Wie im Flug

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Wie im Flug
Font:Smaller АаLarger Aa

URSULA STENZEL

WIE IM FLUG

ETAPPEN MEINES LEBENS


Leopold Stocker Verlag

Graz – Stuttgart

Umschlaggestaltung: DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at / Thomas Aldrian

Bildnachweis Vorderseite: v. l. n. r. Privatarchiv; ORF; Privatarchiv; FPÖ

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

Hinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

Anmerkung des Verlages: Die inhaltliche Bearbeitung des vorliegenden Buches wurde Anfang August 2021 abgeschlossen. Danach erfolgte tagespolitische Veränderungen im In- und Ausland konnten naturgemäß nicht mehr thematisiert werden.

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:

Leopold Stocker Verlag GmbH

Hofgasse 5 / Postfach 438

A-8011 Graz

Tel.: +43 (0)316/82 16 36

Fax: +43 (0)316/83 56 12

E-Mail: stocker-verlag@ares-verlag.com

www.stocker-verlag.com

ISBN 978-3-7020-1805-4

eISBN 978-3-7020-2020-0

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2021

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1.Die Gnade der Geburt

2.Frühe Prägungen

3.Die Überlebenshelfer

Gertrud Steinitz-Metzler und „inser Unnützer“

Die Ursulinen

4.Hommage an Vera und Dr. Richard Deutsch

5.Bitteres Erwachen aus dem amerikanischen Traum

6.Der Garten meiner Kindheit

Der Stasi-Akt

Die Sinnlosigkeit der Schuldfrage

7.DDR-Impressionen

Ferieneindrücke in der DDR

Mein Verhör

8.Journalistische Anfänge im ORF

9.Der Sprung zum Fernsehen

10.Journalistische Höhepunkte

„Von Franco zur Demokratie“

„Vom Schah zum islamischen Gottesstaat“

„Hoffnung und Scheitern in Jerusalem“

Ausflug in den amerikanischen Traum

11.Erste Fernsehmoderatorin und Hoppalas

12.Der Sprung in die Politik

Ein unerwarteter Anruf

13.Mein erster Wahlkampf

14.Polen – ein Zufall führte Regie

In jedem Witz steckt ein Fünkchen Wahrheit

15.Ukraine – schwankender Riese zwischen West und Ost

16.Kontrastprogramm

17.Malta – Beitritt in Etappen

18.Afghanistan – der asymmetrische Konflikt

19.Korea – der eingefrorene Konflikt

Mythos und Realität

Inselkoller

Gulaschkommunismus auf Koreanisch

Wiener Melange in einem Schweizer Café

Diplomatische Betriebsamkeit

20.Von Brüssel nach Wien und weshalb ich zur FPÖ wechselte

Dem Weltkulturerbe verpflichtet

Konflikt um die Garage am Neuen Markt

„Rieu sagt Wien Adieu“

Entfremdung von der ÖVP – Weg zur FPÖ

Das europäische „9/11“

21.Heinrich Schweiger – „Das fängt ja gut an“

Endlich – das erste persönliche Kennenlernen

Burgtheater-Groupie

Heinrich Schweiger – „einsamer Partisan der Qualität“

Trennung als Kitt

Tierisches von Katzen und Vögeln

Keine Ménage-à-trois

Flucht in die Operette

Nachsatz und Nachwort

Anmerkungen

Vorwort

Immer wieder traten Freunde und Bekannte an mich heran, ich möge doch meine Erinnerungen aufzeichnen. Lange überlegte ich, ob ich zu den vielen Biografien noch eine hinzufügen sollte.

Nicht jedes Leben, auch wenn es zu einem beträchtlichen Teil in der Öffentlichkeit stattfindet, muss unbedingt zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden. Ich tat es dann doch, weil ich an einer Zeitenwende geboren wurde und so unterschiedliche berufliche Stationen durchlief, dass meine Erfahrungen, Erlebnisse und die Menschen, denen ich begegnen durfte, mehr als nur persönliche Bedeutung haben.

