MITTELSCHICHT FÜR ALLE

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Phase 5: Gespaltene Gesellschaft, gespaltene Welt

Das geopolitische Umfeld hat sich im Lauf der Zeit völlig verändert. Staaten, die die westlichen Kriterien einer liberalen Demokratie erfüllen, koexistieren zwar noch immer mit einer Vielzahl von Staaten mit anderen Regierungsformen. Der Kern des liberal-demokratischen Blocks liegt nach wie vor im Westen. Aber auch viele Staaten im Rest der Welt zählen dazu, einige europäische Staaten nicht mehr. Doch die wirtschaftliche und politische Bedeutung des nicht liberal-demokratischen Teils der Welt ist massiv gestiegen und überwiegt den liberal-demokratischen Block deutlich.

Der Lebensstandard der Bevölkerungen in diesen Staaten ist sehr unterschiedlich. Manche haben den Westen überflügelt, andere sind auf dem Weg dahin. In einigen Staaten sind weite Teile der Bevölkerung am Wohlstandszuwachs beteiligt, in anderen vorwiegend die Eliten. Eine kleine, aber steigende Zahl von Ländern ist unregierbar und als Failed States auf einem niedrigen wirtschaftlichen Niveau geblieben oder durch Umwelteinwirkungen dazu geworden. Einzelne Nationen stehen an der Spitze der technologischen Entwicklung, sie verfügen über eine hochautomatisierte Wirtschaft sowie über die gesamte Bandbreite modernster Life-Science-Produkte. Ob Gesundheitsverbesserung, Lebensverlängerung oder körperliche und geistige Weiterentwicklung – für ihre Bevölkerung stehen alle technologisch möglichen Maßnahmen bereit. Im internationalen wirtschaftlichen Wettbewerb sind sie sehr gut positioniert, militärisch mit modernster Technologie ausgestattet.

Der liberal-demokratische Block ist ebenfalls nicht homogen, sondern in zwei Flügel gespalten. Der eine steht in allen technologischen Bereichen mit an der Weltspitze und lässt seinen Digitalisierungseliten und Unternehmen viel Freiraum bei der Entwicklung. Er beschränkt die soziale Absicherung der arbeitslosen Massen auf ein Minimum und bietet dafür seinen Eliten und Unternehmen niedrige Steuersätze. Der andere Flügel, zu dem viele der europäischen Sozialstaaten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zählen, ist in Sachen Biotechnologie, vor allem der Humangenetik, zurückgefallen, auch in der militärischen Entwicklung kann er nicht mehr mithalten. In ihm haben sich die Menschen ohne Arbeit politisch ein hohes Grundeinkommen erkämpft. Um ihre Sozialsysteme gegen den Druck des internationalen Wettbewerbs zu schützen, haben diese Staaten die Steuersysteme harmonisiert, die regionalen Handelsräume ausgebaut und den wirtschaftliche Austausch mit anderen Ländern reguliert.

Doch fast überall in der westlichen Welt, auch in Deutschland, gärt die Unzufriedenheit. In Ländern mit niedrigem Grundeinkommen hat die Ungleichheit ein für die deklassierte Mehrheit unerträgliches Maß angenommen. Die wirtschaftlich abgeschlagenen Massen demonstrieren für mehr wirtschaftliche und politische Inklusion. Sie wollen an den Errungenschaften der Innovation beteiligt werden, die sie nicht bezahlen können. Außerdem fordern sie stärker in den politischen Prozess eingebunden zu werden. Die von ihren Eliten propagierte Spitzenposition im Wettkampf der Systeme nützt ihnen nichts, wenn es den Arbeitslosen in anderen liberalen Demokratien besser geht und Milliarden Menschen im Rest der Welt ebenfalls.

