Die Stimme als Zeitzeugin – Werberhetorik im Hörfunk

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Die Stimme als Zeitzeugin – Werberhetorik im Hörfunk
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Ulrike A. Kaunzner

Die Stimme als Zeitzeugin - Werberhetorik im Hörfunk

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Umschlagabbildung: Retro old microphones for press conference or interview on the desk. BrAt83 © Adobe Stock

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

www.narr.de · eMail: info@narr.de

ISBN 978-3-8233-8269-0 (Print)

ISBN 978-3-8233-0326-8 (ePub)

Inhalt

  „Sprich, damit ich dich ...

  Vorwort

  1 Einführung: Reflexionen über Stimme 1.1 Untersuchungsgegenstand und Begriffsdefinitionen

 2 Radio und Rundfunkwerbung gestern und heute2.1 Das Medium Hörfunk in der Werbung2.1.1 Der Wandel der Technik im Hörfunk2.1.2 Radiohörgewohnheiten im Spiegel der Zeit2.2 Medienrhetorik als Form von Wirtschaftsrhetorik2.3 Radiorhetorik und Radiowerbung2.3.1 Musik und Geräusche als Werbemittel2.3.2 Die Sprechstimme als Werbemittel2.3.3 Formate der Radiowerbung des 20. Jahrhunderts2.4 Persuasionsstrategien in der Hörfunkwerbung2.4.1 Exkurs: Von der antiken Rhetorik zur Werberhetorik

 3 Stimme und Sprechstil als Vertreter ihrer Zeit3.1 Vortragsformate und Sprechkunst3.2 Fragen der Stimm- und Sprechästhetik3.2.1 Sprechprofile im Hörfunk3.2.2 Stimm- und Sprechmoden3.3 Die Ästhetik der Frauenstimme3.4 Moden und Normierungen der Aussprache

 4 Gesellschaftliche Normen und Werbung4.1 Die Nachkriegsjahrzehnte4.1.1 Die 1950er Jahre4.1.2 Die 1960er Jahre4.1.3 Die 1970er Jahre4.2 Themen, Topoi und Zusatznutzen in der Produktwerbung

 5 Exemplarische Untersuchung von historischen Hörfunk-Werbespots (die 1950er, 1960er und 1970er Jahre)5.1 Forschungsfragen5.2 Korpus5.2.1 Das Regensburger Archiv für Werbeforschung5.2.2 Auswahl der Produktgruppen5.2.3 Hörfunk-Werbespots für die diachrone Analyse5.2.4 Vergleichsspots für die synchrone Analyse5.2.5 Referenz-Spots aus den 1980er und 2010er Jahren5.3 Trianguläres Untersuchungsdesign5.4 Methodischer Zugang 1: Auditive Beschreibung und Transkription der Werbespots5.4.1 EXMARaLDA vs. FOLKER5.4.2 Deskriptive Analyse: Ergebnisse5.5 Methodischer Zugang 2: Auditive Wahrnehmung von stimmlich-artikulatorischen Merkmalen5.5.1 Probandenauswahl5.5.2 Ablauf der Online-Befragung5.5.3 Auswertung der Daten5.5.4 Ergebnisse des Perzeptionstests5.6 Methodischer Zugang 3: Experimentalphonetische Analyse der mittleren Grundfrequenz5.6.1 Ergebnisse der Praat-Analyse

 6 Zusammenfassung und Ergebnisinterpretation6.1 Untersuchungsergebnisse6.1.1 Auditive Beschreibung und Transkription der Werbespots: Zusammenfassung6.1.2 Auditive Wahrnehmung (Online-Experiment): Zusammenfassung6.1.3 Experimentalphonetische Analyse: Zusammenfassung6.2 Ausblick und Forschungsdesiderata

  Literatur

 AnhangDiachronCaro 1956Caro 1963Caro 1973Durodont 1953Durodont 1960Durodont 1976Persil 1953Persil 1963Persil 1973Synchron: KaffeeALI Express-Kaffee 1959Maxwell Express Kaffee 1957Linde’s Original 1957Bocca Original 1956VOX-Kaffee 1955Synchron: HygieneBlendax 1962Blend-a-med 1962Dr. Best 1962LACALUT 1962Signal 1962Synchron: WaschmittelPerwoll 1973REI 1973Weißer Riese 1973X-TRA 1973Fakt 1972Referenz-Werbespots 1980er – TVPersil 1988 (1)Persil 1988 (2)Referenz-Werbespots 2010er – TVTchibo 2018NESCAFÉ GOLD 2018Melitta 2016KAREX 2019Kinder KAREX 2019Oral-B 2019Lenor 2017ARIEL 2019Lenor 2018

