Read the book: «Der siebte Skarabäus»
Ursula Arn
Der siebte Skarabäus
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Über die Autorin
Über das Buch
Widmung
Prolog
Dubrovnik, 1. Oktober
Monique
Teil 1 der Heldenreise
Der Narr, Karte 0 der Heldenreise
Der Narr, Karte 0 der Heldenreise
Dubrovnik, 2. Oktober
Der Magier, Karte I der Heldenreise
Die Hohepriesterin, Karte II der Reise
Dubrovnik, 3. Oktober
Die Herrscherin, Karte III der Heldenreise
Dubrovnik, 4. Oktober
Der Herrscher, Karte IV der Heldenreise
Der Hierophant, Karte V der Heldenreise
Die Liebenden, Karte VI der Heldenreise
Dubrovnik, im Juni 1991
Der Wagen, Karte VII der Heldenreise
Gerechtigkeit, Karte VIII der Heldenreise
Der Eremit, Karte IX der Heldenreise
Rad des Schicksals, Karte X der Reise
Teil 2 der Heldenreise
Die Zweistelligen Karten der Heldenreise
Die Kraft, Karte XI der großen Arkana
Dubrovnik, 5. Oktober
Der Gehängte, Karte XII der Heldenreise
Der Tod, Karte XIII der Heldenreise
Dubrovnik, 6. Oktober
Dubrovnik, 7. Oktober
Die Mäßigkeit, Karte XIV der Heldenreise
Der Teufel, Karte XV der Heldenreise
Der Turm, Karte XVI der Heldenreise
Teil 3 der Heldenreise
Dubrovnik, 8. Oktober
Der Stern, Karte XVII der Heldenreise
Der Mond, Karte XVIII der Heldenreise
Dubrovnik, 9. Oktober
Die Sonne, Karte XIX der Heldenreise
Dubrovnik, 10. Oktober
Das Gericht, Karte XX der Heldenreise
Mostar, 11. Oktober
Dubrovnik, 12. Oktober
Die Welt, Karte XXI der Heldenreise
Dubrovnik, 13. Oktober
Karte O der Heldenreise
Epilog
Tarotkarten
Impressum neobooks
Über die Autorin
Ursula Arn wurde 1951 geboren. Nach ihrer Scheidung arbeitete sie bis zu ihrer Pensionierung als Buchhändlerin in Zürich.
Durch einen persönlichen Tiefpunkt begann sie zu schreiben.
www.ursula-arn.com
Über das Buch
Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, nur tiefe Zuneigung. Zumindest auf ihrer Seite.
Mara lebt ein braves Leben, formatiert durch ihren narzisstischen Ehemann. Hugo, ihr Mann mit den zwei Gesichtern, ist ein Blender und überzeugt das Umfeld, in ihm einen vorbildlichen Ehemann zu sehen. Immer öfter suchte er Gründe, um seine Launen an Mara auszulassen. Psychische Schläge hinterlassen keine sichtbaren Spuren. Um das Dasein mit Zuckerbrot und Peitsche zu ertragen, holt sich Mara die Fantasiegestalt ihrer Kindheit an ihre Seite. Als diese erträumte Figur dann in Fleisch und Blut in ihr Leben tritt, droht das eh schon instabile Fundament ihres Daseins endgültig zu zerbrechen – und sie gleich mit.
Mara muss sich entscheiden: Lässt sie sich von ihrem Ehemann weiter schikanieren oder von Aram, dem faszinierenden Albaner, verführen?
Mara findet einen Weg aus der Zwickmühle. Doch er ist so ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hat ...
In Dubrovnik erinnert sie sich: Alles begann mit einer Karte.
Einer Tarotkarte.
Widmung
Für Edith,
die an mich geglaubt hat.
Für Anja,
die die Dinge in die richtige Perspektive gebracht hat.
Prolog
Verlassen, aber einsam nicht.
Erschüttert, aber zerbrochen nicht.
Annette von Droste-Hülshoff:
Aus dem Gedicht: Lebt wohl
Verlassen, aber einsam nicht,
erschüttert, aber zerbrochen nicht sitz ich hier,
denn ich besitze Andenken an eine erfüllende Liebe, an Umarmungen, die Frieden brachten und mir offenbarten, dass es Leidenschaft ohne Leiden gibt.