Das beginnt mit meinen Eltern, denen ich die Gnade der Geburt zu verdanken habe, den frühen Prägungen, die sie mir vermittelten, und den Menschen, die zu Überlebenshelfern für sie und meine um 13 Jahre ältere Schwester wurden. Ihnen, die uns geholfen haben, die Hitlerzeit zu überstehen, wollte ich auf diese Weise danken. Da meine Mutter aus einer jüdischen Familie stammte, waren meine Eltern und auch meine Schwester in der NS-Zeit der Verfolgung ausgesetzt. Ich wurde daher von frühester Kindheit an politisch, aber auch kulturell geprägt. Davon handeln die Kapitel „Die Gnade der Geburt“, „Frühe Prägungen“ und „Die Überlebenshelfer“.

Die Schwester meines Vaters, Vera Deutsch, geborene Stenzel, und ihr jüdischer Mann, Dr. Richard Deutsch, emigrierten in die USA. Auch sie haben Zeitgeschichte erlebt und erlitten und haben ihre Erinnerungen festgehalten, denen ich sehr persönliche Zeitzeugnisse entnommen habe, die bis in die Erste Republik zurückreichen. Ihnen widme ich eine Hommage. In meiner Familie war alles vertreten: Sozialdemokraten der ersten Stunde, jüdisches Großbürgertum der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Christen und Agnostiker. Da meine Schwester einen Arzt heiratete, mit dem sie 13 Jahre in der DDR verlebte, wohin es seine polnisch-deutsche Mutter auf der Flucht aus Rumänien verschlagen hatte, habe ich auch die DDR hautnah kennengelernt und diese meine Eindrücke in dem Kapitel „DDR-Impressionen“ festgehalten. Meiner Schwester Marianne habe ich in diesen Erinnerungen viel Raum gewidmet, nicht nur, weil sie wie eine zweite Mutter für mich war, sondern weil sie auch ein großes lyrisches Talent hatte. Daher habe ich auch einige Gedichte von ihr veröffentlicht. Die Teilung Europas, die Erfahrungen des Kalten Krieges haben mich zum Journalismus gebracht.

 

Die Kapitel 8 bis 12 handeln von meinen Anfängen im ORF, von großen journalistischen Persönlichkeiten, die mich gefördert haben, meinen ersten Reportagen, dem Sprung zur Moderation und wichtigen internationalen Ereignissen, über die ich berichten durfte, vom Zusammenbruch des Schahregimes im Iran bis zu dem Besuch Sadats in Jerusalem und dem Ende der Franco-Ära in Spanien. Ich berichte von meinem Sprung in die Politik, in die mich Wolfgang Schüssel geholt hat, damals noch als Außenminister und Vizekanzler. Die Kapitel 13 bis 20 schildern die vielfältigen Aufgaben, die ich im Europaparlament übernehmen durfte und die mich in die bis heute virulenten Krisengebiete unserer Zeit führten, von Afghanistan bis Korea, aber auch nach Polen, in die Ukraine und die Tschechische Republik, nicht zu vergessen Malta. Im Gegensatz zu meinem Mann, der leidenschaftlich fotografiert hat, habe ich während meiner Auslandsaufgaben auch aus Zeitgründen nicht fotografiert, weshalb diese Kapitel nur wenige Bilder enthalten, aber sie nehmen Bezug auch auf die aktuellen Entwicklungen. Zehn Jahre lang habe ich im Europäischen Parlament gearbeitet und bin ständig mit dem Flugzeug gependelt: von Wien nach Brüssel und Straßburg und von dort zu den verschiedensten Destinationen. Diese Zeit verging im wahrsten Sinne des Wortes wie im Flug und hat mich zu dem Titel meines Buchs inspiriert.

Dass meine Ehe mit Heinrich Schweiger das ausgehalten hat, verdanke ich diesem wunderbaren Menschen und Schauspieler, dem ich das letzte Kapitel gewidmet habe und für den ich über seinen Tod hinaus große Liebe und Dankbarkeit empfinde.

