Wie im Flug

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5.Bitteres Erwachen aus dem amerikanischen Traum





Abgesehen von meinen journalistischen Reisen in die USA sind es meine Verwandten in Amerika, denen ich ein sehr authentisches Bild von den Vereinigten Staaten verdanke. Mein Cousin Henry Deutsch – äußerst naturverbunden, umweltbewusst und sportlich – war Forstingenieur, im Dienste der amerikanischen Bundesforste u. a. in der Öffentlichkeitsarbeit tätig und ist mittlerweile ein rüstiger Achtziger, für mich fast wie ein älterer Bruder – seine Frau Judy, ausgebildet in frühkindlicher Pädagogik, deren Vorfahren aus Südfrankreich eingewandert waren und es in den USA mit einer Fabrik für Fensterrahmen zu erheblichem Wohlstand gebracht hatten, war eine College-Liebe. Die Fabrik gibt es nicht mehr. Gemeinsam haben sie vier Söhne, die in den USA verstreut leben, von Viroqua bis Sacramento und Los Angeles, und nach wie vor in Memphis.








© Privatarchiv





Cousin Henry Deutsch

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Der älteste der Söhne, in Kalifornien beheimatet, Architekt und Raumplaner, hat im Zuge der Reform des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes

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 per Anzeige um die österreichische Staatsbürgerschaft angesucht und diese auch erhalten, ohne deshalb seine amerikanische zu verlieren. Er hat mir dies freudig mitgeteilt, und ich habe ihm ebenso freudig gratuliert. So schließt sich der Kreis. Bei mehreren Besuchen hatte er die Heimat seiner vor den Nationalsozialisten geflohenen Großeltern kennen- und lieben gelernt. Die Vorstellung, dass er mit der Staatsbürgerschaft nun auch das Wahlrecht erworben hat, sehe ich – man möge mir verzeihen – mit gemischten Gefühlen. Ich will nicht pars pro toto sprechen, aber selbst wenn die Verbundenheit meiner amerikanischen Familie mit der ursprünglichen Heimat der Großeltern eine ausgeprägte ist, erscheint mir die Vorstellung, dass mein Neffe nun in Österreich wählen darf, nicht unproblematisch. Seine Kenntnis der österreichischen Situation ist naturgemäß rudimentär. Stimmen wie seine und die der Nachfahren der österreichischen Emigranten fallen allerdings kaum ins Gewicht, im Gegensatz zu den Hunderttausenden Zuwanderern aus vorwiegend islamischen Ländern, denen, wenn es nach dem Willen von Sozialdemokraten und Grünen in Österreich ginge, schon nach sechs Jahren die Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht angeboten würde. Die Aussicht auf deutlich verkürzte Einbürgerungsfristen hat selbstverständlich einen „Pull“-Effekt, ist ein Anziehungsfaktor und dazu angetan, Österreich als Zielland der Migration noch attraktiver zu machen, abgesehen davon, dass eine solche Neuerung selbstverständlich Auswirkungen auf das Wahlresultat hätte. Und zwar nicht zugunsten rechtskonservativer Parteien. Um dies zu erkennen, bedarf es keiner prophetischen Gabe. Doch zurück zu meinen sehr persönlichen amerikanischen Erfahrungen.