Doch auch in den europäischen Demokratien mit einem hohen Grundeinkommen steigt die Unzufriedenheit – nur auf der anderen Seite. Die Digitalisierungseliten wollen die aus ihrer Sicht hohe staatliche Umverteilung zugunsten der Grundeinkommen nicht länger finanzieren. Sie verlangen mehr politische Rechte mit der Begründung, mit ihrer Expertise und ihrem Kapital die ganze Gesellschaft zu finanzieren. Immer mehr Unternehmen verlegen ihren Sitz in steuerlich günstigere Teile des Westens. Ihren Führungskräften bieten sie an ihren Jobs zu folgen. Viele machen davon Gebrauch. Die Steuerbasis schrumpft, manche Länder senken das Grundeinkommen, andere finanzieren es zunächst durch Umschichtungen im Staatshaushalt und auf Kredit. Gleichzeitig steigt der globale Wettbewerbsdruck. Der Block der westlichen Länder mit niedrigem Grundeinkommen verlangt, dass sie ihre Märkte öffnen sollen. Die technologisch führenden Staaten außerhalb des liberal-demokratischen Lagers unterstützen diese Forderung. Sie haben vom Westen die Führungsrolle bei der Globalisierung übernommen und wollen den Wohlstand ihrer Bevölkerung durch Exportüberschüsse gegenüber dem Rest der Welt steigern.

An dieser Stelle verlassen wir unser Szenario. Was ist schiefgelaufen? Warum haben die Massen nicht das digitale Äquivalent zum Achtstundentag erhalten? Wieso konnte Bildung sie nicht retten? Warum ist der Sozialstaat umkämpft? Wie konnten die gebildeten, ehemals wohlsituierten Mitglieder einer zahlenmäßig dominierenden europäischen Mittelschicht in diese Situation geraten?

Um diese Fragen in den nächsten Kapiteln des Buchs besser beantworten zu können und die sozialen Konsequenzen zu veranschaulichen, betrachten wir ein detaillierteres Szenario1 und werfen dabei einen Blick auf die möglichen wirtschaftlichen Größenordnungen. Als Beispiel nehmen wir die deutsche Wirtschaft, die sich heute immer mehr der Vollbeschäftigung nähert. Fast 45 Millionen Menschen sind erwerbstätig, so viele wie nie zuvor.2 Bei genauer Betrachtung sind viele der neu geschaffenen Jobs nur gering produktive Servicetätigkeiten, Teilzeitbeschäftigungen und Niedriglohnarbeitsplätze. Rund neun Millionen Menschen beziehen Einkommen aus der Arbeitslosenversicherung, der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe.3 Diese Leistungen, insgesamt 110 Milliarden Euro, bezahlt schon heute zu 75 Prozent der Staat. Doch der größte Block des Sozialstaats, 516 Milliarden Euro für die Renten und Krankenversicherung, wird zu 80 Prozent über die Arbeit finanziert.4 Dies ist der Kern des arbeitsorientierten Sozialstaats der deutschen Mittelschicht, die rund 60 Prozent der Haushalte umfasst.5

