Gellengold

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Gellengold
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Tim Herden

Gellengold

Ein Hiddensee-Krimi

mitteldeutscher verlag

Tim Herden, geboren 1965 in Halle (Saale), arbeitete nach dem Studium der Journalistik in Leipzig zunächst als wissenschaftlicher Assistent und Journalist, ehe er 1991 Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk in Dresden wurde. Heute ist er Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio Berlin. „Gellengold“ ist sein erster Krimi.

Handlungen und Figuren entspringen der Fantasie des Autors. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

2010

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverkag.de

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN: 978-3-95462-694-6

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Für

Kati und Marianne

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Selbst die Möwen fanden selten hierher, …

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

Selbst die Möwen fanden selten hierher, an den Südstrand. Nur ein paar Seeschwalben tobten sirrend wie Tiefflieger durch die Luft. Todesmutig stürzten sie sich senkrecht ins seichte Meer auf der Jagd nach verirrten Fischen im Flachwasser der Ostsee. Die Junisonne hatte das Meer aufgewärmt. Nun war sie mit rotem Schweif darin versunken. Ihre Spuren waren am Horizont noch zu sehen und nur langsam senkte sich die Dämmerung.

Er liebte diese Stimmung und auch die Einsamkeit um diese Zeit im Süden der Insel Hiddensee. Vielleicht noch bis zum kleinen Leuchtturm Gellen verirrten sich dann Touristen. Die Hiddenseer selbst hatten sich längst in ihre Häuser zurückgezogen. Der Sonnenuntergang im Meer war für sie so gewöhnlich wie das Anschlagen der Wellen am Strand.

Er hatte sein Fahrrad mit dem kleinen Anhänger mit an den Strand gezogen. Vorsichtig schaute er sich um, dass nicht doch noch der Naturparkwächter hier herumschlich auf der Suche nach irgendwelchen Vogelnestern. Nur der nahe Leuchtturm warf mit jeder Umdrehung immer weiter den Lichtkegel in seine Richtung.

Von der Sperre zum Nationalparkgebiet hatte er sechs Buhnen abgezählt. Hier zwischen der sechsten und siebten watete er in die Ostsee. Fünfzehn Meter musste er ins Wasser gehen. Da stieß er auf den ersten Stein, der ungefähr einen halben Meter unter der Wasseroberfläche sanft vom Meerwasser umspült wurde. Grüne Algen hatten sich angeheftet und ließen ihre Arme mit der Strömung treiben. Wenn er mit seiner Kopflampe in die Wellen leuchtete, glitzerte die Oberfläche des Steins. Er tauchte seine Hände ins Wasser und strich damit über den Stein. Das Wasser hatte die Kanten abgeschliffen in den letzten siebenhundert Jahren.

Er ging zurück zu seinem Fahrrad und löste die Plane vom Hänger. Ein kleiner Kompressor mit zwei Schläuchen kam zum Vorschein. Ein wenig sah das Gerät aus wie ein Staubsauger. Damit konnte man Fundstücke am Meeresboden von Sand und Schlick freispülen. Außerdem lag ein Unterwassermetallsuchgerät in dem Wagen. Er hob beide Gerätschaften heraus, hängte sie sich über die Schultern und ging wieder ins Wasser. Dort schaltete er das Metallsuchgerät ein und setzte sich einen Kopfhörer auf. Nur ein leises Brummen war zu hören, während er mit der Sonde den Meeresboden abschwenkte. Je weiter er vorwärtsging und mit der Stirnlampe den Meeresboden ableuchtete, desto deutlicher zeigte sich der Stein als Teil einer alten Mauer oder eines Fundaments, das in den Sandbänken versunken war. Plötzlich hörte er ein kurzes Klicken im Ohr. Er schaltete das Metallsuchgerät aus und begann mit dem Unterwasserstaubsauger den Sand abzusaugen. In einem grobmaschigen Netz fingen sich Kiesel und Muscheln, der Schlick und Sand wurden durchgepustet, zurück ins Meer.

Gebückt fächelte er mit der Hand den aufgewühlten Meeresboden vorsichtig in das Rohr. Mit den Händen tastete er immer wieder den schlammigen Boden neben den groben Felssteinen ab. Er kniete sich hin. Das Meer versank langsam in der Dunkelheit. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er die Positionslichter eines Schiffes kurz vor den Tonnen der Fahrrinne nicht bemerkte. Auch nicht den kurzen Blitz auf dem Boot, als sich der Lichtschein des Leuchtfeuers Gellen in den beiden Okularen eines Fernglases spiegelte. Er stand wieder auf, schaltete den Unterwasserstaubsauger ab. Hatte er wirklich ein Klicken im Kopfhörer gehört? Noch einmal fuhr er mit der Sonde den Boden ab. Im Kopfhörer tickte es wieder.

Er hörte nicht, wie sich eine Person durch das flache Wasser vorsichtig von hinten näherte, den Arm hob und ihn blitzschnell auf seinen Rücken niederfahren ließ.

Ein Schlag durchzuckte seinen Körper. Ruckartig richtete er sich auf, spürte zugleich, wie seine Kraft plötzlich schwand. Er verlor das Gleichgewicht, griff sich ans Herz, fühlte den warmen feuchten Fleck und wie jeder Pulsschlag Blut aus ihm herauspumpte. Dann brach er im Wasser zusammen. Er schaute in die dunklen Augen seines Mörders, der immer noch wie erstarrt neben ihm im Wasser stand. Sagen konnte er nichts mehr.

Seine Hände verkrampften sich im nassen Sand neben der Mauer im Wasser. Etwas Kühles, Glattes, ein Stück Metall griff seine rechte Hand im Todeskrampf. Als Letztes schmeckte er das Salz der Ostsee. Wind kam auf. Landeinwärts.

