zwar hatte der Finanzmarkt immer eine öffentliche Bedeutung, nur war sie der breiten Öffentlichkeit nie bewusst. Nach der Finanzkrise war sie allen klar. In den vergangenen Jahren hat sich eine Flut von Meinungen, Artikeln, Büchern und öffentlichen Reports über alle Medien verbreitet, die kaum einen Aspekt der Finanzkrise unbearbeitet gelassen hat. Journalisten, die vor kurzem noch die Märkte hatten hochleben lassen, durften nun kritische Artikel schreiben. Banker wurden ein beliebtes Ziel öffentlicher Kritik, insbesondere wegen ihrer Gehaltsexzesse. In hastig einberufenen Gremien saßen ehemalige Banker, Zentralbanker und Aufsichtsbeamte mit gegenwärtigen Bankern, Zentralbankern und Aufsichtsbeamten zusammen. Sie verfassten gründliche Analysen, wie nach ihrer fachkundigen Ansicht zukünftig Banker, Zentralbanker und Aufsichtsbeamte eine solche Krise verhindern könnten – wenn sie denn so wiederkäme.

Warum dann noch ein Buch über den Finanzmarkt? In der bisherigen Diskussion über den Finanzmarkt und seine Reform ist ein Beteiligter völlig unterschätzt worden: der private Anleger. Das mag erstaunlich erscheinen, da sein Schutz schließlich in jeder politischen Diskussion und bei jeder Gesetzesänderung als wichtiges Ziel genannt wird. Faktisch passiert wenig, um seine Position zu stärken. Die Gesetzesänderungen zielen meist darauf ab, den staatlichen Kontrolleuren mehr Rechte gegenüber den Finanzunternehmen einzuräumen. Dass die Finanzunternehmen dank der Kontrolle stabiler werden, soll auch dem privaten Anleger nutzen. Während die Finanzaufsicht mehr Kontrollrechte bekommen hat, muss sich der private Anleger statt mit mehr Rechten mit mehr Informationen zufrieden geben. Dadurch soll er besser in der Lage sein, auf Augenhöhe mit den Finanzunternehmen zu verhandeln. Faktisch kann er nichts verhandeln, sondern nur ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen akzeptieren. Da diese durch die neuen Vorschriften noch ausführlicher geworden sind, verhandelt er nicht auf Augenhöhe, sondern unterschreibt irgendwann blind. Bei den meisten privaten Anlegern ist nach der Finanzkrise nicht das Gefühl entstanden, dass sich ihre Stellung auf dem Finanzmarkt verbessert hat. Sie sehen sich einem politisch-finanziellen Komplex gegenüber, der manchmal für sie, vor allem aber über sie und ihre Köpfe hinweg entscheidet. An diesem Punkt beginnt das Buch.

Da alles Anlagekapital vom privaten Anleger ausgeht, muss unsere Position im Kapitalmarkt gestärkt werden. Auf dieser Idee basiert das Buch. Sein Ziel ist es, die unterschiedlichen Interessen der Akteure auf dem Kapitalmarkt zu verdeutlichen und so uns private Anleger dabei zu unterstützen, unsere eigenen Interessen wahrzunehmen – damit uns unsere Kapitalanlage insgesamt mehr nützt. Das Buch liefert Ansatzpunkte für eigenverantwortliches Handeln, beschreibt, welche Bedingungen dafür notwendig sind und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Gleichzeitig weist es auf rechtliche Hindernisse hin und damit auf den gesellschaftlichen Handlungsbedarf, um unsere Position als Anleger zu verbessern. Im Mittelpunkt des Buchs steht die langfristige Kapitalanlage im Aktienmarkt.

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Risiko und Rendite nicht die Bestimmungsfaktoren einer Kapitalanlage sind, sondern ihr mehr oder minder zufälliges Ergebnis. Die gängigen Anlagetheorien haben versucht, ein umfassendes wissenschaftliches Denkgebäude auf der Vorausschätzung von Risiken und Renditen aufzubauen. Darauf basiert die alte aktive Kapitalanlage. Anlageberatung, Vermögensverwaltung und Fondsindustrie haben seit über 50 Jahren davon profitiert. Doch das Fundament ist nicht tragfähig. Risiko- und Renditeschätzungen sind zu unsicher, um als alleinige Leitlinie für unsere Anlageentscheidungen nützlich zu sein. Institutionelle und private Anleger wenden sich in Scharen der passiven Anlage zu. Diese leistet preisgünstig eine breite Risikostreuung ohne Renditeprognose. Es ist davon auszugehen, dass die passive Kapitalanlage ihr Wachstum noch einige Zeit fortsetzen wird. Zu vieles spricht für sie: ihre Transparenz, ihre geringen Kosten und die positiven Erfahrungen über immer längere Zeiträume. Sie belegen, dass der durchschnittliche Anleger mit der passiven Kapitalanlage nachweisbar bessere Renditen nach Abzug der Kosten erzielt als mit der alten aktiven Kapitalanlage.

