Wie im Flug

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© Privatarchiv

Schauspielerin Gisela Jurberg, Cousine meiner Mutter (geb. 1875, vermutlich 1942 verst.).

Der Hang zum Theatralischen lag offenbar in der Familie. Eine entfernte Cousine meiner Mutter, Gisela Jurberg, war Schauspielerin. Eines ihrer Rollenfotos habe ich in einer alten Holzkassette aufgestöbert.

Ich bedauere sehr, dass meine Mutter diese ihre Berufung nicht ausleben konnte. Sie hat zu wenig an sich geglaubt. Einmal allerdings hat diese Begabung sie geschützt. Als sie in dem letzten Kriegsjahr in der Leergutsammelstelle der Stadt Wien auf dem Gelände in der Engerthstraße in der Nähe des Praters zu Zwangsarbeit verpflichtet war und sie im Winter um fünf Uhr früh einen Ofen einheizen musste, versuchte einer der Aufseher, ihr nahezutreten. Sie war mit ihm allein im Raum. Er kam keuchend auf sie zu: „Was denkst du jetzt?“, und meine Mutter antwortete ihm schockstarr: „Ich wünsche mir eine Tarnkappe.“ Sie muss eine derartige Würde ausgestrahlt haben, dass er von ihr abließ, bevor es zum Äußersten kam.

In dieser Leergutsammelstelle, heute würde sie als Mülltrennanlage bezeichnet werden, verrichteten viele Ehepartner aus sogenannten Mischehen Zwangsarbeit. Ohne Bombenschutz und der Willkür der Aufseher ausgeliefert. Einer von denen pflegte zu sagen: „Wann ich an von euch daschieß, gschiecht ma gor nichts, denn i hab an Kopfschuss und gelte als unzurechnungsfähig.“ Als ob es damals einer Unzurechnungsfähigkeit bedurft hätte, einen Juden ungestraft zu erschießen. Für meine Mutter hatte dieser Zwangsdienst aber auch – so schwer vorstellbar dies ist – etwas Positives, denn es wurden hier haltbare Lebensmittel für die Front gelagert. Übrigens gelangte das Wenigste dorthin. Die Aufseher stahlen laut Schilderung meiner Mutter wie die Raben, und so fasste auch sie Mut, ließ hin und wieder ein Stück Speck in einer ihrer Kleiderschichten verschwinden und brachte es nach Hause. In dieser Leergutsammelstelle herrschte ein gewisser Schlendrian, allerdings auch eine totale Unberechenbarkeit.

Eines Tages hatte sich der Ton allerdings merklich verschärft. Alle mussten zum Appell antreten. Niemand wusste, was vorgefallen war. Sie alle befiel die Angst, dass nun die Deportation unmittelbar bevorstünde. Erst am Abend, als meine Mutter erschöpft in unsere Wohnung zurückkehrte, wurde klar, welches dramatische Ereignis stattgefunden hatte: Es war der 20. Juli 1944, der Tag, an dem das Attentat Claus Schenk Graf von Stauffenbergs auf Hitler fehlgeschlagen war, mit all seinen fatalen Folgen, der Hinrichtung der Attentäter und der Verlängerung des Krieges um ein weiteres Jahr voller Angst vor Deportation und vor Bomben.

3.Die Überlebenshelfer

Immer wieder stellt sich mir die Frage, wie meine Eltern es geschafft haben, trotz allem – Verfolgung und Bombenkrieg – zu überleben. Und nicht nur zu überleben, sondern auch noch das Wunder zu vollbringen, so etwas wie familiäre Geborgenheit aufrechtzuerhalten, die sie vor dem psychischen Kollaps bewahrte.