  Sachregister

„Sprich, damit ich dich sehe.“ (Sokrates)

Vorwort

Seit etlichen Jahren ist es mir ein Anliegen, das Thema Stimme und Sprechweise historisch zu beleuchten. Schon zu Studienzeiten – vor allem im Rahmen meines Zusatz-Studiums der Sprechwissenschaft und -erziehung – faszinierte mich die Thematik. Als Mitglied des Regensburger Verbands für Werbeforschung erkannte ich den potenziellen Reichtum des Historischen Werbefunkarchivs der Regensburger Universitätsbibliothek, das die Quelle für meine Untersuchung darstellt. Die diachrone Analyse von drei Produktgruppen wurde schließlich zum Ausgangspunkt für eine umfassendere Studie, die das Genre Werbespot als historischen Beleg und gesellschaftliches Stimmungsbarometer, und speziell die Stimme als Zeitzeugin betrachtet.

Ein großes Dankeschön gilt Dr. Christoph Draxler für die Online-Umfrage, Prof. Dr. Sandra Reimann und Dr. Christian Gegner für konstruktive Gespräche. Eine wertvolle Bereicherung war der Austausch mit Prof. Dr. Antonie Hornung, Prof. Dr. Bernhard Schwetzler und Dr. Valentino Sani. Ich möchte weiter allen danken, die bei der Transkription, der Analyse, der Interpretation der Werbespots und der Korrektur geholfen haben: Eva Maier, Christiane Portele, Livia Seeber, Hannes Philipp, Kristina Scherzer, Martina Sauer, Dr. Marcus Sauer und nicht zuletzt meinem Mann für seine Unterstützung.

Immer mehr interessante Aspekte taten sich im Laufe der Untersuchung auf, so dass eine Eingrenzung der Fragestellungen von Nöten war. Die vorliegenden Ergebnisse sind folglich zugleich als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen zu verstehen, was nicht zuletzt durch den regen Anklang bei öffentlichen Medien deutlich wurde.

Regensburg im Mai 2021 Ulrike A. Kaunzner

1 Einführung: Reflexionen über Stimme

Die Stimme sagt vieles über die Sprecherin bzw. den Sprecher1 aus, der StimmklangStimmklang und das Gesagte beeinflussen die Hörenden, sind Moden und Gemütsschwankungen unterworfen; man spricht von „stimmig“, wenn die Stimme zu dem, was man sagt, passt. Stimme kann Indikator für Wahrheit sein (dann „stimmt“ das, was man sagt), bietet schließlich die Möglichkeit der Meinungsäußerung (man will eine „Stimme abgeben“). Das Wortfeld Stimme hat immense Ausmaße und Bedeutungsebenen, von denen im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) vier Bedeutungsgruppen herausgefiltert werden:2

1 Stimme physiologisch als „durch Schwingungen der Stimmbänder im Zusammenwirken mit Resonanzerscheinungen erzeugte Laute und Töne“, sei es in Bezug auf die SprechstimmeSprechstimme als auch auf die Singstimme, auf die Stimme bei Menschen und Tieren;

2 Stimme in der „Musik“, wenn in der Vokalmusik die Stimmen in einem Lied (z.B. Sopran oder Bass) oder in der Instrumentalmusik die unterschiedlichen Musikinstrumente einer Partitur und die diesen zugeteilte Melodie gemeint sind;

3 Stimme als „Meinungsäußerung, Willensbekundung“, die eine qualitative Bedeutung hat und für die Meinung einer Person steht, die beispielsweise kritisch, zweifelnd, wohlgesonnen oder neutral eingestellt sein kann; man spricht auch von der Stimme des Herzens, der Vernunft, des Gewissens etc.;

4 Stimme als „Willensäußerung des einzelnen bei einer Abstimmung, Wählerstimme“, wobei hier die Quantität im Vordergrund steht.