© Privatarchiv





Zu Gast (3. v. re.) bei Familie Deutsch in den Vereinigten Staaten

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Die „Deutsches“, wie ich meine in den USA lebenden nächsten Verwandten der Einfachheit halber nenne, sind Demokraten – nicht immer aus Überzeugung, wie mir mein Cousin Henry einmal gestand, sondern aus Mangel an Alternativen. Sicherlich aber ist ihre politische Orientierung ein von den Eltern übernommenes europäisches Erbe. Einer von ihnen, der mittlere Sohn Michael, scheint ein konservativer „Ausreißer“ zu sein. Finanzberater von Beruf, blieb er der Heimatstadt seiner Großeltern und Eltern treu, Memphis im Bundesstaat Tennessee. Er ist mit einer entzückenden Frau verheiratet, Alia, einer echten „Memphian“, wie sie sich bezeichnet. Als ich vor wenigen Jahren einmal bei ihnen zu Gast war und immerhin fast zwei Wochen bei ihnen verbrachte, war ich auch bei der Familie Alias eingeladen. Sie wohnte in einem großen Haus, abgeschirmt in einem Areal, das von einem Schranken begrenzt war. Es gab eine großzügige Bewirtung. Ich zog mich mit einem älteren Herrn, einem Onkel der Frau meines Neffen Michael, in ein Eck zurück. Im Zuge des Gespräches ließ ich durchblicken, dass die USA für mich noch immer die führende Großmacht des Westens seien. Er war zu Tränen gerührt. Was mir auffiel, war, dass ich während meines gesamten Aufenthaltes in Memphis und danach in Arizona, wo mein Cousin die Wintermonate verbrachte und jetzt mit seiner Frau in einer Altersresidenz lebt, nicht einen einzigen Afroamerikaner und auch keinen Latino zu Gesicht bekam, außer am Flughafen, in Einkaufszentren und Fast-Food-Ketten. Meine Verwandten sind nicht reich, aber Mittelstand, bestrebt, in einer „guten Nachbarschaft“ zu leben. Ihre Kinder besuchen Privatschulen; besonders mein in Memphis lebender Neffe ist bestrebt, Einrichtungen zu unterstützen, die die Integration und Weiterbildung von Kindern unterschiedlichster sozialer Herkunft fördern. Er besitzt übrigens eine Waffe, und dies nicht, weil er der mächtigen Waffenlobby angehört und irgendwelche romantisierten Freiheitsrechte aus dem Wilden Westen verteidigen will, sondern schlicht und einfach aus Angst vor Überfällen. Falls die Polizei zu lange braucht, um vor Ort einzutreffen, will er die Möglichkeit haben, sich und seine Familie zu schützen. Trotz gewaltiger Kraftanstrengungen auch vieler privater Initiativen, die Segregation zu beenden, angefangen bei der Ära Kennedy über Martin Luther King jr., dessen Gedenkstätte in Memphis ich besucht habe, bis hin zu Expräsident Barack Obama, an den der heutige demokratische Präsident Joe Biden anknüpft: Die wenigsten Afroamerikaner sind im Mittelstand angekommen, zumindest in den südlichen Bundesstaaten der USA. Es kommt zu keiner wirklichen Vermischung der unterschiedlichen sozialen Schichten. Und die gesellschaftlichen Spannungen werden verschärft durch die Zuwanderung aus Mittelamerika, besonders kritisch durch den Zustrom über das nördliche Dreieck aus Guatemala, Honduras und El Salvador. In Arizona hat man es nicht weit zur mexikanischen Grenze. Ich habe den noch vor Trump errichteten Grenzzaun gesehen, der die Grenzstadt Nogales durchschneidet. Trump hat diesen Grenzzaun mit NATO-Draht bestückt, der mit messerscharfen Klingen versehen ist, was der Bürgermeister von Nogales als Überreaktion bezeichnet hat. Auf den Autobahnen musste man immer damit rechnen, von einer Polizeistreife auf der Suche nach illegalen Einwanderern, die über die nahe mexikanische Grenze kamen, angehalten zu werden. Auch das Überschwappen von Bandenkriegen auf amerikanisches Territorium war gefürchtet. In den Kirchen wurde für die Flüchtlinge aus Mittelamerika gebetet und gesammelt; private karitative Organisationen heuerten Hubschrauber an, aus denen sie Mineralwasserflaschen über der Sonora-Wüste abwarfen, um die zumeist vor Armut und sozialer Not Flüchtenden vor dem Verdursten zu bewahren, während Polizeistreifen den Wüstensand nach Fußabdrücken Illegaler absuchten. Die Migration spaltet die Gesellschaft auch in den USA, wo sie die vorhandenen sozialen Gegensätze, zugespitzt durch die Corona-Epidemie, noch verschärft. Biden war ausdrücklich angetreten, um die Politik seines schrillen Amtsvorgängers Donald Trump zu revidieren. Das hat die Erwartungshaltung potenzieller Migranten erhöht und die Flüchtlings- und Migrationswellen an der Südgrenze zu Mexiko anschwellen lassen. Darunter befinden sich auch Tausende von unbegleiteten Minderjährigen. Wenn Biden seine ehrgeizigen Sozial- und Beschäftigungsprogramme sowie seine Infrastrukturprojekte, sein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturprogramm nicht gefährden will, kann er sich eine deutlich erhöhte Zulassung von Migranten nicht leisten. Seine Anhänger warten daher vergeblich darauf, dass er die Einwanderungsobergrenze im Vergleich zu seinem Vorgänger deutlich anhebt. Im Moment sei die Zeit nicht reif dafür, heißt es aus dem Weißen Haus. Unterdessen aber staut es sich an der mexikanischen Grenze. Und während Biden auf seiner ersten großen Auslandstour den NATO-Verbündeten und den wichtigsten Industriestaaten der Welt, den G7, sowie Russlands Präsidenten Putin signalisiert hat, dass sich die USA auf die Weltbühne zurückmeldeten, so als ob sie sie unter Trump je verlassen hätten, überlässt er es seiner Vizepräsidentin Kamala Harris, in Mexiko und Guatemala vorstellig zu werden und den potenziellen Auswanderern, die der Armut in ihren Heimatländern entkommen wollen, auszurichten: „Don’t come“, kommt nicht! Er baut zwar keine Mauer, wie Trump es beabsichtigte, der noch dazu Mexiko dafür zahlen lassen wollte, aber Bidens Signale während des Wahlkampfes wurden gleichsam als Einladung zur Migration verstanden. Es war die undankbarste Aufgabe, die er der ersten farbigen Frau im Vizepräsidentenamt antun konnte, die unangenehme Botschaft zu überbringen und gleichsam ein Halteschild für Migration anzubringen. Besonders verübelt wurde Harris, dass sie es nicht der Mühe wert fand, der Südgrenze zu Mexiko einen Besuch abzustatten und selbst mit den Betroffenen zu sprechen. Die Schuld nur bei der Vorgängeradministration zu suchen, die das Grenzsystem in einem angeblich desolaten Zustand hinterlassen habe, ist zu wenig. Die Ernüchterung bei den Wählern Bidens, die nun deutlich die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und Realpolitik wahrnehmen, wird groß sein.