Da war zunächst die österreichische Niederlassung der Firma Pintsch in Simmering, in der mein Vater als Maschinenbauingenieur mit dem Wohlwollen der Firmenleitung Unterschlupf fand und dort für die Lehrlingsausbildung zuständig war. Es war für mich sehr berührend, als ich im Hause meiner guten Freundin und Ex-ORF-Kollegin Dr. Liliane Roth-Rothenhorst die namhafte Klavierpädagogin Elisabeth Eschwé kennenlernte, eine außerordentliche Künstlerin, Pianistin und ausgebildete Schauspielerin – ganz abgesehen davon, dass sie auch ein Diplomdolmetschstudium absolvierte. Mit einem Wort, eine sehr beeindruckende Persönlichkeit, die es ebenso verdiente, im Rampenlicht zu stehen, wie ihr Bruder, der international geschätzte und auch bei uns besonders vom Volksopernpublikum verehrte Dirigent Alfred Eschwé. Ich erzähle diese Geschichte aber nicht deshalb, sondern weil mir Elisabeth Eschwé eröffnete, dass ihre Mutter meinen Vater gekannt und eine sehr lebendige Erinnerung an ihn habe, denn sie sei als junges Mädchen nach Absolvierung ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung in die Buchhaltung der Firma Pintsch dienstverpflichtet worden. Ich durfte die alte Dame vor ihrem Tod noch mehrere Male sprechen und erfuhr so von ihr vom Martyrium meines Vaters; wie er in der Firmenbuchhaltung in Tränen ausgebrochen war, weil meine Schwester nach Absolvierung der Volksschule nicht mehr in eine normale Schule gehen durfte, sondern in eine Schule für „geistig Minderbemittelte“ musste, wie es in dem vom Rassenwahn beherrschten NS-Jargon hieß.

Gertha Gloss, wie sie mit Mädchennamen hieß, war – obwohl damals sehr jung – nicht von dieser Ideologie infiziert. Sie bewunderte meinen Vater, auch wegen seiner zeichnerischen Begabung. Bei ihr musste er sich nicht verstellen, konnte über seine Ängste sprechen, ohne fürchten zu müssen, denunziert zu werden.

Von ihr erfuhr ich auch, dass vor allem der Bücherrevisor Carl von Peez dem Widerstand nahegestanden haben soll. Von ihr habe ich den genauen Namen dieses aus Preußen stammenden Adeligen erfahren, der diskret, aber effektiv eine Art Schutzschild über meinen Vater gehalten hat. Er spielte in den Erzählungen meines Vaters immer eine wichtige, sehr oft auch humorvolle Rolle und war mir daher vertraut, obwohl immer nur von „dem Peez“ die Rede war. Zu den Österreichern hatte er ein wohlwollend-distanziertes Verhältnis, das sich in einer seiner Redensarten, die mein Vater immer wieder gern zitierte, manifestierte: „Vorne hochprima ’nen Berg und hinten mit der Zahnradbahn hinauf …“ Diesen Ausspruch assoziiere ich mit Carl von Peez, dem, heute würde man sagen, Chefbuchhalter der Firma Pintsch in Simmering.


© Elisabeth Eschwé

Gertha Gloss-Eschwé.

Den Pintsch-Managern war natürlich die künstlerische und zeichnerische Begabung meines Vaters nicht entgangen, und so beauftragten sie ihn anlässlich eines Firmenbesuches von Gauleiter Josef Bürckel, ein Fresko einer Wien-Ansicht in der Werkshalle anzufertigen. Mein Vater wählte, und das berührt mich heute noch, den Blick vom Oberen Belvedere auf Wien – den berühmten Canaletto-Blick, also jene Ansicht vom Wienerwald bis zur Inneren Stadt, die Bernardo Bellotto, wie er eigentlich hieß, in seiner berühmten Vedute Mitte des 18. Jahrhunderts festgehalten hat. Das Gemälde ist heute im Kunsthistorischen Museum in Wien zu besichtigen, und dieser sein Blick auf Wiens Innere Stadt ist trotz einiger architektonischer Eingriffe noch immer erhalten. Weshalb mein Vater dieses Sujet wählte, kann ich nur erahnen, wahrscheinlich empfand er es als die Seele Wiens, die das NS-Regime und seinen Terror überleben sollte.