Selbstverständlich gehe ich auch auf meinen Wechsel von der ÖVP zur FPÖ und zu Heinz-Christian Strache ein, einen Wechsel, den viele meiner Freunde – aber auch Menschen, die mir fernstehen – als einen Bruch in meiner Vita empfinden. Das war er aber nicht, sondern ein Schritt zu einer Partei, die ich in der Phase meines Übertrittes für die bessere konservative Partei hielt, was sie möglicherweise, wenn sie das Tal der Tränen durchschritten hat, wieder werden wird. Der letzte Auslöser für diesen meinen Schritt war die sogenannte Flüchtlingskrise im Spätsommer des Jahres 2015, die ich als eine Invasion ohne Waffen und das österreichische „9/11“ empfand.

Nach Beendigung meiner politischen Tätigkeit, zu der selbstverständlich auch meine zehnjährige Zeit als Bezirksvorsteherin des 1. Bezirkes, also der Inneren Stadt, gehörte, auf die ich ebenfalls eingehe, legte ich meine FPÖ-Mitgliedschaft zurück. Ich wollte diese meine Erinnerungen, die ich aus den Tiefen meines Gedächtnisses und zum Teil auch aus meinen Aufzeichnungen geholt habe, ohne Rücksicht auf irgendeine Partei verfassen und zu meiner Unabhängigkeit zurückkehren. Meine Erinnerungen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit oder Wissenschaftlichkeit. Vieles ist anekdotisch. Da ich nicht regelmäßig Tagebuch geführt habe, blieben nur sehr markante Ereignisse und Persönlichkeiten in meinem Gedächtnis haften. Ohne die Hilfe von DDr. Claudia Tancsits, die mich als Historikerin betreute, hätte ich dieses Buch nicht fertigstellen können. Dafür möchte ich ihr meinen herzlichen Dank aussprechen. Dem Lektor Mag. Werner Gut danke ich für sein Verständnis und seine Geduld. Ihnen, meinen Lesern, wünsche ich, dass Sie mein Buch als einen Beitrag zum Verständnis unserer Zeit ohne den Anspruch auf Besserwisserei empfinden und die Lektüre „wie im Flug“ genießen mögen.

Ursula Schweiger-Stenzel

Juli 2021

1.Die Gnade der Geburt

Niemand kann sich an das Wichtigste im Leben erinnern, und das ist nun einmal die Geburt, denn ohne sie wäre man nicht am Leben. Daher weiß ich, wie alle anderen Menschen auch, die Umstände meiner Geburt nur aus den liebevollen Erzählungen meiner Mutter. Sie erinnerte sich, dass sie, in einer Ambulanz liegend, bei großer Hitze – es war der 22. September 1945 – ins Goldene Kreuz gefahren wurde, und die Trümmerberge, an denen die Rettung vorbeifuhr, kontrastierten mit dem strahlend blauen Himmel. Gegen neun Uhr abends war ich dann da. Es ging soweit alles glatt. Meine Mutter war mit 43 Jahren eine Spätgebärende, die Sache war also nicht so einfach für sie.


© Privatarchiv

Frühjahr 1946: Meine Mutter zog es mit mir in den Prater.

Ich kam mit sieben Monaten etwas zu früh auf die Welt. Also kam ich zur großen Sorge meiner Eltern zunächst in den Brutkasten. Am folgenden Tag kam die Schwester mit mehreren Säuglingen im Arm in das Zimmer. „Jessas, jetzt hab i des Zwutschkerl aa mitbracht. Aber wissens was, wenns scho da is, versuch mas.“ Sie legte mich an die Brust meiner Mutter, und ich begann sofort, daran zu nuckeln. Die Schwester tat einen Luftsprung. „Jetzt hammas g’schafft, jetzt samma übern Berg!“ Als meine Mutter mit mir nach Hause fuhr, wieder an Trümmerbergen vorbei, war das Wetter gekippt. Es schüttete, war kalt. Der heiße Sommer hatte sich verabschiedet, der Herbst war da, und ein eiskalter Winter stand bevor. Ursprünglich hatte meine Mutter gedacht, sie habe einen Tumor. Groß war die Überraschung und sehr groß war die Freude, als sich herausstellte: Der Tumor war ich!