6.Der Garten meiner Kindheit





Meine Eltern nahmen sich nach Kriegsende eines wunderschönen alten Obstgartens an, der sich von der Sieveringer Straße auf der Höhe der ehemaligen Sascha-Filmindustrie AG bis zur Windhabergasse erstreckte, eher lang als breit war und vor dem Krieg und der Arisierung im Besitz der Schwester meiner Mutter und ihres Mannes Willi Brandt, eines Bankdirektors und Kaufmannes, war. Er war nicht irgendein Bankier, sondern zu seinem Unglück Direktor-Stellvertreter der Allgemeinen Depositenbank, jener Bank also, deren Präsident Camillo Castiglioni war, eine schillernde Persönlichkeit, Technikfreak, Kunstmäzen, Finanzier des Theaters in der Josefstadt, Unterstützer Max Reinhardts, Spekulant und Kriegsgewinnler, der die Depositenbank im Jahr 1925 durch gewagte Termingeschäfte in den Konkurs getrieben hatte, worauf 40.000 Sparer ihre Einlagen verloren. Willi Brandt oblag es, diese Bank – wie man heute sagen würde – abzuwickeln. Er war selbst Leidtragender dieses Fiaskos. Es liegt wohl auf der Hand, dass er und seine Frau Stella, die Schwester meiner Mutter, nach dem Anschluss sofort im Visier der Gestapo waren. Sie verloren alles. Der Garten in Sievering wurde arisiert. Als letzte Adresse gibt es nur mehr einen Eintrag aus dem Jahr 1939 auf den Namen „Brandt, Wilhelm“ an der Adresse „Wien 17, Neuwaldeggerstr. 46“, danach keinen Eintrag mehr unter diesem Namen. Meine Mutter erzählte mir, dass sich Stella bei ihrer Abfahrt so weit aus dem Fenster des Zugabteils gebeugt habe, als ob sie sich herausstürzen wollte. Ihr Mann starb während eines Abendessens in seinem kleinen Londoner Domizil im Stadtteil Richmond unerwartet an einem Herzinfarkt, mitten im Lachen über einen Witz, den er gerade zum Besten gegeben hatte. Stella hat ihre durch die Emigration erzwungene Entwurzelung nie verwunden. Sie starb verarmt, vereinsamt und in geistiger Umnachtung im Londoner Exil.