Das Buch betrachtet Kapitalanlage vor allem als gesellschaftliche Tätigkeit. Auch passive Kapitalanlage ist nur eine neue gesellschaftliche Praxis und keine endgültige Wahrheit. Wie jede gesellschaftliche Praxis wird sie gesteuert von Ideologien, gesichert von Normen und unterstützt von Institutionen und Organisationen. Die Frage ist, ob die bestehenden gesellschaftlichen Voraussetzungen zu den Anforderungen der neuen Kapitalanlage passen. Und welche Änderungen nötig sind, damit die Anleger die Vorteile der neuen Anlage besser nutzen können. Jede gesellschaftliche Entwicklung bringt nicht nur Vorteile, sondern wirft auch neue Fragen auf, bringt Probleme und Nachteile. Wie sollen wir mit ihnen umgehen? Welche Änderungen ergeben sich daraus für die Akteure im Finanzmarkt?

Der private Anleger ist der kleinste Fisch in der Nahrungskette

Die theoretischen Grundlagen der passiven Kapitalanlage haben in den vergangenen Jahrzehnten zunehmende Anerkennung gefunden, sie wurden sogar mit einem Nobelpreis gewürdigt. Bei den Normen, Institutionen und Organisationen geht der Wandel nur langsam voran. Besonders schwer tun sich viele Finanzunternehmen. Die Vielzahl der Vermittler, Berater und Verwalter im Finanzmarkt sind nach der herrschenden ökonomischen Theorie die Agenten, die Auftragnehmer der privaten Anleger. Der Anleger ist der Prinzipal, in dessen Interesse sie handeln sollen. Der Realität wird diese Theorie kaum gerecht. In der Praxis ist der private Anleger häufig nicht der Prinzipal, sondern der kleinste Fisch in der Nahrungskette der Finanzunternehmen.

Am Anfang dieser Kette steht die Beratung. Sie stellt die Weichen für den Weg unseres Geldes. Vor allem unabhängige Honorarberater empfehlen preisgünstige passive Kapitalanlageprodukte, provisionsorientierte Berater meist die teure alte Kapitalanlage. In manchen Ländern ist daher ein Provisionsverbot bei bestimmten Anlageberatungen zum Schutz der Anleger erlassen worden. Auch ohne Provisionsverbot sollte in jedem Fall die Aufklärung über die Vor- und Nachteile der aktiven und passiven Kapitalanlage verpflichtend bei der Beratung für langfristige Anlagen sein. Wo es sich anbietet, zum Beispiel bei öffentlich geförderten Kapitalanlagen, sollte die passive Kapitalanlage zur Standardoption werden, von der der Anleger durch eigenen Entschluss abweichen kann.

In Zukunft sollten die Berater über die gesellschaftlichen Konsequenzen der Kapitalanlage aufklären. Neben den bekannten Möglichkeiten der sozial verantwortlichen Kapitalanlage rückt hier vor allem die Bedeutung der Kapitalanlage für den gesellschaftlichen Investitionsprozess in den Vordergrund. Kein Anleger kann sicher sein, welche Rendite erzielt wird, aber er sollte wissen, wie und wo sie erwirtschaftet wird. Angesichts der in der Öffentlichkeit allseits beklagten niedrigen Investitionsneigung kann jeder Anleger so mitentscheiden, ob er entweder produktive Investitionen oder nur Spekulation und Konsum fördern will.

Kontrolle über das Kapital zurückgewinnen

Neben vielen Vorteilen zeigt der Vergleich von aktiver und passiver Kapitalanlage auch eine zentrale Schwäche: Die passive Kapitalanlage bietet vor allem bei der Aktienanlage noch weniger Steuerung und Kontrolle des angelegten Geldes als die aktive. Schon die hat das Problem der Steuerung und Kontrolle nicht gut gelöst. Die passive Kapitalanlage hat nicht einmal mehr den Anspruch, es zu lösen. Ihre Steuerung funktioniert über den Index, die Anlage erledigt der Computer. Der Index wiederum folgt der Marktentwicklung. Kontrolle findet nur weitgehend formell statt, soweit gesetzlich erforderlich. Mehr Kontrolle kostet nur Geld und das soll gerade zugunsten der privaten Anleger gespart werden. Im Ergebnis wird die endgültige Verwendung des angelegten Kapitals noch weniger überwacht als bei der aktiven Anlage. In der Praxis bedeutet dies, dass insbesondere die Vorstände der Aktiengesellschaften noch unkontrollierter mit dem Geld der Anleger arbeiten können. Steuerung und Kontrolle der Anlagen werden damit zum zentralen Zukunftsthema der neuen Kapitalanlage. Wenn ihre offenkundigen Vorteile für die Masse der privaten Anleger nicht gefährdet werden sollen, muss dieses Problem gelöst werden.