So viele Gesten und Sätze haften in meinem Gedächtnis und wenn einmal meine Zeit gekommen ist, werde ich mit einem Lächeln und in der Gewissheit sterben, ihm erneut zu begegnen.
Denn so wird es immer und immer wieder sein.
Doch für dieses Leben ist unsere Frist verstrichen, das Rad des Schicksals hat sich gedreht und damit ich diese Liebe der Vergangenheit übergeben kann, schreibe ich darüber. Erst, wenn etwas erzählt wurde, wird es zur Geschichte. Erst, wenn man ihren Namen kennt, versteht man sie.
Nur, wie beginnt man eine Erzählung, in der so viel Schmerz und noch mehr Freude vorhanden sind? Eine Geschichte über das Unvermögen zu verzeihen, und das Erstaunen über die Schönheit einer Liebe, von der mir prophezeit wurde, sie sei chancenlos, bis ich aufhörte, darüber zu sprechen.
Heute ist die Zeit gekommen, mit Schreiben anzufangen, und mit Nachdenken aufzuhören. Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären, und vielleicht auch mir, weshalb sich unsere Wege kreuzen mussten.
Meine Geschichte beginne ich mit den Worten, mit denen Aram seine Parabeln eröffnete, und deren Unterhaltungswert unermesslich war: „Hör zu! Du musst wissen, es ist mir zu Ohren gekommen und nur Gott alleine kennt die wahre Geschichte …“
Dubrovnik, 1. Oktober
Dubrovnik, die Perle an der Adria. Ein Weltkulturerbe von einzigartiger Schönheit. Eine Stadt, die bis ins 3. Jahrhundert vor Christi zurückführt und deren mittelalterliche Bauten einen unvergessenen Charme ausüben. Sie vermitteln das Gefühl, in einem Märchen zu verweilen. Das Besondere ihrer Atmosphäre lässt sich nicht in Worte fassen. Man muss Dubrovnik besuchen, um es zu begreifen.
***
Die Maschine der Croatia Airlines landet pünktlich um 17 Uhr. Na also, denke ich. Es gibt sie doch, die pünktlichen Kroaten. Meine Erfahrung lehrte mich etwas anderes. Die Landung ist abrupt, die Pneus spucken Feuer. Zum Glück erinnere ich mich erst nach der Vollbremsung, dass der Pilot dazu gezwungen wird, denn außerhalb der Piste folgt nur noch das Meer.
In der Halle wälze ich mich mit heiteren Touristen zum Ausgang. Seit andere Destinationen von selbstermächtigten Irren in die Luft gesprengt werden, hat sich die Anzahl der Gäste in Kroatien vervierfacht. Doch ich bin nicht hier, um Ferien zu genießen. Ich suche Aram.
„Möge Gott dich beschützen, Mara“, waren seine letzten Worte, bevor er in einer dunklen Wolke verschwand und mich erstarrt auf dem Sofa zurückließ.
Ein Jahr ist seither vergangen. Ein Jahr ohne ein Zeichen von ihm. Beim Abschied versicherte er mir: „Meine Mail-Adresse bleibt dieselbe. Ich melde mich nicht, aber ich sehe jeden Tag nach, wann du kommst. Du kannst bleiben, solange du willst. Einen Tag, einen Monat, ein Jahr.“
Nur, die Nachricht über meine Ankunft wurde nie beantwortet. Seine kroatische Handynummer ist mir unbekannt. Scheint, als hätten wir keine Zukunft. Nur eine Vergangenheit.
Auch am Flughafen wartet kein lachender Aram auf mich. Die Halle noch länger abzusuchen hat wenig Sinn, denn er hätte mich in der Menschenmenge erspäht. Er sieht, hört und findet mich überall.
Unsicher trete ich mit der ferienfreudigen Masse in die glühende Sonne Kroatiens. Zum ersten Mal hoffe ich auf seine Unpünktlichkeit. Er wird jede Minute im gemächlichen Tempo vorfahren, mich anlächeln und mit seinen Armen erdrücken, rede ich mir ein und wedle die Taxis genervt weg. Eine Stunde später nehme ich die rosarote Brille ab und öffne kleinlaut eine dieser Taxitüren.