 



Meine Eltern bemühten sich nach Kriegsende, diesen Garten für die Schwester meiner Mutter zu sichern, falls sie zurückkehren sollte. Sie hat es leider nicht geschafft. Ich habe sie nicht mehr persönlich kennengelernt. In der Mitte des Gartens war ein kleines Salettl aus Holz mit einer weiß lackierten Veranda, von der der Lack abblätterte, und einem kleinen Anbau mit einem Schlafkabinett und, was wunderbar war, mit einem gekachelten Bad. Der Obstgarten lebt in meinem Gedächtnis, manchmal sogar in meinen Träumen, wieder auf. Es gab Bäume mit den unterschiedlichsten Apfelsorten, wie Zitronenäpfeln, Strudlern und Maschanzkern, einen Birnbaum mit Kaiserbirnen, Marillen- und Zwetschkenbäume und uralte Nussbäume. Heute werden die Samen dieser Sorten in besonderen Projekten wie dem Verein mit dem sinnigen Namen „Arche Noah“ gesammelt, um die Vielfalt der Arten zu erhalten. Entlang der Windhabergasse am oberen Ende des Gartens plätscherte der Erbsenbach. Eine verschwundene Welt, alles zugebaut, auch der Erbsenbach wurde einbetoniert und ist von der Bildfläche verschwunden. Jammerschade! Aber ich habe wohl eine idealisierte Erinnerung daran. Für mich bedeutete dieser Garten Freiraum zum Spielen und Träumen. Schon in den ersten Frühlingstagen zuckelten meine Mutter und ich mit dem 39er-Wagen hinaus bis zur Endstation, um dann einige Schritte zu dem Garten zu gehen und die blühenden Magnolien zu bewundern. Richtig übersiedelten wir erst später, zu Beginn des Sommers, wenn es wärmer wurde. Für mich war es jedes Mal eine Weltreise von der elterlichen Wohnung im 2. Bezirk, der Russenzone, in den Garten im 19. Bezirk, der amerikanischen Zone. Es waren zwei atmosphärisch unterschiedliche Welten, die ich schon als Kind wahrnahm. Für meine Eltern bedeutete dieser Garten in erster Linie Schwerarbeit und sehr beengte Wohnverhältnisse. Denn in dem Gartenhäuschen, das aus einem kleinen Wohnraum, der sich zur Veranda öffnete, dem Kabinett mit anschließendem Bad und einer schmalen Küchenzeile bestand, mussten sich drei Erwachsene – meine Eltern und meine Großmama, die Mutter meines Vaters – sowie meine Schwester und ich den Raum teilen. Aber der Garten bedeutete in den ersten Nachkriegsjahren auch Nahrung und Zusatzeinkommen. Denn das viele Obst verarbeiteten wir nicht nur zur Deckung des Eigenbedarfes, sondern verkauften es auch an die Greißlerei Popper an der Endstation der 39er-Straßenbahn. Davon allein hätten meine Eltern unser Leben allerdings nicht bestreiten können. Mein Vater trat am Tag meiner Geburt eine Stelle als Lehrer für technisches Zeichnen und Skizzieren am Technologischen Gewerbemuseum an, wo er bis zu seiner Pensionierung Generationen von Schülern und auch einigen wenigen Schülerinnen die Grundlagen der darstellenden Geometrie und des technischen Designs beibrachte.



In dieser Zeit meiner Kindheit war mein späterer Schwager Edgar Gehl bereits präsent. Er hatte meine Schwester anlässlich einer Blinddarmoperation im Spital der Barmherzigen Brüder kennengelernt, wo er als Gastarzt arbeitete und ihrer ansichtig wurde, als sie im zarten Alter von 17 Jahren in den Operationssaal geschoben wurde. Es muss ihn wie ein Blitz getroffen haben. Ich nahm ihn an wie einen älteren Bruder. Er war um zehn Jahre älter als meine Schwester und mit einem österreichischen Invalidentransport 1945 nach Wien gekommen, wo er als Arzt zuerst im Allgemeinen Krankenhaus und danach im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder arbeitete. Geboren am 11. Dezember 1922 in Kimpulung in der Bukowina, im heutigen Rumänien, stammte er väterlicherseits aus einer deutschen Großgrundbesitzerfamilie, über seine Mutter Adama, genannt Ada, eine geborene Biskupski, aus polnischem Landadel. Wie alle höheren Töchter ihrer Zeit konnte Ada Klavier spielen, was ihr in der nachmaligen DDR, wohin es sie durch die Kriegsereignisse verschlagen hatte, einen bescheidenen Lebensunterhalt sicherte. Sie gab Klavierstunden. Ich nehme an, dass es eine starke Mutterbindung war, die Edgar Gehl dazu veranlasste, in der damaligen deutschen Ostzone eine Stellung als Arzt anzunehmen, zunächst im Kreiskrankenhaus Pritzwalk, danach als Leiter des Landambulatoriums und Kreisarzt in der Kleinstadt Putlitz in Brandenburg, auch heute – mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – noch eine einsame, landwirtschaftlich geprägte Gegend am Rande der Mecklenburgischen Seenplatte.