Der Finanzmarkt kannte bisher die zwei typischen Lösungswege: zum einen die Regulierung über Gesetze und Aufsichtsbehörden, zum anderen das Vertrauen in den Marktmechanismus. Im Ergebnis sind beide nicht besonders gut geeignet, die Rechte des privaten Anlegers zu schützen. Die staatliche Aufsicht führt häufig nur zu Compliance, der formellen Einhaltung von Vorschriften, ohne die Inhalte regeln zu können. Der Markt wird dominiert von den Finanzunternehmen. Ihr bisheriges Verständnis ihrer Rolle im Markt führt zu Rechtsverlusten der privaten Anleger, Interessenkonflikten und Machtzusammenballungen, die weder im Interesse des Einzelnen noch der Gesellschaft liegen.

In welcher Form haben die Finanzunternehmen bisher die Interessen der privaten Anleger wahrgenommen? In den vergangenen Jahrzehnten weitgehend durch das Unterstützen der Shareholdervalue-Philosophie. Die Vorstände der Aktiengesellschaften konnten mit Billigung und Unterstützung der Finanzindustrie und zum gemeinsamen Nutzen die Aktienkurse steigern, indem sie Wertschöpfungsanteile von den Beschäftigten zu den Aktionären verteilt, produktive Investitionsquoten gesenkt und vermehrt unproduktive Finanzgeschäfte getätigt haben. So sind bei geringem wirtschaftlichem Wachstum riesige Kursgewinne entstanden. Verminderte Steuern und Niedrigzinsen gaben den Kursen einen zusätzlichen Schub. Auf Dauer bleibt diese Entwicklung nicht ohne gesellschaftliche Konsequenzen. Ohne wirtschaftliches Wachstum lassen sich hohe Aktienrenditen nur durch weitere Umverteilung aufrechterhalten. Diese Umverteilung von den Beschäftigten zu den Aktionären ist nur noch zu Lasten der breiten Mittelschicht möglich. Das wird zu immer stärkeren sozialen Spannungen führen. Die Vorstände der Aktiengesellschaften, die eigentlich das wirtschaftliche Wachstum durch produktive Investitionen fördern sollen, werden so zu Agenten der Erosion der Mittelschicht ohne gesellschaftlichen Auftrag und Kontrolle.

 

Da der Staat und die Finanzunternehmen die Kontrolle nicht übernehmen können oder wollen, plädiert das Buch für eine stärkere Beteiligung der privaten Anleger an der Kontrolle ihres Kapitals. Nur wir kennen unsere Interessen, besser als jedes zwischengeschaltete Finanzunternehmen. Letztendlich sind wir die wirtschaftlichen Eigentümer des angelegten Kapitals. Daher sollten wir auch mehr Rechte bekommen, um unsere Kapitalanlagen kontrollieren zu können. Überall dort, wo Finanzunternehmen uns keine Rendite garantieren, sondern sie nur auf unser Risiko zu uns durchleiten, sollten sie auch die Rechte an uns weiterleiten. Insbesondere bei der Corporate Governance, der Kontrolle der Aktiengesellschaften, muss die Rolle der privaten Anleger gestärkt werden. In einem demokratischen Kapitalmarkt sollten die Kontrollrechte den Bürgern zustehen, die an diesem Markt teilnehmen. Die Entwicklung der Rechte der privaten Anleger hat bisher nicht mit der zunehmenden Bedeutung der Kapitalanlagen für unsere demokratischen Gesellschaften Schritt gehalten.

Letztendlich geht alles private Kapital vom Sparer aus. Dieser Sparer ist kein eindimensionales Gier- und Angstwesen, wie die alte aktive Investmenttheorie unterstellt hat. Er ist als Arbeitnehmer, Selbstständiger, Staatsbürger, Elternteil, Konsument und Steuerzahler vielfältig mit seinem gesellschaftlichen und natürlichen Umfeld vernetzt. Tatsächlich ignorieren die Angebote der Finanzunternehmen jedoch weitgehend seine Multidimensionalität. Für sein Finanzkapital bekommt er, in immer neuen Produktverpackungen, fast regelmäßig das Gleiche angeboten: den eindimensionalen globalen finanziellen Utilitarismus. Ob er damit übereinstimmt oder nicht, oder vielleicht auch nur weitgehend, aber nicht vollständig – er kann es kaum beeinflussen. Sein Humankapital, seine Arbeitskraft, setzt er als Beschäftigter auch meist utilitaristisch ein, aber der Nutzen ist nicht zwangsläufig nur finanziell definiert. Die Arbeitsinhalte stehen im Vordergrund und menschliche und soziale Mindeststandards setzen den Rahmen, wo immer er sie durchsetzen kann. Zukünftig sollte es nicht darum gehen, den Utilitarismus als Leitbild des Finanzmarkts abzuschaffen, sondern den Nutzen breiter zu definieren, indem die privaten Anleger ihre Vorstellungen durch ihre Beteiligung an der Steuerung und Kontrolle ihrer Kapitalanlagen einbringen können.