Der Stimme wurde schon in der antiken RhetorikRhetorikantike im Schritt der pronunciacioPronunciacio gebührende Bedeutung beigemessen; sie rufe im Hörer Gefühle und Stimmungen hervor, die für die Wirkung auf andere ausschlaggebend seien. Diese schon von QuintilianQuintilian und anderen griechischen und römischen Rhetorikern beschriebenen Eigenschaften galt es bereits in der Antike in Rede und Schauspiel zu entfalten. Sie seien, so Meyer-Kalkus (2008, S. 681), bis heute von unverminderter Aktualität, auch bei audiovisuellen MedienMedienaudiovisuelle.

 

Die Vorstellungen, die über Stimme, Sprechstil und Sprache transportiert werden, setzen Werbefachleute gezielt bei ihren Verkaufsstrategien ein, um ihre potenziellen Kunden und Käufer anzusprechen. Werbespots aus früheren Jahren sind somit nicht zuletzt historische Zeugnisse gesellschaftlicher, sozialpolitischer und wirtschaftspolitischer Umstände und Desiderate; sie drücken die Stimmung der Sprechenden aus und charakterisieren Rollenverhältnisse und Klischees.

Beim Hörfunk, der von einer doppelten Kommunikationssituation, nämlich der mündlichen und zugleich medialen, geprägt ist, steht das Gehörte, also die Stimme, der StimmklangStimmklang und die Sprechweise, im Mittelpunkt jeglicher Kommunikation; man spricht sogar von „StimmästhetikStimmästhetik“ als Teil der „Ästhetik der Rundfunkwerbung“. WerberhetorikRhetorikWerbe- als Form von Wirtschaftsrhetorik beschäftigt sich mit Medien, wobei der Hörfunk das wohl bedeutendste der audiovisuellen Medien in den Jahren der Nachkriegszeit bis zum Aufkommen des Fernsehens und dem Anbruch des darauf folgenden digitalen Zeitalters darstellt. MehrmedialitätMehrmedialität in der Werbung ist ein in jüngerer Zeit in den Fokus gerücktes Phänomen und hat die WerbeindustrieWerbeindustrie revolutioniert (vgl. Reimann, 2008). Nach und nach hat sich die Werbung von audio- auf videogestützte Werbeträger verlagert, und das, was früher mit Hilfe des Tons kreiert wurde, übernimmt heute das Bild direkt.

Dass aber gerade die Stimmen von Frauen zurzeit im besonderen Interesse der Forschung stehen, ist kein Zufall. Hat doch Stimme viel mit Selbstdarstellung und Selbstoffenbarung zu tun. Vor allem die Stimmlage, in der sich die Stimme den Hörenden offenbart, lässt auf die dahinter stehende Person schließen; und nicht nur das, sie enthüllt auch Trends, Moden und Konventionen, deren Zeugin sie ist. Erst seit der Erfindung des Phonographen 1877 durch Thomas Alva Edison kann die Stimme als Zeitzeugin auftreten, war sie vorher nicht speicherbar gewesen.

1.1 Untersuchungsgegenstand und Begriffsdefinitionen

Die vorwiegend sprechwissenschaftlich verortete Arbeit lässt sich thematisch an einer interdisziplinären Schnittstelle zwischen Rhetorik, Phonetik, Werbung und Medien positionieren. In ihr geht es, bis auf wenige Vergleiche und Exkurse in einzelnen Passagen, ausschließlich um Hörfunkwerbung und um ihre Bedeutung in der SprechwissenschaftSprechwissenschaft und MedienwissenschaftMedien-wissenschaft. In der gegenwärtigen Werbeforschung gibt es wenige Untersuchungen zur Stimme in der Hörfunkwerbung (siehe hierzu Stöckl, 2007). Die linguistische Forschung stellt sprachwissenschaftliche, aber kaum sprechwissenschaftliche Untersuchungen in den Fokus, so dass die Untersuchung von Stimme und SprechweiseStimmeund Sprechweise in der Hörfunkwerbung als Desiderat angesehen werden kann.

