Toter Kerl

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II

Rieder fuhr über den Deich am Boddenufer. Da waren wenigstens keine Pferdekutschen unterwegs. Es blies ein leichter Kantenwind von Westen und dagegen gab es leicht erhöht über den Wiesen zwischen Vitte und Kloster keinen Schutz.

Über Rügen ging langsam die Sonne auf. Ihre Strahlen verbreiteten auf dem Bodden einen sanften Dunst. Geräuschlos glitt die erste Fähre von Schaprode auf Hiddensee zu. Auf den Feuchtwiesen zwischen den Inselorten Vitte und Kloster weideten Schafe, Rinder und Pferde. Dazwischen stolzierten Möwen, Reiher und Wildgänse, wenn sie nicht gerade in einem der Tümpel ein ausgiebiges Morgenbad nahmen. Rieder hatte sich angewöhnt, immer nach den schwarzen Schafen in den Herden zu suchen. Doch mehr als ein oder zwei fand er nicht.

Diese Idylle entschädigte Rieder immer wieder für die kleinen Zwistigkeiten mit seinem Kollegen. Hier auf der Insel hatte er als einstiger Stadtmensch ein völlig neues Gefühl für die Natur und den Lauf der Jahreszeiten entwickelt.

Im Hafen Kloster duftete es nach frischem Räucherfisch, der dort auf zwei alten ausrangierten Kuttern angeboten wurde. Rieders Magen rebellierte gegen das ausgefallene Frühstück. Dagegen musste er etwas unternehmen. Wahrscheinlich stand ihm auch noch eine Strandwanderung am Enddorn bevor, wenn es wirklich um die Abbrüche an der Steilküste ging. Sie waren einige Hundert Meter vom Fahrradparkplatz entfernt. Rieder bog also nach links ab, ging an der Steigung zum „Hotel Hitthim“ kurz aus dem Sattel und bremste dann vor dem kleinen Lebensmittelladen.

Gestärkt kam er am Enddorn an. Dort erwartete ihn schon ein älterer Herr, der sofort auf ihn zustürmte, nachdem er den Schriftzug „Polizei“ an der Querstange seines Rades entdeckt hatte.

„Das wird aber auch Zeit, dass Sie endlich kommen. Ich warte hier schon über eine Stunde“, maulte er anstelle einer Begrüßung. Er drängte Rieder vom Rad und machte winkende Handbewegungen, ihm an den Strand zu folgen. „Das ist eine Frechheit, was sich die Leute hier erlauben.“

Rieder versuchte, den alten Herrn zu besänftigen. „Die Natur kann man hier nicht aufhalten. Abbrüche gibt es jedes Jahr. Vor den Wellen gibt es keinen Schutz.“

Der alte Mann blieb stehen. „Was faseln Sie da von Abbrüchen, junger Mann, und den Kreidefelsen?“

„Ich dachte, es geht um die Uferabbrüche. Deshalb haben Sie doch angerufen. Der Strand ist verschüttet und man kann nicht mehr trockenen Fußes die Insel umrunden.“

Der Alte schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn. Es geht um das Boot.“

Nun guckte Rieder verdutzt. Der Mann deutete in Richtung See und Rieder sah, was gemeint war.

Ein Boot, eine große Motorjacht, lag am Strand, hatte sich auf einige Findlinge geschoben und leicht zur Seite geneigt. Sie wirkte wie ein toter Walfisch.

„Kommen Sie, kommen Sie, schauen Sie sich die Sauerei an.“

Rieder folgte dem Mann zu dem gestrandeten Schiff. In Turnschuhen über den Strand zu laufen kostete viel Kraft, aber barfuß wäre es in diesem Gemisch aus Sand, Kies und Muschelresten eine Tortur geworden. Er staunte, woher der alte Mann seine Kondition nahm. Endlich waren sie an der Stelle angekommen, an der das Boot lag. Als Rieder sich umdrehte, um abzuschätzen, wie weit es bis zum Parkplatz Enddorn war, sah er einen großen hageren Mann in Uniform und mit Mütze den Strand entlangkommen, unverkennbar Thomas Förster, der Chef des Hiddenseer Nationalparkhauses. Rieder winkte ihm zu, dann warf er einen ersten genaueren Blick auf das Schiff. Da hatte der Bootsführer wohl nicht aufgepasst oder die Eintragungen auf der Seekarte nicht beachtet.