© Privatarchiv





Marianne Stenzel mit Edgar Gehl

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Mein Schwager hatte eine ausgezeichnete Erziehung genossen, hatte das Aron-Pumnul-Gymnasium, eine Eliteschule in Czernowitz, besucht, sprach fließend Deutsch, Rumänisch und Französisch und lernte mit meiner Schwester für die Matura, vor allem Mathematik, was bei ihr zu einer großen Leistungssteigerung führte und meine Eltern selbstverständlich beeindruckte.



Er wurde auch der Direktorin der Ursulinen in der Johannesgasse vorgestellt, Mater Hofrat Vecerka, denn er holte meine Schwester von der Schule ab. Alles sollte seine Ordnung haben. Heute nicht mehr vorstellbar. Mater Hofrat, wie sie angesprochen wurde, war eine sehr beeindruckende Persönlichkeit. Und aus späteren Erzählungen meiner Schwester weiß ich von einer der ersten Begegnungen zwischen ihr und mir. In Gegenwart meiner Schwester, die mich einmal stolz in die Schule mitnahm, fragte mich Mater Hofrat mit ihrer tiefen, sonoren Stimme: „Ist deine Schwester auch brav?“ „Oh ja“, soll ich geantwortet haben, „nur im Moment ist sie schrecklich ‚valiebt‘ in den Edi.“ Meine Schwester versank im Erdboden. Das war noch bevor man mit 16 Jahren wahlberechtigt und Herr bzw. Frau seiner eigenen Entscheidungen war.



Drei Jahre nach der Matura heirateten meine Schwester und Edgar Gehl in unserer Pfarrkirche zum heiligen Nepomuk in der Praterstraße, in meinem Heimatbezirk, der Leopoldstadt. An die Trauung, die der mit uns sehr befreundete Pfarrer Arnold Dolezal vornahm, erinnere ich mich nur insofern, als wir nach der kirchlichen Zeremonie in unsere Wohnung zurückkamen und zu unserem Schrecken feststellen mussten, dass in unserer Abwesenheit eingebrochen worden war und die Socken meines Vaters fehlten – damals eine Kostbarkeit. Die Hochzeitsreise ging ins Südbahnhotel am Semmering, das damals noch als Grand Hotel fungierte, mit seiner ganzen verblichenen Jahrhundertwendepracht, dem Inbegriff von Kultur und Wohlstand einer versunkenen Epoche, die bis heute nicht wieder zum Leben erweckt wurden. Ich weiß nicht, wie lange sie auf Hochzeitsreise waren, drei Tage oder eine Woche, ich weiß nur, dass meine Schwester ab diesem Zeitpunkt einfach weg war und ich wochenlang jede Nacht weinte. Meine Schwester war wie eine zweite Mutter zu mir. Wie schmerzlich und traumatisch der Abschied für sie gewesen sein muss, konnte ich erst viel später ermessen, als ihre Ehe katastrophal zu Bruch gegangen war und am 18. August 1967 mit der Rückkehr meiner Schwester nach Wien endete. Sie hatte einen lebensbedrohlichen Kollaps erlitten und die Nahrungsaufnahme verweigert – sie war in eine Art Hungerstreik getreten –, sodass ihr Mann scheinbar keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihre Ausreise aus der DDR zu erwirken, unter dem Vorwand, dass sie zu 30 % erwerbsunfähig sei. Er durfte sie noch bis Prag begleiten. Dort übernahmen sie meine schwer geschockten Eltern im Zug. Vom Franz-Josefs-Bahnhof wurde meine schwer halluzinierende Schwester, die von einem Kind fantasierte, das sie nie hatte, aber sich so sehr wünschte, mit der Rettung direkt in die Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des AKH gebracht, in die damalige Klinik Hoff.



Acht Wochen später, meine Schwester war erst kurz zuvor aus der Klinik entlassen worden, erreichte uns die Todesnachricht meines Schwagers. Er hatte sie noch selbst telegrafisch aufgegeben – „Todesursache: Herzversagen“ –, vorsorglich nicht

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