Nur wenige Bibliotheken verfügen über nach Schwerpunkten archivierte Werbe- und TV-Spots (Zurstiege, 2016, S. 78–79). Eine Fundgrube stellt daher das Historische WerbefunkarchivWerbefunkarchiv als Teil des Regensburger Archivs für Werbeforschung (RAW) dar, welches Hintergrund dieser Ausführungen ist und das mit über 50000 Hörfunk-Werbespots eine wertvolle Quelle für ZeitzeugnisseZeitzeugnisse darstellt, die bis in die Zeit vor 1950 zurückreichen (siehe Kap. 5.2.1).1

Was die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen von Hörfunkwerbung betrifft, so sei auf eine Reihe an jüngeren Werken (Herausgaben und einzelne Aufsätze) verwiesen, die zum Großteil im Zusammenhang mit dem RAW entstanden sind: Reimann, 2006; 2007; Greule & Reimann, 2007; Stöckl, 2007; Reimann, 2008a,b; Reimann & Sauerland, 2010; Reimann & Šichová, 2011; Falk, 2019.2

Das Anhören und die Analyse der historischen Spots lässt die Zeit in der BRD ab den 1950er Jahren wach werden und den gesellschaftlichen Wandel nachvollziehen, wenn man den Medien und dem WerbefunkWerbefunk einen Platz im „kulturellen Gedächtnis“ einräumt (Marßolek & Saldern, 1999, S. 11). Die Werbespots zeigen die Gesellschaft der damaligen Zeit: die Menschen mit ihren Träumen und Bedürfnissen in ihrem gesellschaftspolitischen Kontext. Die Stimmen der Sprechenden dokumentieren die Entwicklung von Sprache und GesellschaftGesellschaft und damit einen Teil der Geschichte der Bundesrepublik.

Obwohl [die Werbung] sich grundsätzlich der vorhandenen Werte, Normen, moralischen Vorstellungen und des spezifischen Alltagswissens der Rezipienten bedient, spielt sie zum Zweck der werblichen Inszenierung auch mit diesen und kann sie so sowohl reproduzieren als auch aufweichen. (Siegert & Brecheis, 2017, S. 72)

Über die gegenseitige Beeinflussung von Werbung und gesellschaftlichen TrendsTrends, über Werbung als Ausdruck des soziokulturellen, wirtschaftlichen, politischen, kunst- und kulturgeschichtlichen Profils einer Epoche gibt es ausführliche Abhandlungen (Bau, 1994; Bolten, 1996; Cölfen, 1999; Fährmann, 2006; Jia, 2002; Klüver, 2009; Kriegeskorte, 1995; Schmidt & Spieß, 1996; Siegert & Brecheis, 2017; Zurstiege, 2016).3 So orientiert sich Werbung nicht nur am Zeitgeist, Moden und Trends, sie fungiert auch als Trendsetter. Zurstiege (2016, S. 80) bringt es auf den Punkt:

Werbung orientiert sich am Zeitgeist, an den Moden und Vorlieben der Menschen, an allem, was in ist. Sie folgt Trends, in manchen Fällen setzt sie sie sogar. Die Werbung ist ein einflussreicher und aussagekräftiger Kulturfaktor moderner Gesellschaften, daran besteht weder bei Praktikern noch bei Forschern Zweifel.

Jeder Werbespot hat das Ziel, die Verbraucher zu erreichen; umgekehrt bestimmen die Gewohnheiten der Menschen die WerbeindustrieWerbeindustrie der jeweiligen Epoche. Das, womit man sich verführen lässt, ändert sich im Laufe der Zeit: die Formen der Persuasion, verbale Mittel (die gesprochene Sprache) und paraverbale Mittel (Stimme und Sprechweise). Dabei geht es zum einen die Frage nach der Art und Weise, wie Aufmerksamkeit geweckt wird (es muss auffallen), wie PersuasionPersuasion erfolgt (das wiederum muss gefallen) und schließlich, was die Beeinflussung auslöst (wie man es verkaufen kann).

In den 1950er Jahren erschien das jahrzehntelange Referenzwerk des Amerikaners Vance Packards Die geheimen Verführer4 und trug dazu bei, Werbung als unterschwellige BeeinflussungBeeinflussung in ein negatives Licht zu stellen. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, in der die Angst vor Manipulation und Verschwörung die Gesellschaft zeichnete, und Packard machte auf die Manipulationsmöglichkeiten über das Unterbewusstsein aufmerksam. Diese Werbe- und Konsumkritik hat laut Zurstiege (2015, S. 21) in den 1960er/1970er Jahren ihren Höhepunkt erreicht. Die sodann verstärkt einsetzende Internationalisierung wirkte sich auch auf Produktion und Vertrieb und somit auf die Werbung aus. Der Schritt zur Globalisierung der Wirtschaft wird mit Beginn der 1980er Jahre angesetzt (Zohlnhöfer, 2009), und seit dieser Zeit verfolgen Werbetreibende dementsprechend neue Kommunikationsstrategien, die sich durch eine weltweite Vernetzung auszeichnen.