„Sehen Sie mal den Ölfilm auf dem Wasser, der sich gebildet hat. Diese Schweine …“

Rieder hob die Hand und versuchte weiteren Tiraden des Mannes Einhalt zu gebieten.

„Halt mal! Haben Sie denn jemanden an Bord gesehen. Es kann sich auch um einen Unglücksfall handeln. Vielleicht ist jemand verletzt?“

„Da hat sich nix bewegt, obwohl ich ein paarmal gerufen und auch Steine geworfen habe. Wahrscheinlich pennen die in der Kajüte ihren Rausch aus.“

Rieder zog die Augenbrauen nach oben. „Das mit den Steinen will ich besser nicht gehört haben.“

Nun war auch Förster angekommen. „Hallo, Rieder. Was ist los?“

Rieder zeigte in Richtung Boot. „Offenbar gestrandet. Öl ist ausgelaufen!“

„Das ist echt eine Sauerei“, schnaubte Förster, „der kann sich auf einen schönen Bußgeldbescheid freuen.“

„Moment“, rief der Polizist, „erst mal müssen wir klären, ob jemand an Bord und vielleicht verletzt ist. Okay?“

Rieder zog die Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und watete zum Heck des Schiffes. Dort waren die Aufbauten deutlich niedriger und man konnte über die Reling auf das Deck klettern. Die Tür zur Kabine war geöffnet. Rieder stieg über die Sitzbänke und schaute vorsichtig ins Innere des Schiffes. Es war ein lang gestreckter Salon. In der Mitte befand sich ein langer schmaler Holztisch, an den Seiten Sitzbänke. Aber niemand war zu entdecken. „Hallo, ist da jemand?“, rief Rieder in den Raum. Keine Antwort.

Rieder zwängte sich am Tisch vorbei. Hinter dem Salon ging es in eine kleine Schiffsküche mit Hängeschränken, Herd, Kühlschrank, alles aus braunem Schichtholz gearbeitet oder in solches eingefasst. Rechts war eine Schiebetür. Rieder schob sie vorsichtig auf: das Bad, mit Waschbecken, Toilette und sogar einer Dusche. Nicht schlecht, dachte sich der Polizist. Auf einem kleinen Brett unter dem Spiegel über dem Waschbecken standen ein Kulturbeutel und Becher mit Zahnbürsten. Er setzte seine Entdeckungstour durch das Boot fort. Ein paar Stufen führten nach oben in ein richtiges Führerhaus, mit Steuerrad, Radargerät und allen möglichen technischen Armaturen. In der Mitte gab es eine kleine Klappe. Rieder schaute hindurch. Sie stellte sich als Einstieg in eine weitere kleine dreieckige Koje im Bug des Bootes heraus, ausgefüllt mit einem riesigen Bett. Durch die beiden Luken in der Decke konnte man bestimmt wunderbar in den Himmel schauen, dachte sich Rieder. Aber keine Spur von einer Menschenseele.

Rieder kletterte wieder von Bord und ging zu Förster und dem alten Herrn zurück.

„Keiner da.“

Da fiel dem Polizisten ein, dass er den Mann noch gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte.

„Thilo Preil. Dr. Thilo Preil“, antwortete dieser beflissen, „und ich möchte hier auf der Stelle gleich Anzeige gegen den Besitzer dieses Bootes erstatten wegen Umweltverschmutzung …“

„Das ist ein gutes Stichwort“, meinte Rieder, „ich werde erst mal feststellen, wer überhaupt der Besitzer des Schiffes ist. Nach dem Schiffskennzeichen könnte es ja einer von der Insel sein.“

Am weißen Bug des Bootes stand „RÜG-JJ 1913“ und daneben der Name „Antonie“.

Rieder nahm sein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer des Reviers. Sein Kollege meldete sich.

„Was gibt’s?“

„Sie sind noch im Büro?“

„Äh … ich wollte gerade los, nach Kloster“, stotterte Damp in den Hörer.

„Ach so …“ Von wegen in Kloster Schäden durch den Übertragungswagen aufnehmen, dachte sich Rieder. Punkt für mich. „Könnten Sie bitte mal einen Bootseigentümer überprüfen?“

„Okay, höre.“

„Der Kahn heißt ,Antonie‘, Kennzeichen …“

Da hakte Damp schon ein. „Dafür muss ich nicht den Computer anwerfen. Das ist das Boot von Schneider, Jens-Uwe Schneider, dem Pfarrer.“

„Aha.“

„Was ist denn damit?“, fragte sein Kollege.