Stellen wir uns vor, dass, dank Robotern und künstlicher Intelligenz, die Produktivität in Deutschland zukünftig deutlich stärker wächst als in den vergangenen Jahrzehnten. Zwar ist Deutschland in den digitalen Technologien für Endverbraucher nicht stark und verliert möglicherweise zukünftig auch Wertschöpfung im Automobilsektor. Dafür profitiert es von seiner Weltmarktpräsenz im Maschinen- und Anlagenbau. In puncto Digitalisierung materieller Produktionsprozesse steht es sogar technologisch mit an der Weltspitze. Die Produktivität steigt zunächst langsam, dann schneller um bis zu vier Prozent jährlich. Damit erreicht sie im Durchschnitt der nächsten 50 Jahre die 3,5 Prozent-Marke. Im Vergleich zur jüngsten Vergangenheit erscheint dieser Wert hoch, zwischen 1951 und 1970 lag er allerdings sogar bei fünf Prozent.6 Die Wirtschaft wächst insgesamt dagegen nicht annähernd so schnell wie in der Nachkriegszeit, obwohl die Unternehmen die Investitionen hochfahren, denn jedes Jahr gehen mehr Arbeitsplätze verloren als neue geschaffen werden. Die Erwerbsbevölkerung schrumpft bereits durch den demografischen Wandel, doch der Netto-Arbeitsplatzverlust liegt noch höher. In unserem Szenario arbeiten im Durchschnitt der Jahre in Deutschland jedes Jahr zwei Prozent weniger Erwerbstätige. Durch diese Mischung aus Produktivitätszuwachs und Arbeitsplatzverlust steigt das Volkseinkommen nicht viel schneller als heute, durchschnittlich um zirka 1,3 Prozent jährlich. Was in 50 Jahren ein Plus von 90 Prozent ergibt. Es steht also deutlich mehr zum Verteilen bereit, über zwei Billionen Euro zusätzlich. Doch 2068 sind bereits 21 Millionen potenziell Erwerbstätige aus der hochproduktiven Wirtschaft ausgeschieden. Als Arbeitslose erhalten sie kein Stück vom Kuchen mehr, den teilen weitgehend die Unternehmen und die restlichen 16 Millionen Beschäftigten unter sich auf. Die sind zwar nur mit 50 Prozent am Produktivitätsfortschritt beteiligt, doch auch das ist für sie ein gutes Geschäft. Durchschnittlich beträgt ihr Entgelt 140 Prozent mehr als heute. Die Unternehmen und diejenigen, die Vermögen besitzen, profitieren jedoch am stärksten. Sie streichen 2068 rund zwei Drittel des Volkseinkommens ein, weil die Unternehmensgewinne und Vermögenseinkommen förmlich auf über das Fünffache explodieren. Wieviel Arbeit Roboter und künstliche Intelligenz zu diesem Zeitpunkt übernommen haben, zeigt ein Blick auf die jährlich geleisteten Arbeitsstunden: Sie sind von 61 auf 22 Milliarden gefallen.7 Wollte man die Arbeit gleichmäßig auf die Erwerbsbevölkerung verteilen, würden alle nur noch etwa 13 Stunden pro Woche arbeiten.

Das digitale Wirtschaftswunder führt nicht dazu, dass die Gesamtwirtschaft stark wächst, sondern dass die Arbeitszeit massiv schrumpft. Das Ergebnis: eine gespaltene Gesellschaft. Die obersten 20 Prozent in der Einkommenshierarchie, die schon heute, prozentual gesehen, den größten Anteil vom Volkseinkommen für sich beanspruchen, teilen in 50 Jahren auch noch den gesamten Zuwachs unter sich auf. Das Volkseinkommen ist dann auf gewaltige 4,8 Milliarden Euro gestiegen, allein 4,1 Milliarden davon fließen an sie. Die restlichen 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, meist ohne Arbeit, partizipieren nur marginal, ihnen bleiben rund 700 Milliarden Euro. Ein Teil der Jüngeren versucht sich mit Teilzeittätigkeiten außerhalb der hochproduktiven Wirtschaft über Wasser zu halten. Doch ohne die für den digitalen Arbeitsmarkt relevanten Qualifikationen ist ihr Einkommen gering und erhöht das Volkseinkommen nur um wenige Prozentpunkte. Manche zehren noch von Vermögenseinkünften aus Immobilien oder Ersparnissen aus früheren Zeiten, alle anderen, die nicht zu den Familien der hochproduktiv Tätigen gehören, müssen vom Sozialstaat leben, von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Solidareinkommen, Grundsicherung, Grundeinkommen oder Grundrente – wie immer es in 50 Jahren in Deutschland heißen mag. Doch dieser Sozialstaat wird sich ganz anders finanzieren als heute. Sein aktueller Kern, die beitragsfinanzierte Rente und Krankenversicherung, ist ebenso verschwunden wie die ehemalige gut verdienende Mittelschicht. Sie, oder genau genommen ihre Kinder und Enkelkinder, können keine Beiträge für die Altersvorsorge mehr einzahlen, so dass sie im Alter weiter auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Für die Krankenversicherung gilt das Gleiche, auch sie muss der Staat übernehmen.