Es gibt immer wieder Stimmen, die im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Diskussion um Globalisierungstendenzen die Werbung als Datenquelle ablehnen, die hierin eine Verzerrung von Nationalkulturen sehen und die Dominanz des Englischen kritisieren. Diese Kritik fasst Montiel Alafont (2012, S. 402–403) zusammen:

Das Englische, heißt es etwa, beeinflusse oder dominiere in manchen Fällen sogar weltweit die WerbekommunikationWerbekommunikation, wobei Werbekommunikate, so wie sie von nordamerikanischen internationalen Werbeagenturen gestaltet würden, sich nicht nur der Sprache, sondern besonders des Lebensstils der Vereinigten Staaten bedienten. [Auch] sei Werbung als Datenquelle ungeeignet, da sie schlicht und einfach nicht authentisch sei, sondern zugunsten wirtschaftlicher Interessen der (überwiegend US-amerikanischen) Industrie verfälscht werde. In verallgemeinerter Form läuft diese These auf den Vorwurf hinaus, dass nicht nur eine Art nordamerikanischer Kulturimperialismus, sondern der gesamte Globalisierungsprozess die Authentizität oder gar den Fortbestand der Kulturen bedrohe […] Nationalkulturen lägen demzufolge im Sterben: Sie würden mithilfe der Werbung allmählich durch die globale Kultur ersetzt.

Zu erwähnen ist auch, dass die kommerzielle MarktforschungMarktforschung seit den 1950er Jahren an Bedeutung zugenommen hat, was sich auf die Argumentationspraxis von Werbetreibern auswirkt. Naab & Schlütz (2016, S. 224) sprechen von einem „Paradigmenwechsel“, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu erkennen sei:

Das aktive Publikum rückte in den Vordergrund der Betrachtung. Die Nutzerinnen und Nutzer wurden nicht mehr ausschließlich als Objekte kommunikativer Bemühungen, sondern als intentional nach ihren Bedürfnissen handelnde Subjekte verstanden, die sich Kommunikationsinhalten absichtsvoll zuwenden – oder, wie gelegentlich im Fall von Werbung, auch bewusst davon abwenden. […] Ihre Auswahl wird von Wissen und Absichten geleitet (Intentionalität) und führt sie zu Angeboten, von denen sie die Befriedigung von Bedürfnissen erwarten (Nützlichkeit).

Werbung heute zeichnet sich durch ein zum Teil völlig anderes Vorgehen aus, das zum einen auf Unterhaltung, Dienstleistung und Information ausgerichtet ist, aber auch gezielt den Spaßfaktor befriedigt und mit Übertreibung und Täuschung offen umgeht; die Erwartungen und Gewohnheiten der Konsumenten haben sich gewandelt und wir erkennen eine immer härtere Konkurrenz der Marken, wobei Kopieren und Nachahmen bewährte Mittel des Erfolgs darstellen.

Für die ZielgruppeZielgruppenansprache vor allem von Kindern und Jugendlichen werden heute die Neuen MedienMedienNeue mit TikTok, Twitter, Facebook, YouTube, Google+ gewählt.

Im Kontext der neuen Medien entstehen heute neben den klassischen Werbeformen im raschen Wandel viele neue: In-game-Advertising und Advergames (Werbespiele), Branded Entertainment (Werbung in Unterhaltungsangeboten), Viral Marketing (Konsumenten verbreiten die Werbebotschaft weiter), Word of Mouth (»Mundpropaganda«) und Mobile Marketing (Werbung über mobile Endgeräte) lauten nur einige der Etiketten, die diesen neuen Werbeformen angeheftet werden. (Zurstiege, 2015, S. 18)

Ziel der vorliegenden Arbeit kann es nicht sein, die vielfältigen Problematiken der Werbung umfassend darzustellen, da eine Vielzahl an theoretischen und angewandten Wissenschaftsdisziplinen einbezogen werden müsste. So wird zwar immer wieder ein Blick auf interdisziplinäre Zugänge5 (z.B. die MedienwissenschaftMedien-wissenschaft, die MedienlinguistikLinguistikMedien-, die MedienpädagogikMedien-pädagogik, die WerbepsychologieWerbepsychologie, MarketingMarketing oder KulturgeschichteKulturgeschichte) geworfen. Diese Passagen sollen als Ergänzungen zur sprechwissenschaftlichen Analyse betrachtet werden, die im Mittelpunkt des Interesses steht.