Für jeden anderen wäre so ein Auftrag ein Grund zur Freude gewesen – nicht so für meinen Vater. Für ihn und meine Mutter war er ein Albtraum. Nächtelang berieten meine Eltern, wie sich mein Vater verhalten sollte, falls Bürckel nach dem Schöpfer dieses Freskos fragen würde. Er fragte natürlich danach. Denn das Werk war aufsehenerregend. Von Peez stellte meinen Vater vor: als Leiter der Lehrlingsausbildung. Und mein Vater betete zu Gott, dass der Gauleiter und Reichsstatthalter Hitlers in Wien keine Nachforschungen über ihn anstellen und ihn auch niemand aus der Arbeiterschaft denunzieren möge. Der Firmenchefs konnte sich mein Vater sicher sein, aber ein Betriebsrat der Belegschaft meinte einmal, ihm einen guten Rat geben zu müssen: „Herr Stenzel, lossn’s eahna scheid’n.“ Mein Vater antwortete ihm: „Ein deutscher Mann bricht sein Wort nicht.“ Der Dialog war daraufhin beendet, aber die Angst vor Denunziation blieb bestehen.

Leider ist von den Skizzen, die mein Vater damals für das Fresko anfertigte, um sie in vergrößertem Maßstab an die Wand der Werkshalle zu übertragen, nichts erhalten geblieben. Auch das Fresko fiel dem Bombenangriff auf das Werksgelände zum Opfer.

Meine Politik als Stadträtin wurde durch dieses Werk und die leidvolle Erfahrung meines Vaters trotzdem beeinflusst: Ich fühle mich diesem historischen Blick auf Wien vom Oberen Belvedere aus besonders verpflichtet und werde in dem Kapitel „Von Brüssel nach Wien und weshalb ich zur FPÖ wechselte“ noch ausführlich darauf eingehen.

Die Bombardements auf Simmering und auch auf das Firmengelände von Pintsch hat mein Vater überlebt, weil ihn die französischen Zwangsarbeiter vor jedem Angriff gewarnt haben. Sie wussten offenbar durch das Abhören geheimer, streng verbotener Sender und über ihre Widerstandskanäle Bescheid und warnten meinen Vater: „Du morgen nicht kommen, morgen kommen die Bomb!“ Die Firma Pintsch war ein bevorzugtes Zielgebiet, weil sie Bestandteile für die Rüstungsindustrie herstellte. Der Chefbuchhalter Carl von Peez, seine junge dienstverpflichtete Sekretärin Gertha Gloss, die Mutter Alfred Eschwés und seiner Schwester Elisabeth, sowie die französischen Zwangsarbeiter waren die Überlebenshelfer meiner Familie.

Aber es gab noch andere. Eine der wichtigsten war die Jugendfreundin meines Vaters und beste Freundin meiner Mutter, ihre und meine Taufpatin, die Schriftstellerin Gertrud Steinitz-Metzler.

Gertrud Steinitz-Metzler und „inser Unnützer“

Gertrud Steinitz-Metzler war überzeugte Katholikin. Von 1935 bis 1938 war sie Schriftleiterin bei der Wiener Ausgabe der Zeitschrift „Blatt der Hausfrau“, des vor der Arisierung im Ullstein-Verlag erschienenen Vorläuferorgans der späteren Zeitschrift „Brigitte“ und nach 1945 wieder Redakteurin, bis sie ausschließlich als freie Schriftstellerin tätig war.

 