Noch in den letzten Kriegstagen, als sich meine Mutter ihrer Schwangerschaft noch gar nicht bewusst war, hatte sie mit meinem Vater schwere Matratzen vom dritten Stock unserer Wohnung in der Czerningasse 21 in den Keller geschleppt. Die letzten Kriegstage, ja Kriegsstunden haben sich in das kollektive Gedächtnis unserer Eltern- und Großelterngeneration eingraviert, selbstverständlich auch in das meiner Eltern und meiner um 13 Jahre älteren Schwester Marianne. Daher weiß ich sozusagen alles aus erster Hand. In dem Keller, in dem meine Eltern und die Bewohner unseres Hauses Zuflucht gesucht hatten, muss eine gespenstische Atmosphäre geherrscht haben. Hier saßen sie alle: die überzeugten Nazis, diejenigen, die meine jüdische Mutter und meine Schwester mieden, weil sie Angst vor Rassenschande hatten. Freilich waren nicht alle so. Manche, obwohl braun durchsetzt, behielten ihre Menschlichkeit, und ich möchte eine Familie, von der ich nur den Nachnamen weiß – Philipich –, ausdrücklich erwähnen, denn diese hat sich um meine Schwester gekümmert. Frau Philipich ging mit meiner Schwester während dieser schweren Zeit der Verfolgung schwimmen, in ein Schwimmbad, das es damals noch am Donaukanal gegeben hat. Sie war allerdings eine Ausnahme und nicht die Regel. Alle diese Menschen – wenn man so will, Täter, Mitläufer und Opfer (meine Familie) – waren nun also in diesem tiefen Keller in der Czerningasse 21 versammelt, hatten Zuflucht gesucht vor den letzten Bombardements und den herannahenden russischen Truppen, deren Stalinorgeln man immer deutlicher hörte. Sie alle vereinte die Angst: die einen die Angst vor den Sowjetsoldaten – das war die Mehrheit –, die anderen die Angst, dass fanatische und bis zum Schluss erbittert kämpfende Anhänger des NS-Regimes noch die letzten Juden oder die des Widerstandes Verdächtigten aus den Kellerverliesen zerren und erschießen oder am letzten Laternenpfahl aufhängen könnten. Auch dies ist ja, wie wir alle im Nachhinein wissen, passiert. Dazu kam, dass sich Heckenschützen in den Dachgeschossen mancher Zinshäuser verschanzt hatten und den Rotarmisten heftige Gefechte lieferten. Meine Schwester erlebte diese letzten Minuten des Endkampfes folgendermaßen: Der Gefechtslärm kam näher, im Keller herrschte Schweigen, als plötzlich lautes Klopfen an der Kellertür zu hören war. Die Mitbewohner, aber auch meine Eltern, meine Schwester und meine Großmama väterlicherseits erstarrten. Niemand wagte es, die Kellertür zu öffnen. Nur mein Vater traute sich, obwohl er nicht wusste, was ihn und seine Familie erwarten würde. Als er die Tür geöffnet hatte, stand ein russischer Offizier vor ihm. Meine Schwester empfand ihn als „schön wie ein Engel“. Er trug einen langen grauen Militärmantel und sagte in gebrochenem, aber sehr gut verständlichem Deutsch: „Dieses Haus steht unter dem Schutz der Roten Armee.“ Meine Schwester fiel auf die Knie und bekreuzigte sich.


© Privatarchiv

Mit Mutter vor dem zerstörten Burgtor (li.); mein stolzer Vater (re.).

Die Erleichterung hielt aber nicht lange an. Nach der Vorhut der Rotarmisten kam die Nachhut, der Tross, und es hat sich schnell herumgesprochen, dass diese ausgehungerte und vom Kampf brutalisierte Soldateska vor allem für junge Mädchen wie meine Schwester, aber auch für meine Mutter und alle anderen Frauen gefährlich war. Also packte man sich wieder zusammen, um einen etwas sichereren Zufluchtsort zu finden. Es muss chaotisch und hektisch zugegangen sein. Jeder wollte nur so schnell wie möglich auf die andere Seite der Praterstraße, wahrscheinlich in die Nähe der oder in die Pfarre St. Nepomuk. Meine Mutter erzählte, dass es Stunden brauchte, um diese paar Meter zu überwinden, über Schutthalden hinweg. Irgendwer hatte meinem Vater noch ein Paket in die Hand gedrückt, das in ein Tuch eingewickelt war, als es plötzlich begann, aus diesem Paket heraus zu tirilieren. Das verhüllte Behältnis entpuppte sich als Vogelkäfig, in dem ein um seine Ruhe gebrachter, erschreckter Kanarienvogel ein Lebenszeichen von sich gab. So schrecklich diese Situation war – man wollte natürlich um keinen Preis durch ein Geräusch auffallen –, so komisch war sie auch. Meine Eltern und ich haben noch Jahrzehnte später über diese Episode gelacht.