Diese Arbeit will den gesellschaftlichen Wandel anhand der Stimme und des Sprechstils beim Werbeträger Hörfunk in Westdeutschland über drei Jahrzehnte rekonstruieren, wobei das RAWRAW als Quelle für das Korpus dient (Untersuchungsobjekte sind digitalisierte Rundfunk-Werbespots). Ein breit angelegtes Online-Experiment mit Ausschnitten dieser Spots soll ihre Stimm- und Sprechwirkung heute erfassen. Beim Vorgehen stehen als Forschungsziele folgende zwei Fragenkomplexe im Mittelpunkt der Analysen:

1 Welche PersuasionsstrategienPersuasionsstrategien, Themen und Topoi werden seit den 1950er Jahren in der Hörfunkwerbung eingesetzt, und wie werden sie von Stimme und Sprechweise aufgenommen?

2 Wie nehmen heutige Hörerinnen und Hörer Stimme und Sprechweise in der Hörfunkwerbung seit den 1950er Jahren wahr?

Nachdem zunächst in diesem ersten Kapitel der Untersuchungsgegenstand umrissen wurde, widmet sich das zweite Kapitel einem Überblick über die Geschichte des Radios und der Rundfunkwerbung bis zu den 1950er Jahren. In einem Exkurs über das Medium Hörfunk in der Werbung (2.1) geht es sowohl um den Wandel der Technik als auch um den Wandel der HörgewohnheitenHörgewohnheiten. Dem folgen grundlegende Gedanken zum Thema Medienrhetorik als Form von Wirtschaftsrhetorik (2.2) und Radiorhetorik (2.3). Ein Blick auf Persuasionsstrategien in der Hörfunkwerbung (2.4) schließt das zweite Kapitel mit einem Exkurs in die antike Rhetorik ab.

 

Im dritten Kapitel stehen Stimme und Sprechstil im Fokus. Nach allgemeinen Reflexionen über VortragsformateVortragsformate und SprechkunstSprechkunst (3.1) geht es um die ästhetische Dimension von Stimme und Sprechstil (3.2), wobei der Ästhetik der FrauenstimmeÄsthetikder Frauenstimme ein eigener Abschnitt gewidmet ist (3.3). Die Aussprache selbst ist ebenfalls Moden und Normierungen unterworfen, was in Abschnitt 3.4 zur Sprache kommt.

Ein historischer Rückblick auf die Zeit ab den 1950er Jahren hat im vierten Kapitel nicht nur zum Ziel, markante politische und gesellschaftliche Ereignisse wachzurufen, sondern auch die jeweiligen Moden und Trends aufzuzeigen, von denen sich die Konsumenten der jeweiligen Zeiträume angesprochen fühlten (4.1). Das so skizzierte Gesellschaftsbild gibt Zeugnis ab über den Bedürfniswandel der Zeit, der sich in den Themen (und damit auch in den mit dem Produkt angebotenen Zusatznutzen) bei Produktwerbungen niederschlägt (4.2).

Im fünften Kapitel werden exemplarisch Hörfunk-Werbespots der 1950er, 1960er und 1970er Jahre für eine Analyse im Rahmen eines triangulären Untersuchungsdesigns herangezogen und einigen Spots aus den 1980er und den 2010er Jahren gegenübergestellt. Es handelt sich um Produktwerbungen aus drei Bereichen: Haushaltshygiene (Waschmittel), Körperhygiene (Zahnpasta) und Genuss (Kaffee). Die Ergebnisse eines Online-Experiments mit einer Expertenumfrage sollen, zusammen mit einer hörphonetischen Deskription und Interpretation und der akustischen Berechnung des Parameters mean pitchMean pitch mit Hilfe der Software PraatPraat Aussagen zu den oben genannten Forschungszielen zulassen. So kann der gesellschaftliche Wandel in der Stimme, im Sprechstil und in der WerberhetorikRhetorikWerbe- exemplarisch aufgezeigt werden. Durch die sprechwissenschaftlich-phonetische Charakterisierung der männlichen und weiblichen Sprechstimmen kann auf die Frage nach der Stimme als Zeitzeugin in der Verkaufsrhetorik geantwortet werden.