„Kommt er nicht?“, fragt ein deutschsprechender Fahrer. Natürlich spricht er Deutsch. Alle beherrschen Fremdsprachen, nur ich nicht. Ein Fehlschlag, und schon schleppe ich wieder ein Bündel Unsicherheit mit mir herum.
„Sieht so aus.“
„Trottel“, antwortet er überzeugt.
Niemand, der in Dubrovnik eintrifft, kann sich diesem Anblick entziehen. Mein Aufenthalt wird sich vielleicht nicht wie geplant entwickeln, aber wenigstens vor der Kulisse einzigartiger Schönheit.
Nur einen Katzensprung vom Flughafen entfernt hält das Taxi vor einem Gebäude, das genauso trostlos wirkt, wie ich mich fühle. Anscheinend habe ich mir für meinen Urlaub den letzten Zeugen einer sozialistischen Ära ausgesucht. Alle anderen wurden dem Krieg geopfert.
„Bleiben Sie hier, bis sicher ist, dass ich ein Zimmer bekomme?“, frage ich den Fahrer. Es fällt mir schwer, den einzigen Verbündeten ziehen zu lassen.
Ein nüchtern eingerichteter Raum bietet mir Gastfreundschaft. Nicht gerade eine Wohlfühloase. Im Ambiente von grauen Betten, grauen Schränken, grauen Wänden richte ich mich ein. Aber der Ausblick ist wunderschön.
Das Hotel ist mir bereits bekannt und da ich keinen Plan B vorbereitet hatte, nannte ich dem Taxifahrer den einzigen Namen, den ich kannte. Die Anlage hat sich nicht verschönert, seit ich mit meinem Exmann und den Jungs eine Woche hier verharrte. Nur am Strand, denn Aktivitäten kosten, was ganz im Sinne der Jungs war. Oder kennen Sie Kinder, die Kirchen besichtigen, ohne dabei von unerträglichen Bauchschmerzen befallen zu werden?
Das Panorama über das Meer mit Blick auf die Altstadt entschädigt mich fürs Erste. Dieses Bühnenbild zieht mich magisch an, und unsicher gebe ich dem Sog nach. Ich habe durchaus Qualitäten, aber Orientierungssinn gehört definitiv nicht zu meinen Kernkompetenzen.
Noch nie stand ich mitten im Herzen einer solchen Kulisse. Dubrovnik ist entschieden die schönste Stadt, die ich je gesehen habe. Eine Weile wandere ich umher, ängstlich darauf bedacht, wo komm ich her, wo will ich hin.
Die gleiche Frage trieb mich auch zu Hause umher. Leider fand ich die Antwort nicht rechtzeitig, denn sonst würde ich nicht einsam auf dieser Bank ausruhen.
Ob er auch schon hier saß? Sicher.
Viel Zeit verbrachten wir zusammen. Zusammen sind wir älter geworden, vielleicht auch weiser. Meine Haare erscheinen heller, durchzogen mit grauen Strähnen, seine sind unverändert blauschwarz. Meine Kraft hat ihre Grenzen gefunden, seine Energie reicht immer noch aus, um eine Rakete zu starten.
Ein Jahr dauerte es, um unsere Geschichte niederzuschreiben. Zeit, die weder für mich noch für meine Umwelt leicht zu ertragen war. Aber man muss zuerst zurückschauen, um festzustellen, in welche Richtung man vorgehen will.
Am Ende stellte sich heraus, dass die Heldenreise des Tarots Karte für Karte ihre Weisheit in unserem Lebenslauf gefunden hat. Nur die letzte änderte ich, und dafür bezahle ich jetzt den Preis.
Alles ist so anders hier. Wunderschön und fremdartig. Die Geräusche der Nacht, wie die Luft riecht. Auch die Grillen sind verstummt, als ob sie lauschen würden.
Die Altstadt hat sich geleert, die Touristenherden sind von ihren Hirtenhunden auf die nächste Weide getrieben worden. Im Sommer hüten sie Touristen, im Winter Schafe vor nicht veganen Wölfen, die der Hunger aus höheren Regionen vertrieben hat. Die Kunst bleibt dieselbe: Den Überblick behalten und zählen.