2.Frühe Prägungen

Es ist verständlich, dass meine Eltern nach dem Ende des Dritten Reiches nicht einfach den Schalter umlegen und so tun konnten, als sei nichts geschehen. Die zeitgeschichtlich relevanten Erzählungen wurden mir von frühester Kindheit an übermittelt und beeinflussten meine spätere Studien- und Berufswahl. So ist mir die berühmte Abschiedsrede des letzten österreichischen Bundeskanzlers Dr. Kurt Schuschnigg mit ihren Schlussworten: „Gott schütze Österreich!“, so vertraut, als ob ich sie selbst gehört hätte. Wann immer meine Mutter sich dieser historischen Rede erinnerte, kämpfte sie mit den Tränen. Das war die Zäsur in ihrem Leben, der Moment, von dem an nichts mehr so war wie früher.

Meine Mutter Elise Stenzel, geborene Jurberger, war, wie mein Vater, Jahrgang 1901. Sie kam aus einer liberalen, emanzipierten jüdischen Familie, typische Vertreter des Wiener Bürgertums der ausklingenden österreichisch-ungarischen Monarchie. Ihr Vater Salomon Jurberger, der 1921 verstarb, war Oberkantor im Leopoldstädter Tempel, menschenscheu und ein Opernnarr. Fast jeden Abend ging er in die Oper, Stehplatz selbstverständlich, und wenn er nach Hause in seine Dienstwohnung in der Czerningasse 21 kam – die Wohnung, in der auch ich aufwuchs – und noch verschlossener war als sonst, stellte seine Frau Klara – eine geborene Stern; auch ihr Vater Leopold Stern war Oberkantor gewesen – nur liebevoll fest: „Mein Gott, heute muss der ‚Pickerl‘ wieder gut gewesen sein.“ Sie meinte natürlich den damaligen Star am Wiener Opernhimmel, Alfred Piccaver. Von meinem Großpapa wurde mir von meiner Mutter auch folgende, offenbar typische Geschichte überliefert: Bei einem seiner Antrittsbesuche als Oberkantor öffnete der Gastgeber die Tür. Wer es war, ist meinem Gedächtnis entschwunden. Nicht entschwunden ist allerdings das, was meinem Großvater spontan herausrutschte, als ihm nach dem Läuten die Tür geöffnet wurde: „Ach Gott, ich habe gehofft, Sie sind nicht zu Hause.“ Wie meine Großmama Klara diesen Fauxpas auszubügeln versuchte, ist mir nicht berichtet worden. Sie sah ihrem Mann ebenso wie seine Kinder – meine Mutter Liesl, ihre ältere Schwester Stella und der Bruder Hermann – seine Eigenheiten, ja Schrullen nach. Er war der geliebte und verehrte „Vaterl“. Klara war die realitätsbezogene Resolute, die die Familie zusammenhielt – mit einem großen Sinn für Humor. Ihr Ausspruch, als die Familie sich einmal rund um den Tisch versammelt hatte und die Kinder offenbar aneinandergerieten, ging ebenfalls in die Familienchronik ein: „Ich dilde das bei Tusche nicht …“, rief sie aus, und ihr Bemühen um gute Tischsitten ging in großer Heiterkeit unter.

 

Die Kindheitssommer – die klassische Sommerfrische – verbrachte die Familie in Bad Ischl, und meine Mutter berichtete mir nicht ohne Rührung, wie ihr Vater auf den Balkon des Ferienhauses heraustrat, die Arme ausbreitete und Kaiser Franz Joseph segnete, als dieser einmal mit der Kutsche vorbeifuhr. Ein Ende der Monarchie konnte sich weder die Familie meiner Mutter noch die meines Vaters je vorstellen.