 

Die einkommenslosen Massen werden über die Steuern von denen finanziert, die noch über Erwerbseinkommen verfügen, und aus den Unternehmensgewinnen und Vermögenseinkommen. Nur dreht es sich in 50 Jahren nicht mehr um neun Millionen unterstützungsbedürftige Menschen wie heute, sondern um den überwiegenden Teil der deutschen Bevölkerung. Das Sozialbudget muss also gewaltig steigen. Das Gute an der Digitalisierung, sollte sie so eintreten wie in diesem Szenario, ist: Geld wäre ausreichend vorhanden. Angenommen, alle Erwachsenen8, ob mit Arbeit oder ohne, ob Vermögenseinkünfte oder keine, erhalten pro Kopf eine monatliche Zahlung vom Staat in Höhe von 1.800 Euro, jedes Kind 700 Euro – kostenlose Krankenversorgung inklusive. Für Rentnerinnen und Rentner gilt dasselbe. Die wirtschaftliche Mittelschicht, eben noch totgesagt, lebt wieder auf. Und nicht nur das. Die früher schlechter gestellten Einkommensgruppen schließen zu ihr auf. Mit diesen Zahlungen verfügt praktisch jeder deutsche Haushalt in 50 Jahren über ein Einkommen, das sich mindestens auf dem Niveau der heutigen Mittelschicht bewegt. Und das ohne Arbeit. Die Mittelschicht ist nicht verschwunden, sondern breiter geworden, rund 80 Prozent zählen nun zu ihr. Und sie ist in sich ökonomisch ausgeglichener geworden.

De facto könnte es unseren Kindern und Enkelkindern wirtschaftlich besser gehen als heute. Auch ohne Arbeit leben sie auf heutigem Mittelschichtniveau. Mit guter Arbeit verdienen sie durchschnittlich deutlich besser als die heutigen oberen 20 Prozent der Einkommenshierarchie. Damit dies eintreten kann, muss die Steuerquote steigen. Die Unternehmen und diejenigen, die noch eine gut bezahlte Beschäftigung und Vermögenseinkünfte haben, müssen höher besteuert werden, ohne dass sie das Land verlassen, weil allein die Zahlungen für diejenigen, die nicht arbeiten, rund 1,1 Billionen Euro im Jahr kosten, zuzüglich Krankenversicherung und übriger Staatsausgaben. Doch von den 4,1 Billionen Euro, die die Digitalisierungselite in unserem Szenario vom Volkseinkommen erhält, bleibt ihr nach Abzug aller Steuern deutlich mehr als den heutigen oberen 20 Prozent. Damit stehen wir wieder vor dem tatsächlichen Kernproblem des zukünftigen digitalen Sozialstaats mit hoher Arbeitslosigkeit: Es ist nicht die demografische Entwicklung und die längere Lebensarbeitszeit, nicht die kleinteilige Verschiebung von Sozialbeiträgen zwischen Alt und Jung, Unternehmen und Beschäftigten – es ist die Auseinandersetzung zwischen den erwerbslosen Massen und der sehr gut verdienenden Restbevölkerung darüber, wem die Gewinne des digitalen Wirtschaftswunders zustehen. In den nächsten Kapiteln betrachten wir die Fronten und mögliche Lösungen in diesem Verteilungskampf.

2
Von der Kooperation zur Alimentation

Geht man den verschlungenen Pfad der Menschheitsgeschichte zurück, der von der heutigen Mittelschicht zum Menschenaffen am Anfang dieses Buchs führt, gelangt man zu zwei entscheidenden menschlichen Fähigkeiten, die durch die Evolution in uns angelegt sind: Kooperation und Kommunikation. Ohne sie hätten wir es nie vom Knochen zum Raumschiff gebracht. Sicher, die Menschen haben von allen Primaten das am weitesten entwickelte Gehirn. Sie übertreffen alle anderen Spezies, wenn es darum geht Werkzeuge zu entwickeln, abstrakt zu denken und zukünftige Entwicklungen vorauszusehen. Ohne diese Fähigkeiten hätte der Mensch seine heutige Stellung in der Natur nie erreicht, wären die von ihm geschaffenen Kulturen undenkbar. Dennoch waren sie nicht ausreichend, um die überlegene Position der Menschheit zu begründen. Dazu bedurfte es der Kooperation und zu ihrer Verbesserung der Kommunikation. Die Kooperation ermöglichte es den Menschen gemeinsam erfolgreicher zu jagen, sich und ihre Nachkommen zu versorgen und sich zu schützen. Mittels Kooperation wurden große Reiche gegründet, durch einen Mangel daran zerfielen sie oder wurden durch die überlegene Kooperation äußerer Feinde zerstört. Die Kommunikation, insbesondere über die modernen Medien, katapultierte die Kooperation auf eine ganz neue Ebene. Die heutige globale Zusammenarbeit, die internationalen Lieferketten, die „just in time“ jede Komponente im richtigen Moment an die weltweit verstreuten Fließbänder befördern, wäre ohne das Internet nicht denkbar. Fast alles, was wir heute besitzen und tun, basiert auf Kooperation. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft erscheint sie uns so normal, dass wir im Alltag über ihre Existenz kaum nachdenken. Aber gerade angesichts ihrer Bedeutung sollten wir uns die Frage stellen: Ist Kooperation natürlich und damit selbstverständlich? Oder ist sie keineswegs der Normalfall und daher auch reversibel?