Die Touristen, die nicht wissen, was sie in den alten Steinen sehen sollten, sind erleichtert abgezogen. Nur die wenigsten interessieren sich für die Erläuterungen der jungen Kroaten mit abgeschlossenem Hochschulstudium. Für sie endet die Vergangenheit gestern. Alles andere führt ihnen vor Augen, dass sie sterblich sind.
Es ist kalt geworden. Morgen werde ich das Hotel Palais suchen. Die einstige Villa aus der glanzvollen Zeit der österreichischen Monarchie dient heute als Herberge für Gutbetuchte.
Vor mehr als hundert Jahren legte die Familie meiner Großmutter auf ihrer Reise von Triest nach Montenegro hier Zwischenstation ein, um danach mit dem Kaiserhof in Sveti Stefan Urlaub zu verbringen. In halsbrecherischem Tempo von dreißig Stundenkilometern fuhren sie auf Straßen, die keine waren. Nur vor den bedrohlichen Pässen wurden Frau und Kinder in den Zug verfrachtet.
Diese einstige Villa beweist, sofern man den Besserwissern glauben darf, dass unsere Beziehung auf magerem Boden steht, denn sie bezeugt, dass Aram und ich nicht aus dem gleichen Stall stammen.
Auf meiner einsamen Bank am Hafen begebe ich mich in Gedanken auf zwei Heldenreisen, deren Bestimmung es war, eines Tages zu einer zu verschmelzen.
Davon möchte ich euch erzählen.
Es ist die Reise von Aram und von mir.
Monique
Nie werde ich vergessen, wie ich mich fühlte, als ich das erste Mal eine Kartenlegerin aufsuchte.
„Tja. Es wird eine Scheidung geben. Schon bald“, sinnierte meine neue Bekannte über ihre Karten gebeugt. Ich schaute sie skeptisch an und fragte mich, in was ich da schon wieder reingeschlittelt war.
„Wann?“, erkundigte ich mich hämisch. Ich glaubte ihr nicht.
Monique wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Im Herbst. Dann wirst du deinen Mann aus dem Haus stoßen.“
Das war nicht die Antwort, die ich trotz Vorbehalten erhofft hatte, nur durfte ich nicht mehr länger den Gedanken an eine mögliche Scheidung verdrängen.
Aber doch nie durch mich veranlasst! Er ist mein Mann. Zusammen blicken wir auf eine Vergangenheit. Ohne ihn war ich ein Niemand. Vor allem finanziell. Alle Zukunftspläne wären nur noch zu Makulatur mutiert.
„Eine andere Frau spielt mit, aber das endet böse. Die beiden zerfleischen sich“, hörte ich.
Plötzlich empfand ich sie doch als überaus kompetent.
Monique starrte auf die Karten. „Du hast zwei tolle Söhne. Sie versuchen, dir das Leben zu erleichtern. Sie respektieren ihren Vater, dulden aber nicht, dass du leidest.“
Jetzt durchströmte mich eine Wärme, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Eine alles versengende Hitze, ja, die kannte ich noch, denn im letzten Jahr wurde ich mehrfach barfuß durch die Hölle und zurückgejagt.
Diese Qualen hatten ihren Preis. In der Vergangenheit wurde ich im Schlaf durch Dämonen geplagt.
Nach einer solchen Nacht blieb mir nach dem Aufstehen nur noch die Zeit, mich wieder hinzulegen. Fassungslos über den Schmerz versuchte ich zu hecheln, wie ich es bei der Geburtsvorbereitung gelernt hatte, und dann doch nicht fähig war, diese Technik anzuwenden.
Außerstande, die Bettdecke hochzuziehen, fror ich erbärmlich und gleichzeitig rann mir der Schweiß über die Stirn. Neben mir wartete unerreichbar das Telefon, dessen Einbau ich genau für solche Notfälle durchgesetzt hatte.
„Was willst du? Einen zweiten Anschluss? Die Prinzessin wünscht einen zweiten Apparat, damit sie noch mehr schwatzen kann. Hast du eine Ahnung, wieviel der kostet?“, spuckte mein Mann Hugo verächtlich aus.
Wie stellte er sich vor, dass ich gleichzeitig mit zwei Apparaten auf zwei verschiedenen Stockwerken telefonierte?