Dass meine Mutter ihre Kindheitssommer in Ischl verlebte, an das sie idyllische Erinnerungen hatte, verdankte sie vor allem dem Bruder ihrer Mutter, Julius Stern, der Publizist und Kulturkritiker war und sich schon berufsbedingt in Ischl aufhielt, der Metropole der silbernen Operettenära. Die wunderbare Lehar-Villa erinnert heute noch daran. Julius Stern war ein namhafter Feuilletonist, Theater- und Musikkritiker, Mitglied des Presseclubs Concordia und 1909 dessen Vizepräsident. Jahrzehnte später, als ich Publizistik studierte, zählte die Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des Presseclubs, die er gemeinsam mit dem Präsidenten der Concordia Sigmund Ehrlich verfasst hatte, zu meiner Pflichtlektüre. Seinen Sohn Alfred, den es nach der Emigration nach Puerto Rico verschlagen hat, wo er an der dortigen Universität Philosophie lehrte, habe ich noch als betagten Herrn kennengelernt.

Er mochte mich offenbar sehr. Dies erfuhr ich eher zufällig, als ich – schon Stadträtin im FPÖ-Klub – mit der Straßenbahn zu meinem Büro ins Rathaus fuhr und mich eine Dame ansprach, die sich als die engste Freundin Alfred Sterns und seiner bildschönen puerto-ricanischen Frau Gloria zu erkennen gab und mir berichtete, wie liebevoll und stolz Alfred Stern über seine kleine Nichte Uschi gesprochen habe. Ich war zu Tränen gerührt. Vielleicht war auch ein anderer Bruder meiner Großmama, Emil Stern, Ursache der Ischler Sommerfrische: Von ihm wurde mir nur erzählt, dass er Komponist war und eine Operette Joseph Lanners musikalisch überarbeitet hat, die hin und wieder auch heute noch ihren Weg auf die Bühne findet und den Titel „Alt-Wien“ trägt.

Dass die Familie sich diese Sommerfrische in Ischl leisten konnte, verdankte sie sicher Maximilian Stern, dem ältesten Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits, der die Familie als Begründer der Firma Schiff & Stern großzügig unterstützte. Die Firma, die wärmetechnische Geräte herstellte – solange das Rauchen noch nicht verpönt war, übrigens auch Tabakbefeuchtungsanlagen –, existiert heute noch unter dem gleichen Namen und gehört der Familie Joseph Trösch, die vor dem Erwerb dieses Unternehmens die letzte Molkerei in Wien betrieben hat. Sie hat die Firmenunterlagen von Schiff & Stern dankenswerterweise aufbewahrt und mir im Zuge meiner Recherchen für dieses Buch übergeben, wodurch ich auch authentische Unterlagen über den Sohn von Max Stern, DI Roland Stern, besitze. Roland Stern, der Cousin meiner Mutter, konnte nach London emigrieren und war eine für mich prägende Persönlichkeit. Er lebte jeweils ein halbes Jahr in England und ein halbes Jahr in Wien und wäre lieber Schriftsteller geworden als Diplomingenieur für Maschinenbau sowie Unternehmer, obwohl er auch in wirtschaftlichen Belangen durchaus erfolgreich war. Ich wage zu behaupten, dass er ein Genie war. Nie vorher und nie nachher bin ich einem Menschen von so umfassendem literarischen, kunsthistorischen und musikalischen Wissen begegnet wie ihm. Er führte mich noch während der Schulzeit in die schwierigsten Opern ein, so in „Ariadne auf Naxos“, eines seiner Lieblingswerke von Richard Strauss. Er setzte sich einfach ans Klavier und spielte mir die Motive vor, ohne Partitur – er spielte auswendig. Ebenso das Spätwerk Giuseppe Verdis, „Falstaff“ und viele andere klassische „Zuckerln“. Wenn er nicht gerade selbst Gäste hatte, war er entweder im Theater, in der Oper, im Konzert oder im Kino. Auch seine Geschäftsfreunde nahm er in die Oper oder ins Theater mit, nicht immer zu deren Vergnügen, wie ich annehme. Er schätzte und kannte das Werk Arthur Schnitzlers in all seinen Facetten. Einmal hielt der großartige Schriftsteller Manès Sperber einen Vortrag in Wien über „Schnitzler und die Unfähigkeit zu lieben“. Roland konnte nicht und schickte mich hin, die ich als Studentin kaum einen Vortrag in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ausließ, um ihm darüber zu berichten. Der Vortrag war insofern bemerkenswert, als Sperber Arthur Schnitzler, dem scharfsinnigen Beobachter der Erotik der Jahrhundertwende und Verfasser des „Reigens“, des „Einsamen Weges“ usw. vorwarf, dass dieser eigentlich unfähig zu lieben gewesen sei, und eine schonungslose Abrechnung mit der schwülstigen Erotik der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vortrug. Für mich war dieser Wunsch meines Onkels, ihm über den Vortrag Manès Sperbers zu berichten, mehr wert als so manche Vorlesung am Institut für Zeitungswissenschaft. Noch dazu, da ich dessen Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ über die grausamen Geschehnisse auf dem Balkan während des Zweiten Weltkrieges verschlungen hatte und auch die erschütternde Verfilmung kannte. So war ich später, als ich bereits die „Zeit im Bild 2“ moderierte und Sperber interviewen durfte, auf diese Aufgabe gut vorbereitet.