„Es ist hier auf Grund gelaufen, oder besser gesagt, gestrandet. Hängt auf ein paar Steinen fest. Aber es ist keiner an Bord. Haben Sie eine Nummer von Schneider?“

„Ich schau mal nach.“

Rieder hörte Rascheln in der Leitung, wahrscheinlich schlug Damp in den Akten nach, die er für die Preisverleihung angelegt hatte.

„Die kann ich Ihnen auch geben“, mischte sich Förster ein.

„Lassen Sie, Damp. Förster hat die Nummer“, rief Rieder ins Telefon.

Förster suchte schon im Nummernverzeichnis seines Telefons und tippte auf die grüne Hörertaste. „Der kann sich auf was gefasst machen!“, grummelte der Naturschützer.

Vom Boot her hörten sie das Klingeln eines alten Telefons. Immer wieder. Doch niemand meldete sich.

III

Damp hatte die Beine vom Tisch genommen und das Sudoku aus der „Ostseezeitung“ zur Seite gelegt. „Der Neue macht wieder Stress“, sprach er zu sich selbst. Für ihn war Stefan Rieder immer noch „der Neue“, obwohl sie nun schon seit fast sechs Monaten das Revier in Vitte teilten. Die Hiddenseer würden sagen, „der Zugereiste“, und der Tonfall des Wortes würde den Verdacht nahelegen, Zugereiste seien – gelinde gesagt – nicht willkommen. Eins allerdings musste Damp seinem Kollegen zugestehen: Er hatte sich auf der Insel schon gut eingelebt. Schuld daran war aus seiner Sicht Rieders Nachbar Malte Fittkau. Er hatte Rieder bei den Autoritäten der Insel die Türen geöffnet: beim Hafenmeister, beim Wirt der „Fischerklause“ in Vitte, in der nur die Insulaner verkehrten, bei den Fischern, wo Rieder jetzt schon wie jeder Eingeborene einen deutlichen Rabatt auf Zander und Dorsch bekam. Das war Damp in den vergangenen zehn Jahren nicht gelungen. Fragte er mal einen Fischer nach frischem Fisch, so war der Fang schon ausverkauft oder anderen versprochen. Der Hafenmeister grüßte ihn nicht. Betrat er die „Fischerklause“, machte sich sofort ein ungastliches Schweigen breit.

Damp hatte Fittkau auch in Verdacht, für den einen oder anderen Streich verantwortlich zu sein, der ihm auf der Insel gespielt wurde. Als Rieder vor drei Wochen ein paar Tage nach Berlin gefahren war, meldete eines Morgens der Verkehrsfunk von Radio Mecklenburg-Vorpommern, dass es nach Angaben des Inselpolizisten Ole Damp an diesem Tag möglich sei, die autofreie Insel Hiddensee einmal mit dem Pkw zu besuchen. Kurz darauf bildete sich an der Fähre in Schaprode eine Warteschlange. Dutzende Autofahrer bestanden beim überraschten Fährpersonal darauf, mit dem Auto nach Hiddensee zu fahren. Damp war noch gar nicht im Revier, als ihn der aufgebrachte Kapitän der Fähre „Vitte“ anrief und zur Schnecke machte. Gleich darauf meldete sich Polizeichef Bökemüller aus Stralsund und fragte, was das für ein Schwachsinn sei. Damp schwor, nichts mit der Sache zu tun zu haben, fand aber bei seinem Chef keinen Glauben. Auf Rügen hatten seine Kollegen vom Revier Bergen alle Hände voll zu tun, die wartenden Autofahrer davon zu überzeugen, dass es sich um eine Falschmeldung handele und Hiddensee auch weiter autofrei bliebe.

 

Damp war daraufhin in den Hafen geeilt. Dort hatten sich viele Hiddenseer versammelt, die die Nachricht gehört hatten und nun auf die Fähre warteten, um das einmalige Wunder zu bestaunen. Die Fuhrleute stürmten auf Damp zu und warfen ihm vor, ihr Geschäft kaputt zu machen, andere fragten ihn, wo denn die vielen Autos parken sollten. Damp wusste gar nicht, wie ihm geschah, und beteuerte wiederholt seine Unschuld. Er lief mit durch den Hafen und rief immer wieder, die Nachricht sei falsch, es kämen keine Autos auf die Insel. Die Leute lachten oder schüttelten mit mehr, aber oft auch weniger Mitleid den Kopf über den überforderten Inselpolizisten. Erst als die Fähre wirklich ohne Pkw an Bord kam, beruhigte sich die Lage. Nur einer hatte die ganze Zeit grinsend etwas abseitsgestanden, in seiner blauen Latzhose, mit der Pfeife im Mund und seiner alten Schiffermütze auf dem Kopf, und dem Treiben gelassen zugesehen: Malte Fittkau. Damp hatte Rieder nach seiner Rückkehr gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen und Fittkau zu überführen. Aber Rieder hatte natürlich abgewunken. Der steckte doch mit seinem Nachbarn unter einer Decke.