Im Moment wähnte ich mich in einer Szene aus einem Hitchcock-Film, in dem die attraktive Blondine zehn Zentimeter vom Hörer entfernt elendiglich zu Grunde geht, und dabei bis zu ihrem Ende perfekt frisiert und makellos geschminkt bleibt. Um die Tragik der Situation zu betonen, liegt ein roter Absatzschuh neben ihrem linken Fuß. Wir alle verbringen doch unseren Feierabend in High Heels.
Eines stand fest, ich brauchte Hilfe. Millimeter für Millimeter dehnte ich meinen Arm näher zum Hörer, bis ich ihn packen konnte.
Endlich hörte ich im Untergeschoss das furchterregende Knurren eines sechs Kilo schweren Wachhundes, der über das Öffnen seiner Haustüre nicht erfreut war, und bald trat mein Arzt ein. Unerschrocken hatte er Attila in den Garten verbannt.
Gott segne meine Leichtsinnigkeit, die Haustüre nicht abzuschließen, denn wer sich einbunkert, erhält nur erschwert Hilfe.
„Ihr Körper signalisiert Ihnen: Bis hierher und keinen Schritt weiter. Unternehmen Sie etwas“, mahnte er mich.
Was redet der da! Mich hat bloß die Hexe getroffen. Doch tief im Innern fand ich seinen Gedanken nicht abwegig.
„Und was soll ich machen? Sobald ich weiß, wie sich mein Leben entwickelt, komme ich schon wieder ins Lot.“
„Ich bin für Ihre Schmerzen zuständig, nicht für Ihre Ehe. Wie die sich entwickelt, kann ich nicht prophezeien. Ich bin ja kein Hellseher.“
„Und wo find ich den?“, fragte ich mit dem Rest an Sarkasmus, den ich in meiner Lage noch aufbringen konnte.
„Weiß nicht. Aber manchmal inserieren sie in der Rubrik ‚Gemischtes‘ in der Zeitung“, antwortete er. Internett war noch kein Thema.
Und sowas nennt sich Arzt!
Nachmittags sorgte eine Nachbarin dafür, dass Atilla zu seinen Rechten kam. Kurz schaute sie bei mir vorbei und fand mich selig lächelnd im Bett. Wie wunderschön das Leben doch war! Die Atemluft war kühl und samtig, mein Körper schwebte leicht über der Matratze. Das herrliche Licht, das Schattenspiele an die Wand warf, die zwitschernden Vögel im Garten, mein eigenes Gekicher, alles entzückte mich.
Vielleicht lässt mich dieser seltsame Doktor noch mehr von dem Zeugs nehmen, das er mir gegeben hat, hoffte ich.
Zuerst kichernd, dann prustend, und zum Schluss lauthals grölend erzählte ich ihr vom Rezept meines Arztes, mir die Zukunft prophezeien zu lassen.
„Sag mal, was hat der dir denn gespritzt?“ Ebenfalls Ärztin war sie einem Berufsbild verpflichtet, dessen Vertreter davon überzeugt sind, jeder Kollege sei bloß ein Depp mit hohem IQ.
„Weiß nicht. Kann ja einen Hellseher fragen.“ Diesen Satz fand ich besonders gelungen und schaute sie lobheischend an.
Doch die Frau Doktor antwortete: „Schau mal, Mara. Nach dem Krieg kreuzte in meiner Heimat die australische Marine mit Hellsehern über das Meer, um Minen zu orten. Es gibt Dinge, die kann der gesunde Menschenverstand nicht nachvollziehen. Da ist noch mehr, als wir beschreiben können. Vielleicht ist es hilfreich, vielleicht auch nur amüsant. Geh einfach mal dahin.“
Mein gesunder Menschenverstand meldete mir: Heute bist du von akademischen Idioten umgeben.
Allerdings sagte mir derselbe Verstand auch, dass die Welt eine Scheibe sein muss, da ich sonst in Südafrika mit den Füssen nach oben auf dem Boden stünde.