Sie ist – meiner Meinung nach zu Unrecht – den meisten nur als Kinderbuchautorin bekannt: „Die Regenbogenbrücke“ und „Das verlorene Wort. Märchen für große und kleine Kinder“ haben meine Kindheit begleitet, obwohl sie mit ihren Analogien und Gleichnissen auch Erwachsenen viel geben können. Ich habe sie als eine sehr kluge, uneitle, reelle Frau in Erinnerung, die mich immer wieder mit Kinder- und Jugendbüchern versorgt hat. Zunächst mit dem isländischen Sagenbuch „Noni und Nani“, später mit der Serie „Gulla“ – damals sehr beliebt, sehr spannend geschrieben, aber aus heutiger Sicht ein völlig veraltetes Mädchenbild verkörpernd, das mich allerdings nicht nachhaltig beeinflusst hat. Einmal habe ich sie in ihrer Wohnung in der Böcklinstraße besucht. Es war um die Weihnachtszeit, und mich beeindruckte die Schlichtheit, mit der sie Weihnachten beging: ohne Krippenromantik, ein kleines Bäumchen mit ein paar Silberfäden genügte ihr. Sie hatte einen intellektuellen Zugang zu ihrem Glauben. Und sie war unbequem und mutig. Die Stelle als Schriftleiterin hatte sie nach dem Anschluss schlagartig zurückgelegt. Unmittelbar danach suchte sie meine Eltern auf. Meine Großmama mütterlicherseits, Klara Jurberger, war damals bereits von ihrer tödlichen Krebserkrankung gezeichnet – sie starb knapp nach dem Novemberpogrom, hatte noch die „Juda-verrecke“-Rufe in der Czerningasse gehört und die Rauchschwaden des brennenden Tempels in der Ferdinandstraße gesehen, die bis zu unseren Fenstern zogen – und sagte zu ihr: „Truderl, wissen Sie, was Sie da tun?“, und Trude, völlig klar: „Ja, ich weiß, was ich tue.“


© Privatarchiv

Gertrud Steinitz-Metzler mit meiner Mutter.


© Privatarchiv

Steinitz-Metzler war eine prägende Persönlichkeit für mich.

Sie hatte ihre Schriftleiterposition, wie Redakteure nach der Gleichschaltung durch das NSDAP-Gesetz hießen, mit den Worten zurückgelegt, sie sei in dieser Zeit nicht die richtige Frau am richtigen Ort, und widmete sich von dem Moment an gemeinsam mit ihrer Freundin Luise Ungar zunächst der Vorläuferorganisation und ab 1940 der eigentlichen von dem Jesuitenpater Ludger Born geleiteten „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ im dritten Hof des erzbischöflichen Palais. Die bescheidene Unterkunft, in der sie verfolgten konvertierten Juden Hilfe gewährten, nannten sie in Analogie zum Stall von Bethlehem den „Stall“. Dort versuchten sie, den verfolgten Juden zu helfen, ihnen Visa und – wenn möglich – Affidavits, also Bürgschaften für die Aufnahme in einem Gastland zu verschaffen, für die noch bis 1941 mögliche Emigration rechtliche Auskünfte zu geben, den durch Arisierung obdachlos Gewordenen Wohnungen zu besorgen, Medikamente und ärztliche Hilfe zu organisieren … Vor allem aber war der „Stall“ eine Anlaufstelle für Gespräche und Trost in dieser Zeit großer Bedrängnis. Mit Rat und Tat zu helfen, so gut es eben ging, war die Mission dieser Hilfsstelle der katholischen Kirche. Die Diskriminierten und Verfolgten sollten vor Deportation und Gaskammern bewahrt werden. Zwar galt Theresienstadt nicht als Vernichtungslager, viele Juden wurden aber von dort in solche weiter transportiert. Selbst dann versuchte das Team um Pater Born, ihre Spuren zu verfolgen. Tante Trude, wie ich sie nannte, hielt diese ihre Erlebnisse in einem dokumentarischen Roman mit dem Titel „Heimführen werd ich euch von überall her“ fest. Eine Szene aus dieser Dokumentation hat mich besonders berührt.

Sie schildert die Situation, wie eine Schwester, die in der erzbischöflichen Hilfsstelle arbeitete und noch in letzter Minute vor der Deportation nach den ihr Anvertrauten sehen wollte, von Pater Born eine silberne Puderdose überreicht bekam und diese in der Sammelstelle, wohin man die Juden knapp vor ihrem Abtransport kommandiert hatte, einem jungen Burschen – er war 17 Jahre alt – klammheimlich zusteckte. Der Bursch übernahm sie in dem Chaos und Getümmel vor dem Abtransport, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass ihn keine der Gestapo-Wachen beobachtet hatte. Er behandelte sie mit der Haltung größter Ehrfurcht. In der Puderdose befanden sich konsekrierte, also liturgisch geweihte, Hostien für die versprengte katholische Gemeinde konvertierter Juden in Theresienstadt. Der Junge zählte in den Augen Pater Borns und seines Teams zu den „Verlässlichen“, also jenen Menschen, bei denen man davon überzeugt war, dass sie alles tun würden, um das Sakrament sicher an das Ziel zu bringen.