Nun also zerstörte ihm Rieder seine schöne Vormittagsruhe. Allerdings lächelte Damp still in sich hinein bei dem Gedanken, wie sich Rieder bei Westwind von der Seite, praller Sonne von oben und ohne Frühstück mit dem Fahrrad bis zum Enddorn gequält haben musste, während das Polizeiauto schön im kühlen Schatten des Rathauses stand.

Also auf zum Pfarrer. Damp stand auf, stopfte sein zerknittertes Uniformhemd in die Hose und versuchte mit den Fingern seinen strubbeligen Haaren so etwas wie eine Frisur zu geben. Dann stiefelte er aus dem Büro und stieg in seinen Streifenwagen, dessen Federn unter Damps Gewicht ächzten.

Eigentlich kam ihm die Sache mit dem Pfarrer ganz recht. Während der Vorbereitungen für die Preisverleihung und den Empfang hatte Schneider Damp immer von oben herab behandelt und ihn leicht belächelt, weil er viele Ehrengäste nicht kannte. Und gestern nach dem ganzen Aufstand – kein Wort des Dankes.

Zeit fürs Rückspiel. Der Pfarrer würde sich wundern. Wahrscheinlich hatte er besoffen nach der Feier sein Boot auf Grund gesetzt, war dann nach Hause getorkelt und schlief jetzt dort seinen Rausch aus. Damp würde ihn unsanft wecken.

Er parkte den Streifenwagen auf dem Parkplatz für die Pferdekutschen neben der Inselkirche in Kloster. Dann ging er zum Pfarrhaus, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Bevor er klingelte, fiel sein Blick auf den Spruch an der Häuserwand. Neben einem gemalten Segelschiff stand dort: „Gottes sind Wogen und Wind, aber Segel und Steuer sind Euer …“ Damp musste grinsen. Wie passend! Da hatte wohl der Pfarrer sich etwas zu viel auf die himmlischen Kräfte verlassen und dadurch Schiffbruch erlitten. Nach dem Läuten wurde sofort die Tür aufgerissen. Damp schaute in das entgeisterte Gesicht von Birgit Thurow. Drei Tage die Woche arbeitete sie als Küsterin im Hiddenseer Pfarramt.

Wie in Zeitlupe löste sich ihre Erstarrung. „Was wollen Sie hier?“

„Kann ich Herrn Schneider sprechen?“, fragte Damp und verwendete ganz bewusst nicht die Bezeichnung Pfarrer, denn hier ging es nicht um die Amtsperson, sondern um den Bürger.

Birgit Thurow schnäuzte sich. Wahrscheinlich hatte sie wieder Ärger mit ihrem Mann, dachte sich der Polizist. Manfred Thurow war Fischer, einer der letzten auf Hiddensee. Er galt als Eigenbrötler und seinen Frust über geringen Fang und niedrige Preise ließ er nicht selten an seiner Frau aus. Jedenfalls berichtete der Inselfunk regelmäßig über lauten Streit.

Birgit Thurow war auf Hiddensee geboren, aber nach der Schule nach Rügen gezogen. Sie hatte dort als Restauratorin gearbeitet. Als ihre Eltern Pflege brauchten, war sie nach Vitte zurückgekommen. In dieser Zeit waren sie und Thurow ein Paar geworden. Er war ihr Nachbar, alleinstehend und wohnte in einem alten Fischerhaus. Nach dem Tod der Eltern hatten sie geheiratet und sie war zu ihm gezogen. Ihr Elternhaus in Vitte hatten sie zu einem Ferienhaus umbauen lassen, um mit der Vermietung das Familien­einkommen aufzubessern. Doch da die Zinsen für den Baukredit kaum von den Einnahmen gedeckt wurden, musste sie sich auf der Insel eine Arbeit suchen. So hatte sie im Pfarramt als Küsterin angefangen, drei Tage die Woche. Für sie war es ein Glücksfall, denn die alte denkmalgeschützte Kirche gab ihr Gelegenheit, ihr Fachwissen als Restauratorin einzubringen und zu nutzen.