Ein Hellseher? Bis zu diesem Tag waren für mich Kartenlegerinnen suspekte Zigeunerinnen, die auf Jahrmärkten ihre Kunden um ihr Geld prellen. Die ziehen dich in ein dunkel-violettes Zelt, das einzig durch tropfende Kerzen in Kandelabern beleuchtet wird, sitzen auf bordeauxroten Samtkissen und berieseln dich mit besorgter Miene: „Ich seeehe …, ich seeehe einen wunderbaren Mann. Pscht! Ich höre eine Glocke schlagen. Sie schlägt ein-, zwei-, dreimal. Ja. Genau. Um drei Uhr begegnet ihr euch. Oje, wird schwierig. Eure Verbindung ist karmisch.“
Selber schuld, wer dahin geht.
Nur war ich so verzweifelt, dass selbst der Gedanke, von halbseidenen Trickbetrügern über den Tisch gezogen zu werden, mich nicht davon abhalten konnte, am nächsten Morgen die Inserate durchzusehen.
Ich litt unter der Folge meiner ersten Drogenerfahrung mit anschließendem Entzug. Dass ich auf den Anrufbeantworter sprechen musste, fand ich unerhört, und übel gelaunt ließ ich meine Pläne wieder fallen.
Doch sie antwortete tatsächlich.
Mit schlechtem Gewissen vereinbarte ich einen Termin bei einer Monique und mein Herzschlag verdoppelte sich, als ich vernahm, wie viel er mich kosten wird. Wenn das mein Mann erfährt! Er quetscht doch jeden Rappen aus, bis er schreit.
Schockiert über mein baldiges Sakrileg wartete ich auf diesen Tag. Endlich hatte der Schrecken ein Ende, denn bestimmt würde sie mir liebevoll den Arm tätscheln und flüstern: „Mach dir keine Sorgen. Er kommt bald zurück.“
Wie die meisten Kunden erwartete ich eine positive Antwort. Wer bezahlt schon gerne für schlechte Ergebnisse?
In meinen Gedanken sah ich eine schwarzhaarige Frau in wallendem Rock und riesigen Creolen. Das brachte mich zum Kichern, als ich endlich an ihrer Haustür klingelte. Die Stärke meines Kicherns galt schon immer als Stressbarometer, und leider misst er auch in unangebrachten Situationen. Eine Angewohnheit, der ich nicht entrinnen kann.
Eine Frau, die meinen Vorstellungen einer Hellseherin nicht unähnlicher sein konnte, öffnete in schwarzen Leggins und oranger Bluse die Tür. „Komm herein, Mara.“
Nun doch etwas enttäuscht registrierte ich, dass im Haus der erwartete Hauch von Esoterik fehlte. Kein Geruch nach Weihrauch hing in der Luft, kein Zimmerbrunnen plätscherte in der Ecke, keine Nerv tötenden Klänge füllten die Stille.
Unsicher setzte ich mich im Wohnzimmer an den Esstisch und Monique, blond, mischte energisch ihre zerflederten Karten. Fest entschlossen, kein Wort preiszugeben, um ihr die Antworten nicht in den Mund zu legen, saß ich etwas zu gerade auf der Stuhlkante und wartete.
Wie es sich herausstellte, brauchte ich nicht erst zu soufflieren, denn Monique wusste bereits alles. Ungläubig starrte ich sie an und fragte mich, wie es ihr möglich war, nach wenigen Minuten des Zusammenseins derart hinter meine Fassade zu blicken.
„Deine Schwiegereltern lassen dich fallen. Sie fordern ihre Geschenke zurück, selbst wenn es sich nur um einen Aschenbecher handelt.“
Ich schwieg, aber insgeheim stimmte ich ihr zu.
„Du wirst das Haus verlassen und dir eine neue Bleibe suchen.“
Ich schwieg weiter, obwohl es mir schwerfiel, denn das war nun wirklich das Letzte, das ich tun würde.