Als ich als Erwachsene mit meiner beruflichen und politischen Erfahrung und meinem historischen Wissen das Buch meiner Taufpatin las, war ich entsetzt. Hatten Pater Born und seine Helfer, darunter Nonnen und Laien wie Gertrud Steinitz-Metzler, keine anderen Sorgen, als Hostien nach Theresienstadt zu schmuggeln, von wo viele Juden in die Todeslager deportiert wurden und nicht lebend zurückkamen? Übrigens ein Schicksal, dem auch der junge Überbringer der Hostien nicht entkam. Meine Taufpatin sah dies zweifellos anders, und diese ihre Haltung ist zu respektieren.

Gertrud Steinitz-Metzler war Augenzeugin dieser Sakramentenübergabe an Georg Pohl – so nennt sie den jungen Mann, der im Bewusstsein einer besonderen Mission die in dem silbernen Döschen verborgenen Hostien übernahm. Sie hat bewusst Pseudonyme verwendet, aus Rücksichtnahme auf mögliche Überlebende. Im Gegensatz zu der heutigen Chatgesellschaft war sie bestrebt, den Schutz der Persönlichkeit zu wahren. Ich schreibe „Szene“, als ob es sich um ein Theaterstück gehandelt hätte; nein, es war kein nachgestelltes Drama, es war die Realität von 1940 bis 1945 in der Hilfsstelle der Erzdiözese Wien, die unter der Leitung Pater Ludger Borns stand, eines Jesuitenpaters, der sich ebenso wie meine Taufpatin in den Dienst der von christlich geprägter Ethik bestimmten Humanität gestellt hatte, leider in den meisten Fällen vergeblich. Born wurde übrigens in Israel mit dem Titel eines „Gerechten unter den Völkern“ geehrt, und Tante Trude stand bis zu ihrem viel zu frühen Ableben 1959 mit ihm in enger Verbindung. Ich habe noch ihre Worte im Ohr, wenn sie eine Einladung bei uns absagte: „Nein, da kann ich nicht, da habe ich Pater Born.“ Diese Termine waren ihr heilig. Gertrud Steinitz-Metzler und Arnold Dolezal, der Pfarrer von St. Nepomuk in der Leopoldstadt, waren die geistigen und psychischen Stützen meiner Eltern und auch meiner Schwester während der Zeit des Nationalsozialismus.