Birgit Thurow war eine der Wenigen auf der Insel, die Damp grüßten. Und so war ihm auch die Veränderung aufgefallen, die scheinbar ohne jeden äußeren Anlass mit Birgit Thurow passiert war. Bis vor einem Jahr galt sie eher als graue Maus. Frisur war ein Fremdwort für ihre Haare. Sie trug weite Pullover, formlose Jeans, Turnschuhe oder Gummistiefel, je nach Wetterlage. Doch in letzter Zeit hatten ihre langen braunen Haare die Bekanntschaft mit Lockenwicklern gemacht und wallten jetzt über ihre Schultern. Neben der transparenten weißen Bluse, durch die Damp jetzt einen Blick auf die Spitze ihres BHs werfen konnte, war für ein Pfarramt in jedem Fall die mangelnde Länge des eng geschnittenen grauen Rockes, der knapp über dem Knie endete, etwas gewagt. Ihre Füße steckten in hochhackigen Pumps, mit denen sie sicher nicht ohne größeres Unfallrisiko über die holprigen Straßen der Insel balancierte.

Mit leicht zitternder Stimme antwortete sie dem Polizisten: „Pfarrer Schneider ist nicht da.“

Der Anblick der attraktiven, wenngleich offensichtlich verstörten Frau verwirrte Damp. „Äh …“, stotterte er, „ist er in der Kirche?“

„Nein! Ich sagte doch schon, er ist nicht da. Auch nicht in der Kirche. Auch nicht auf dem Friedhof.“ Sie putzte sich noch einmal die Nase, bevor sie nachfragte: „Geht es noch um die Feierlichkeiten? Ist da noch etwas zu regeln?“

„Nein. Sein Boot ist auf Grund gelaufen. Am Enddorn.“

„Um Gottes willen …“, stieß sie hervor.

„Und außerdem muss das Boot da weg, liegt ja mitten im Natio­nalpark.“ Damp hatte nun auch seine Fassung zurückgewonnen und wurde wieder dienstlich. „Jedenfalls ist es verboten, in diesem Gebiet mit Motorschiffen zu ankern oder anzulegen. Herr Schneider muss mit einem empfindlichen Bußgeld rechnen. Es wäre gut, wenn er sich so schnell wie möglich bei mir melden würde. Die Nummer hat er ja. Wenn Sie ihm das ausrichten würden, sobald er nach Hause kommt?“

Birgit Thurow nickte und schloss dann ohne ein weiteres Wort die Tür.

IV

Rieder stapfte um das Boot herum. Die Schleifspuren am Kiel zeigten, dass es mit einiger Geschwindigkeit auf die Steine gefahren sein musste. Er klopfte an die Schiffswand. Es klang nicht wie Holz.

„Harzgetränkte Glasfaser“, meinte Thomas Förster vom Nationalpark. „Hoffentlich ist der Schiffsboden durch die Steine nicht aufgerissen worden. Dann säuft uns der Kahn ab, sobald wir ihn irgendwie auf See bekommen, und der ganze Diesel und noch mehr Öl plempern ins Wasser und versauen den Strand.“

Etwas abseits stand Dr. Preil mit einigen anderen frühen Strandgängern und stieß heftige Tiraden gegen die Bootsbesitzer aus. Dafür erntete er zustimmendes Nicken von den zumeist älteren Zuhörern. Früher sei doch alles viel besser und ruhiger gewesen. Da hätte auch die Polizei dafür gesorgt, dass hier keiner einfach am Strand anlege.

„Der nervt“, knurrte Rieder. Er hatte seine Hosen hochgekrempelt und wanderte im flachen Wasser um das gestrandete Schiff herum. „Ganz schön großes Schiff für einen Pfarrer“, bemerkte er.

Förster zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat er mit seinen Zeitungsartikeln nicht schlecht verdient. Warum soll er sich davon nicht ein Schiff kaufen. Der Kahn ist auch nicht mehr ganz taufrisch. Schätze frühe Sechzigerjahre.“

Rieder hörte nicht so richtig zu. Etwas an der Schiffswand auf der Steuerbordseite funkelte im Widerschein der Sonne und Wellen. Der Polizist trat näher heran. Es sah aus wie ein Metallplättchen. Aber Rieder kannte aus seiner Berliner Polizeivergangenheit diese Dinge ziemlich genau. Es war ein Projektil, das dort in der Schiffswand steckte. Vielleicht einen halben Meter daneben entdeckte er ein zweites. Sie mussten aus einiger Entfernung abgefeuert worden sein, wenn sie diese Kunststoffwände nicht durchschlagen hatten.