„Und hier, hier vor dir“, energisch klopfte sie mit dem Zeigefinger auf eine Karte, „steht schon dein nächster Partner. Er ist mindestens zehn Jahre jünger als du und ihr kennt euch bereits. Er wartet nur noch, bis du frei bist. So ein dunkelhaariger, rattenscharfer Typ.“
Jetzt vergaß ich definitiv zu schweigen. Genau genommen wurde ich laut. „Nie im Leben! Ein Jüngerer! Ich bitte dich! Ich will mich doch nicht für meine Falten genieren. Das Alter ist etwas Natürliches.“
„Eben. Darum brauchst du dich auch nicht zu schämen.“
„Nein! Niemals.“
„Da kommst du aber nicht drum herum. Euch verbindet ein rotes Band und so, wie ich diesen Mann sehe, wird er es eines Tages aufwickeln.“
Der Gedanke, meine Seele vor einem neuen Partner zu entblößen, versetzte mich in Panik. Ein anderer sollte mich berühren, dazu noch einer, der - wie Monique es ausdrückte - rattenscharf sein soll! Meine Ehe steckte lediglich in einer Krise. Nicht angenehm, kam aber in den besten Familien vor, nicht wahr? Ich wollte doch nur von ihr wissen, wie lange ich noch zu leiden hatte.
„Ich kenne keinen schwarzhaarigen, rattenscharfen Mann“, rief ich entschieden. Jetzt schwebte ich nicht mehr eingeschüchtert auf der Stuhlkante.
Monique beherrschte ihr Metier. Gerade erst hatte ich beschlossen, nichts zu sagen und jetzt öffnete ich die Schleusen.
„Wenn es hier steht, ist es so. Es ist nicht euer erstes gemeinsames Leben, und er sucht dich immer wieder, bis eure Aufgabe erledigt ist. Dem kannst du nicht entgehen. Ihm schon gar nicht. Dieser Mann weiß, was er will, und wohin er will.“
Zu Monique getrieben hatte mich die Frage, wann mein Ehemann endlich einsehen würde, dass er sein wahres Glück längst gefunden hatte. Und jetzt? Jetzt beunruhigte mich dieser Jüngling.
„Du hast noch einen langen Weg vor dir. Sobald du alle Hindernisse weggeräumt hast, wirst du zum ersten Mal frei leben.“
Verwirrt und durch Schuldgefühle geplagt, weil ich ihr glauben wollte, rannte ich die Treppe hinunter.
Sie hat gesagt, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Und das kann nur bedeuten: Hugo findet den Weg zurück. Zurück zu mir.
Fasziniert von den Karten schlich ich tags darauf in das Esoterikgeschäft, an dem ich bisher mit abschätzigem Blick vorbeigeschritten war, schnappte mir ein Spiel und eilte in der Hoffnung, dass mich niemand erkannt hatte, wieder davon.
Zu Hause quälte ich mich durch die Plastikhülle und breitete die befreiten Karten auf dem Bett aus, nur um sie dann wie ein lästiges Insekt von der Decke zu wischen.
Das hier war ein anderes Kartendeck, als Monique benutzt hatte, und mir trotzdem nicht unbekannt. Aber ich verstand nicht, woher ich es kannte, und weshalb die Karten mich so erschreckten.
Qualvolle Monate vergingen, in denen mir nur noch die Hoffnung Kraft gab.
Hoffnung ist eine mächtige Droge. Trotzdem schrumpfte mit der Zeit mein Vorrat an Demut und ich hatte genug von Hugos haarsträubenden Lügen, mit denen er mir bewies, für wie beschränkt er mich hielt.
Ich setzte ihn vor die Tür. Erst danach dachte ich wieder an Monique. Es war Herbst!
Nach längerer Suche befreite ich die Tarot Karten aus ihrer Verbannung. Unsicher legte ich sie, wie ich es bei Monique beobachtet hatte, und las darin wie in einem offenen Buch. Schockiert darüber suchte ich die Telefonnummer von Monique heraus. Ich hatte viele Fragen.
Ist der Schüler reif, erscheint der Meister.
Wir machten einen Termin aus und in der Folge brachte sie mir ihr Wissen bei.
Mein Umfeld reagierte erschrocken über mein neues Interesse, sah sich in der Meinung über mich bestätigt und versuchte, mich wieder auf den rechten Pfad zu lenken.
Unbeeindruckt davon las ich von der ältesten Geschichte, die in allen Sprachen und Kulturen wieder und wieder erzählt wird.
Von der Heldenreise, die in Märchen und Mythen eingewoben ist, und sich niemand ausgedacht hat.
Vielmehr entspringt sie dem Unterbewusstsein.