Ich greife diese Romandokumentation meiner Taufpatin hier auf, weil sie für mich die ganze Tragik der katholischen Kirche, des Wiener Erzbischofs Kardinal Innitzer und der konvertierten Juden zum Ausdruck bringt. Der Übertritt zum Katholizismus hat sie nicht vor der Verfolgung bewahrt. Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, dass meine Schwester Marianne erst am 19. April 1937 getauft wurde, also mit fünf Jahren, und sich meine Mutter erst am 2. April 1938 taufen ließ. Es erscheint mir aus heutiger Sicht bemerkenswert, dass in meinem Elternhaus über die Beweggründe meiner Mutter, zum katholischen Glauben überzutreten, kaum gesprochen worden ist, außer dass sie dies aus Liebe zu meinem zugegebenermaßen sehr gläubigen Vater getan hat. Zur Zeit ihrer Eheschließung 1931 waren beide noch konfessionslos, wohl aus Rücksichtnahme auf die Familie meiner Mutter. Zweifellos und auch aus der Erkenntnis erst jüngst veröffentlichter historischer Arbeiten1 über das Schicksal der Mischlinge und Mischehen2 im Dritten Reich hat die Erwartung, durch den Übertritt zur katholischen Kirche geschützt zu sein, eine Rolle gespielt. Der Schutz war allerdings ein relativer. Auch gegeben durch das heldenhafte Verhalten meines Vaters, der zu seiner Frau und seiner Tochter ohne Wenn und Aber stand. Dass mein Vater bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht einrücken musste, war ein Glücksfall und seinem Geburtsjahrgang 1901 geschuldet. Er war also bei Kriegsausbruch zu alt. Allerdings musste er einer Arbeit nachgehen, schon allein, um seine Familie zu erhalten. So kam er zur Firma Pintsch in Simmering, ein Glücksfall, denn infolge der dortigen Rüstungsproduktion wurde mein Vater UK gestellt, galt also als unabkömmlich und wurde auch weiterhin nicht zur Wehrmacht eingezogen. Was meiner Mutter trotz ihrer Konversion und der Ehe mit meinem Vater nicht erspart blieb, waren Diskriminierungen im Alltag, das Gebrandmarktsein durch das verpflichtende Tragen des Judensterns, die ständige Angst, das Gefühl, vogelfrei zu sein. In den letzten Kriegsjahren wurde sie zur besagten Zwangsarbeit in der Leergutsammelstelle verpflichtet. Meine Schwester galt als „Mischling ersten Grades“ und war daher nicht würdig, nach der Volksschule eine normale weiterführende Schule zu besuchen. Sie musste in eine Schule für „geistig Minderbemittelte“ gehen, obwohl sie die Aufnahmeprüfung bestanden hatte. Als meinen Eltern dies mitgeteilt wurde, waren beide selbstmordreif; mein Vater bekam einen solchen Schreikrampf, dass seine Stimme bis an sein Lebensende gebrochen war. Dass meine Mutter erst im April 1938 konvertierte, halte ich für besonders bemerkenswert, da ihre Mutter damals noch lebte und diesen Schritt offenbar goutierte, denn Klara Stern ist ihrer schweren Krankheit erst am 18. November 1938 erlegen. Sie hat den Übertritt ihrer Tochter zum Katholizismus also noch erlebt.


© Privatarchiv

Weihnachten in der Kriegszeit: Besuch von Pfarrer Dolezal.

Kardinal Innitzer ist trotz seines Engagements für die „nichtarischen Katholiken“ den Makel nicht losgeworden, dass er an der Spitze der österreichischen Bischofskonferenz die Katholiken dazu aufgerufen hatte, bei der Volksabstimmung am 10. April 1938 für den Anschluss zu stimmen, und diesen Aufruf in einem Begleitschreiben handschriftlich mit „Heil Hitler“ unterzeichnet hatte. Er war bestrebt, die Kirche vor Repressalien zu bewahren. Dies ist nicht gelungen, wie die heute noch sichtbaren Spuren des Sturmes auf das erzbischöfliche Palais durch die organisierte Hitlerjugend am 8. Oktober 1938 bezeugen.

Einzelne Priester haben sich von Anbeginn an der Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten widersetzt. Einer davon war Arnold Dolezal, der meinen Eltern und meiner Schwester beigestanden hat und viele Male bei uns zu Gast war. Ich habe ihn als hochkultivierten und Würde ausstrahlenden Priester in Erinnerung und weiß, wie viel Rückhalt er meinen Eltern und meiner Schwester während der Jahre des Nationalsozialismus gegeben hat.

Mein Vater zeigte seine Verbundenheit mit der katholischen Kirche in der NS-Zeit demonstrativ, mit Kirchenplakaten ebenso wie mit dem Besuch eines Seminars über das Alte Testament, das ein gewisser Franz König hielt, der spätere Kardinal und Erzbischof von Wien. Den Einsatz all dieser Menschen, ob es Carl von Peez, Gertha Gloss, Arnold Dolezal oder Gertrud Steinitz-Metzler waren, kann man nicht hoch genug einschätzen, und es ist mir ein Anliegen, sie in meinen Erinnerungen zu würdigen.

Unter den konvertierten Wiener Juden und auch in meinem Elternhaus war von Innitzer in einem Anflug von Ironie und Resignation als „inser Unnützer“ die Rede. Es war nicht despektierlich, nicht abwertend, sondern eher liebevoll gemeint. Ich erwähne das hier nur, weil ich der heutigen Generation der Enkel und Urenkel, der Besserwisser und Selbstgerechten etwas mehr historisches Verständnis und Nachsicht wünsche, auch und gerade gegenüber der katholischen Kirche und ihrer Rolle im Dritten Reich.