Auf den ersten Blick erscheint die Antwort klar zu sein. Wird unsere Welt nicht offensichtlich immer vernetzter, nahezu exponentiell kommunikativer und Kooperation über alle Grenzen hinweg zunehmend wichtiger? Dank Globalisierung und Digitalisierung können wir uns privat in Echtzeit aus fast allen Ländern Informationen beschaffen und mit Menschen, die dort leben, kommunizieren. Im Beruf arbeiten viele online mit Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Teilen des Erdballs und unterschiedlichen Zeitzonen zusammen. Forschung und Entwicklung werden heute in großen internationalen Teams vorangetrieben. Supranationale Organisationen versuchen, durch die unermüdliche Kooperation ihrer Gremienmitglieder im Rahmen einer diffusen internationalen Governance für eine friedliche Zukunft zu sorgen. Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen: Globale Kooperation ist auch umkehrbar. Vor hundert Jahren hat bereits eine Globalisierungsphase mit dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende gefunden. Heute wird sie sogar von einstigen Befürwortern in Frage gestellt. Außerdem produziert die Digitalisierung zwar immer mehr Informationen, benötigt dafür aber nicht zwangsläufig die Zusammenarbeit von Menschen. Tatsächlich wird die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine immer wichtiger. Auch die Kooperation von Maschinen untereinander gewinnt an Bedeutung. Dezentrale Rechnerleistungen werden verknüpft. Das zukünftige Internet der Dinge soll zwar den Menschen dienen, braucht sie aber dafür nicht, zur Not funktioniert es in weiten Teilen auch ohne sie. Muss es auch, denn schließlich soll es ihnen Arbeit abnehmen und diese sogar besser erledigen. Digitale Steuerung soll die Wohnung ohne unser Zutun energieeffizient heizen, die Alarmanlage den Sicherheitsdienst im richtigen Moment rufen und der Kühlschrank im Supermarkt das passende Essen für das Wochenende bestellen, während wir im selbststeuernden Auto unterwegs sind. Kooperieren müssen wir dabei nicht mehr, auch nicht kommunizieren, nur noch sitzen und zahlen.

Digitalisierung bedeutet in ihrer rationalisierenden Konsequenz nichts anderes, als dass die Erwirtschaftung des Bruttosozialprodukts noch weiter automatisiert wird als bisher und der menschliche Arbeitsanteil daran abnimmt. Wo Menschen heute geistige Leistungen erbringen, zieht künstliche Intelligenz ein, die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine wird zur Kooperation von Algorithmen und Robotern. Die gemeinsame produktive Tätigkeit von Menschen untereinander geht dadurch zurück. Für die hochautomatisierte Produktion der Zukunft ist die Beteiligung von Menschen an der Arbeit nichts weiter als ein zu reduzierender Kostenblock und ein fehleranfälliger Störfaktor. Der Wert der gemeinsamen menschlichen Arbeit wird zum Thema für Historiker, Nostalgiker und Sozialromantiker. Wo früher intelligente Primaten gemeinsam jagten, produzieren und verwalten zukünftig Roboter und künstliche Intelligenz.