„Was ist?“, fragte Förster, der Rieder beobachtet hatte.

„Zwei Einschüsse.“

Rieder war noch einmal auf das Boot geklettert. Er durchstöberte die Kabine, die Kombüse, das Bad. Er schreckte zusammen, als erneut das nostalgische Telefonklingeln zu hören war. Unter einem Buch auf dem Tisch sah er das Leuchten des Displays. Zweiundzwanzig Anrufe. Der letzte war von Damp. Das sah er an der Nummer. Einer war von ihm selbst. Sechzehn Mal hatte sich die Mailbox gemeldet und vier Mal eine gewisse Birgit. Er wählte die Mailbox an. Nur eine Nachricht befand sich darauf. „Hier Birgit. Bist du schon losgegangen? Melde dich mal. Bis später.“

Die Stimme kannte Rieder von den Vorbereitungen der Preisverleihung. Sie gehörte Birgit Thurow, der Küsterin. Wahrscheinlich hatte Schneider das Fest verlassen, ohne sich von ihr zu verabschieden. Der Anruf führte also auch nicht wirklich weiter. Allerdings vermerkte er für sich die Zeit des Anrufs. Sonntag, 19.23 Uhr. Rieder stieg ins Führerhaus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Steuerrad der Zündschlüssel steckte. Er drehte den Schlüssel. Der Motor jaulte, aber sprang nicht an. Er schob die Tür auf und trat auf das Schiffsdeck. Sein Blick fiel auf einen feuchten roten Fleck auf den lackierten Planken. Er hockte sich hin. Rieder war sich sicher: Das war Blut. Da entdeckte er auch auf dem Rahmen des Fensters im Kabinendach dunkelrote Flecken. War auf Schneider geschossen worden und er verletzt oder vielleicht sogar tot ins Meer gestürzt? Wenn ja, wo war er oder vielmehr sein Leichnam abgeblieben?

Als er sich aufrichtete, sah er Damp den Strand entlangkommen. Rieder kletterte vom Boot.

„Also in der Kirche und im Pfarrhaus ist er auch nicht“, brachte Damp kurzatmig heraus, als er bei Rieder und Förster ankam. „Das habe ich schon überprüft. Mensch, ist das heiß.“

Rieder berichtete leise von den Einschüssen und den Blutspuren, damit die umstehenden Schaulustigen davon nichts mitbekamen. Förster und Damp rissen vor Schreck den Mund auf. Rieder versuchte, sie und sich selbst zu beruhigen. „Man muss nicht gleich das Schlimmste annehmen. Vielleicht ist er nur verletzt und hat bei jemandem auf der Insel Hilfe bekommen.“

Doch damit konnte er Förster und Damp offenbar nicht recht überzeugen.

„Er muss doch hier auf der Insel Bekannte oder Freunde haben. Wie lange ist er schon hier? Über zwanzig Jahre.“

Da schüttelte der Mann vom Nationalpark den Kopf. „Also ich bin auch schon eine ganze Weile hier. Aber der Schneider ist nicht so wohl gelitten.“

„Vielleicht ist er schon weiter draußen auf der Ostsee über Bord gegangen?“, warf Damp ein. Das könne man nicht von der Hand weisen, stimmte Rieder ihm zu.

„Dann kann es dauern, bis er wieder auftaucht“, bemerkte der Nationalparkmann trocken. „Bei dem ablandigen Wind landet er irgendwann in Dänemark.“

„Man könnte ein Suchflugzeug mit Wärmebildkamera einsetzen …“, schlug Rieder vor.

„Und wie lange soll das kreisen?“, meinte Damp skeptisch. „Die Ostsee ist doch nicht der Müggelsee.“

Rieder überhörte den kleinen Seitenhieb seines Kollegen. „Aber wir sollten Bökemüller anrufen.“ Der Stralsunder Polizeichef war auch extra zur Preisverleihung an Schneider nach Hiddensee gekommen. „Allerdings kann das Stress geben. Gestern wurde Schneider mit Tamtam ausgezeichnet, heute ist er verschwunden …“

 

„Da wird unser Chef nicht begeistert sein“, ergänzte Damp die Gedanken seines Kollegen. „Hoffentlich bleibt nicht was an uns hängen.“