Roland Stern war auch „schuld“ daran, dass mein Vater meine Mutter kennenlernte. Die Leben von ihm und meinem Vater waren seit der gemeinsamen Schulzeit im Realgymnasium in der Vereinsgasse und danach während des Maschinenbaustudiums an der Technischen Hochschule in Wien eng miteinander verbunden. Schon während der Realschulzeit verkehrte mein Vater im Hause der Familie Stern, und das änderte sich auch während der Studienzeit nicht. In diesem Haus lief ihm auch eines Tages, als er mit Roland wieder höhere Mathematik für eine Abschlussprüfung an „der Technik“ lernte, eine dunkelhaarige junge Frau über den Weg, und er fragte Roland, wer sie sei. „Meine Cousine Liesl – willst du sie kennenlernen?“ So nahm eine schicksalhafte Begegnung ihren Anfang, die schließlich im März 1931 zur Ehe führte.


© Privatarchiv

Meine Eltern auf Hochzeitsreise in Amsterdam (1931).

Meine Mutter arbeitete damals vorübergehend in der Firma ihres Onkels im Büro. Ihre Leidenschaft aber galt dem Theater; sie hat ihre Ausbildung an der Akademie im Jahrgang vor Paula Wessely absolviert. Aus dieser Zeit stammte eine große gegenseitige Wertschätzung. Paula Wessely soll einmal in einer Pause zu ihr gesagt haben: „Liesl, wenn ich dein Talent hätt …!“ Und meiner Mutter blieb ihr Gretchen in der Max-Reinhardt-Inszenierung von Goethes „Faust“ in Salzburg unvergesslich. Knapp nach dem Anschluss sind sie einander einmal zufällig auf der Praterstraße begegnet und haben sich umarmt in einem Gefühl der Hilflosigkeit. Beide haben geweint.

Meine Mutter hat ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, lange vor ihrer Familie geheim gehalten. Das war eine Vorsichtsmaßnahme. Schließlich war ihr Onkel Julius ein gefürchteter Theaterkritiker. Er war es auch, der sie als Kind zu ihren ersten Theater- und Opernvorstellungen mitnahm, ins damals noch existierende Karltheater. Sie erzählte immer von ihrem Kindheitserlebnis im „Freischütz“ von Carl Maria von Weber: Julius hatte sie begleitet. Kurz vor der berühmten Szene in der Wolfsschlucht sagte er, er müsse gehen, er fürchte sich zu sehr, und ließ das arme siebenjährige Mädchen, das meine Mutter damals war, allein im Theater zurück. Sie hat sich wirklich gefürchtet; ihm, dem Theaterkritiker, war lediglich fad. Bei späteren Gelegenheiten schickte er sie allein ins Theater und bat sie, ihm zu berichten, ob ein Luster heruntergefallen sei. So viel zur Objektivität der Kunstkritik. Heute ist dies wahrscheinlich ganz anders.