Im Anhang befinden sich die analysierten Werbespots in Form von orthographischen TranskriptionenTranskriptorthographisches6 mit jeweiliger GAT 2TranskriptGAT 2-Transkription (mit Hilfe des Editors FOLKER). Das garantiert zum einen die Transparenz der Untersuchung und ermöglicht einen Nachvollzug ihrer Aussagen. Zum anderen sollen die Interpretation und Schlussfolgerungen als Einladung zu weiteren Analysen verstanden werden.

Schließlich soll im Rahmen einer Begriffsdefinition auf die Verwendung der zentralen Termini „Thema“, „Topos“, „Zusatznutzen“ und „USP“ hingewiesen werden:

ThemaThema wird hier auch im Zusammenhang mit GrundnutzenGrundnutzen und Zusatznutzen verwendet (siehe unten), außer die Begriffe werden differenziert gebraucht.7 Statt Thema könnte in vielen Fällen der Terminus „Werbebotschaft“, „Inhalt“, „Gegenstand“ oder „Motiv“ stehen.

In der Alltagskommunikation verhaftet ist der ToposTopos: „Da der T.[opos] auf alltagslogischen Denkmustern oder konventionellem Erfahrungswissen beruht, hat er auch bei routinemäßigem Gebrauch Überzeugungskraft“ (Bußmann, 2008, S. 745). Auf Topoi entwickelt sich Argumentation, beispielsweise in Form von Kausalschlüssen (z.B. Persil 1973: mit der roten Schleife; ein Paket mit Schleife erinnert an ein Geschenk, an etwas Besonderes) oder bei dem in der Werbung beliebten Topos der Autorität, der sog. Testimonialwerbung (beispielsweise die zufriedene Kundin in Lenor 2018: Ich fühle mich wohl in Lenor).8

Der ZusatznutzenZusatznutzen wird ergänzend zum Grundnutzen (dem jeweiligen Gebrauchswert, dem rationalen Grund) eines Produktes verkauft; hiermit bezwecken die Anbieter, weitere Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen (z.B. emotionale Bedürfnisse in Form eines Glücksgefühls, soziale Bedürfnisse in Form von Anerkennung, Schönheit, Selbstbestätigung). Spang (1987, S. 75) nennt es auch die „produktfremden scheinbaren Sekundärleistungen“.

Mit Hilfe des Zusatznutzens kann ein Alleinstellungsmerkmal bzw. ein herausragendes Leistungsmerkmal erzeugt werden, das das Produkt gegenüber anderen differenziert, unter der Konkurrenz heraushebt und einen veritablen Kundenvorteil darstellt. Man spricht dann auch von USP (unique selling point oder unique selling proposition.USPunique selling point/proposition Zusatznutzen und USP sind sehr eng miteinander verwoben und werden häufig gleich gesetzt:

[der produktspezifische Zusatznutzen] wird von Werbefachleuten USP (unique selling proposition – „einzigartige Verkaufsaussage“) genannt. Über die USP/den Zusatznutzen versucht die Werbung das Problem der zunehmenden Produktähnlichkeit zu umgehen und auf irgendeine Weise das beworbene Produkt gegen Konkurrenzprodukte abzugrenzen, auch wenn kaum mehr tatsächliche Unterschiede vorhanden sind. (Janich, 2013, S. 56)

Ein AlleinstellungsmerkmalAlleinstellungsmerkmal wird regelmäßig einen Zusatznutzen auslösen, also eine Art Befriedigung eines Bedürfnisses (z.B. bei THOMY Senf, der in einem ansprechenden Glas verkauft wird, das als Trinkglas benutzt werden kann, was ihn wiederum von anderen Senf-Produkten abhebt). Aber der Zusatznutzen muss nicht zwingend zu einem USPUSP führen, vor allem, wenn das Merkmal keine Alleinstellung hat. Für die Verkaufsstrategien in der Werbung handelt es sich zwar um zwei Argumentationskonzepte, die aber so eng miteinander verwandt sind, dass die Unterschiede der beiden Begriffe auch in der vorliegenden Untersuchung vernachlässigt werden können. Daher sollen die beiden Begriffe im weiteren Verlauf der Arbeit gleichrangig nebeneinander verwendet werden.