Jagen und Teilen

Endlich ist der Mensch frei. Befreit von der Mühsal, seinen Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts zu verdienen. Befreit von der langweiligen Routine, im abgegrenzten Kästchen eines Call-Centers mit stets freundlich professioneller Stimme wildfremden Menschen vorgefertigte Antworten zu übermitteln. Befreit allerdings auch vom sozialen Kontakt mit Kollegen, von den durch die Arbeit vorgegebenen Strukturen des Tagesablaufs und vom Sinn der Arbeit, wenn er denn einen darin sah. Leider auch befreit von seinem Einkommen, denn ohne Kooperation erhält er nicht automatisch einen Anteil an der Produktion. Der menschliche Urzusammenhang bestand nicht nur im Jagen, sondern auch im Teilen. Wer bei der Jagd mitmachte, wer ihre Planung vorangebracht, ihre Anstrengung erlitten und ihr Risiko getragen hatte, war auch beim Teilen der Beute dabei.

Michael Tomasello, ein preisgekrönter Anthropologe, der sich ausführlich mit der Evolution der menschlichen Kooperation und Moral befasst hat, beschreibt in seinem Werk „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“, wie sich der Zusammenhang von Jagen und Teilen entwickelt haben könnte. Vor zirka 400.000 Jahren begannen unsere Vorfahren vermutlich zunehmend Großwild zu jagen. Das war allein schwierig, gemeinsam erfolgreicher. Die Kooperation wurde überlebenswichtig. Auf Dauer waren die Jäger am erfolgreichsten, die die Beute so teilten, dass jeder etwas davon hatte. „Nur Individuen, die gut mit anderen zusammenarbeiten konnten, aßen auch gut und gaben ihre Gene erfolgreich weiter“, so Tomasello.1

Heute ist die Beute unserer Kooperation das Sozialprodukt. Seine Verteilung erfolgt über symbolische Bezugsrechte in Form von Geld. Der Verteilungsschlüssel ist hochkompliziert und verändert sich laufend, aber es gilt wie vor 400.000 Jahren: Wer bei der Produktion dabei war, erhält einen Anteil. Das jährliche Feilschen der Investmentbanker an der Wallstreet über die Höhe ihrer Boni spiegelt das archaische Grundprinzip unserer jagenden Vorfahren wider. Trotz aller kulturellen Unterschiede haben die kooperierenden Menschen in den westlichen Industriegesellschaften grundlegend ähnliche Verteilungskriterien entwickelt. Vor allem zählt, wieviel jeder und jede Einzelne durch persönliche Arbeit zum Ergebnis beigetragen hat. Der Zeiteinsatz ist wichtig, aber auch wie bedeutend jede Person für den Erfolg war. Für diese Faktoren hat sich bei uns der Begriff Leistungsgerechtigkeit eingebürgert. Sie soll die Höhe des Gehalts bestimmen. Anders als bei unseren Vorfahren ist der zweite wichtige Faktor Eigentum, in der öffentlichen Diskussion meist pauschal unter dem Begriff Kapital zusammengefasst. Wer über Produktionsmittel verfügt, sie für die Kooperation zur Verfügung stellt und diese effizienter macht, erhält ebenfalls einen Anteil am Ergebnis in Form von Gewinn oder Mieteinnahmen. Zum Eigentum zählen schließlich auch finanzielle Mittel. Wer sie bereitstellt, erhält einen Anteil in Form von Zinseinnahmen.

Bei allem Interesse an der Kooperation streiten die Beteiligten ohne Ende über die Höhe ihres Anteils. Zwischen Arbeit und Kapital wird fast jährlich neu über die Löhne und Gehälter verhandelt. Generationen von Wissenschaftlerinnen und Forschern suchen und finden seit Jahrhunderten immer ausgefeiltere Begründungen für die vermeintlich angemessene Verteilung. Das täuscht niemanden mehr darüber hinweg, dass letztlich durch die Verhandlungsmacht derer, die kooperieren, entschieden wird, wer wieviel erhält. Am Ende aber bekommen alle Beteiligten etwas von der Beute.

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