Allerdings hatte ich einmal ein Erlebnis, das auch bei mir Zweifel an der Seriosität von Kulturkritik in der Gegenwart aufkommen ließ. Man gestatte mir, es an dieser Stelle einzufügen. Ich besuchte im Rahmen der Salzburger Festspiele einen Soloabend des von mir sehr bewunderten Pianisten Rudolf Buchbinder, der im Goldenen Saal des Mozarteums alle Beethovensonaten in Serie spielte. Großartig! Ich ziehe in Salzburg mittlerweile Konzerte den Theateraufführungen, egal ob Oper oder Schauspiel, vor. Allerdings: In der neuen Zeitrechnung „vor und nach Corona“ hoffe ich inständig, dass die Salzburger Festspiele wieder stattfinden mögen und noch weitere 100 Jahre lang bestehen. An besagtem Konzertabend war ich zu früh dran und setzte mich, um die Zeit zu überbrücken, ins wie immer überfüllte „Café Bazar“ am Salzachkai. Ein älterer Herr fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Es war sonst weit und breit kein Sessel frei. Wir kamen ins Gespräch, und er war, wie sich herausstellte, einer der renommiertesten Kenner der Salzburger Festspiele, vor allem der Musikproduktionen, und langjähriger Musikkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Wir hatten das gleiche Programm vor, nämlich Beethoven mit Buchbinder, den er, wie er mit Nachdruck betonte, nicht sonderlich schätzte, worauf ich aus vollster Überzeugung entgegnete, ich hielte Buchbinder für einen der größten Interpreten der Gegenwart, außerdem hätte ich seine Biografie gelesen – wie er, aus bescheidenen Verhältnissen kommend, schon als Kind aufgefallen war und ihm Bundeskanzler Julius Raab damals zu einem großzügigen Stipendium verholfen hatte. Und ich fügte noch hinzu, dass ich mich geärgert hätte, weil Buchbinder einige Jahre lang nicht zu den Salzburger Festspielen eingeladen worden und daraufhin künstlerischer Leiter des inzwischen sehr renommierten Musikfestes auf Schloss Grafenegg geworden war. Plötzlich unterbrach mich mein Gegenüber und bat mich, lauter zu sprechen, er höre nämlich schlecht. Ein schwerhöriger Musikkritiker bei den Salzburger Festspielen – das erlebt man auch nicht alle Tage.

Doch zurück zu Julius Stern und meiner Mutter, die von ihm nicht unbedingt seelisch aufgemuntert wurde. Als sie die erste Studienvorstellung im Akademietheater hatte, „Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare, machte er sich noch lustig und sagte, alle stünden schon an der Kasse Schlange, weil sie unbedingt Liesl Jurberger sehen wollten. Nicht gerade förderlich für das ohnehin schwache Selbstbewusstsein meiner Mutter. Die Selbstzweifel waren – das kann ich im Nachhinein sagen – nicht angebracht. Sie hatte vor ihrer Aufnahme an der Schauspielakademie beim damaligen Direktor des Volkstheaters Rudolf Beer vorgesprochen. Danach wandte er sich an sie: „Ich rate jedem ab, zur Bühne zu gehen, aber Sie, Sie müssen zum Theater!“

Während ihrer Ausbildung studierte sie alle klassischen Rollen. Natürlich wollte sie auch Maria Stuart erarbeiten, aber ihr Lehrer riet ihr zur Elisabeth: „Sie wissen ja gar nicht, was in Ihnen steckt!“ Ein Jahr nach Abschluss ihrer Ausbildung wurde sie angerufen, ob sie bei den Salzburger Festspielen die Rolle der Hermia im „Sommernachtstraum“ übernehmen könne. Sie hatte diese Rolle schon während besagter Studentenaufführung im Akademietheater gegeben und war damals positiv aufgefallen. Als sie gefragt wurde, ob sie die Reinhardt-Inszenierung kenne, sagte sie wahrheitsgemäß Nein, woraufhin eine andere Schauspielerin diese Rolle erhielt, und schrieb darauf meinem Vater einen Brief: „Ich werde wohl immer die bürgerliche Liesl Jurberger bleiben.“