I

Stefan Rieder schaute auf die blühenden Heckenrosen. Sie hatten den schmalen Lattenzaun längst überwuchert. Eine Pferdekutsche mit gelber Plastikplane fuhr in leichtem Galopp vorbei über den brüchigen Beton des Wiesenweges. Ihr Ziel war der Hafen von Vitte. In einer Viertelstunde würde die erste Fähre mit Touristen von Rügen einlaufen. Dann wäre es 9.15 Uhr.

Nach der Kutsche konnte Stefan Rieder die Uhr stellen. Sie eilte seit Saisonbeginn zu Ostern jeden Morgen ihrem Ziel entgegen. Immer zur gleichen Zeit. Ob bei Sonne, Sturm oder Regen. Egal. Hier auf Hiddensee folgte das Leben der Einheimischen den An- und Ablegezeiten der Fähren von Schaprode und Stralsund. Fiel ein Schiff aus, kam auch gleich der heimliche Tagesablauf auf der Insel durcheinander. Und wie auch immer, die Nachricht von einem Motorschaden auf einer Fähre oder einem Ausflugsschiff verbreitete sich so schnell wie ein Lauffeuer.

Heute aber ging alles seinen Gang. Denn wie Rieder so versonnen eine halbe Stunde später immer noch aus dem Fenster auf den Wiesenweg blickte, kam vom Hafen her das kleine Elektromobil mit dem Hänger für die Post. Die Fähre war also pünktlich gewesen. Jetzt musste es 9.30 Uhr sein, denn das Ausladen der Transporthänger vom Schiff an Land dauerte immer so zehn Minuten. Die Fahrt hierher, zum alten Postgebäude nebenan, fünf. Und der Blick auf die alte Uhr bewies Rieder – es war Punkt 9.30 Uhr.

Rieder hatte dagegen noch nicht so richtig seinen Lebensrhythmus hier auf der Insel gefunden. Vor zwei Monaten war er mit drei Koffern in Vitte angekommen. Während die Urlauber von den Pensionsbesitzern und Ferienhausverwaltungen schon am Hafen mit Wagen abgeholt wurden, wartete auf Rieder niemand. Er hatte nur eine Adresse und einen Namen: Malte Fittkau. Bei ihm sollte er sich melden und dort den Schlüssel für seine neue Bleibe bekommen. Übers Internet hatte er ein Kapitänshaus gemietet. Als er dann seine Koffer bis in den Wiesenweg gebuckelt hatte, entpuppte es sich weniger als repräsentatives Objekt, sondern vielmehr als gemütliche Kate mit Schilfdach, versteckt hinter einer gewaltigen wilden Rosenhecke. So konnten Bilder im Internet lügen, aber für Rieder war es Liebe auf den ersten Blick. Das würde ein idealer Rückzugsort sein.

 

Malte Fittkau wohnte auf dem Nachbargrundstück und betrieb dort mit seinem Bruder Holm verschiedene Ferienobjekte. Einen Zaun oder eine Hecke gab es nicht und die erste Begegnung mit Malte hatte Stefan Rieder schon einiges über die Mentalität der Hiddenseer erfahren lassen. Reden war nicht Maltes Sache. Er hatte Rieder angeschaut, als würde er auf etwas warten. Seinem Aufzug aus Schifferhemd, Hose, Stiefel – und nicht zu vergessen den Hosenträgern – hatte eigentlich nur noch die Pfeife im Mundwinkel gefehlt, um das Klischee vom Fischer abzurunden. Ihr erstes Gespräch, wenn man es überhaupt so nennen konnte, hatte aus zwei Sätzen bestanden: »Hier sind die Schlüssel. Wo’s steht, haben Sie ja gesehen.«

Innen strahlte das Haus Gemütlichkeit aus. Unten gab es eine große Stube, eine kleine Küche und eine Kammer mit Waschbecken. Oben unterm Dach ein Schlafzimmer, vom dem ein kleiner Verschlag abgeteilt war, in dem ein Stoffkleiderschrank stand. Es war alles nett eingerichtet mit alten Möbeln. Rieder hatte in das Haus geschaut und sofort seinen Lieblingsplatz erkannt: in der Stube, auf der Eckbank am Esstisch mit dem Blick aus vier Fenstern auf den Wiesenweg von Vitte. Es war eine Art Hochsitz. So waren eben Polizisten. Beobachten war ihr Geschäft.

Auf einem Zettel hatte Rieder genaue Anweisungen gefunden. Erst einmal hatte er die Sicherungen einschalten, dann das Wasser anschließen müssen. Dazu gab es vor dem Haus eine abgedeckte Grube. Natürlich waren Wasseruhr und Ventile überspült vom Grundwasser. Nach einer halben Stunde des Schöpfens hatte endlich alles freigelegen, doch die Hähne waren nicht zu bewegen. Rieder hatte gerüttelt und sich die Finger wund gedreht, als er vor Schreck fast in die Grube gefallen wäre. Wie aus dem Nichts hatte plötzlich eine Stimme gesagt: »Ich könnte Ihnen auch eine Zange borgen.«

Als Rieder sich umdrehte, stand Malte Fittkau hinter ihm und hielt ihm schon eine Rohrzange entgegen. Während Rieder die Absperrhähne öffnete, ging Fittkau ins Haus und drehte die Wasserhähne auf, ließ das Wasser laufen, kam wieder heraus, bemerkte: »Wasser läuft. Duschen können Sie bei mir. Eine Duschmarke kostet zwei Euro.« Damit hatte er seine Zange genommen und war verschwunden. Rieder hatte ihm noch »danke« hinterhergerufen, ohne dass Fittkau sichtbar reagiert hatte.

Das war im April gewesen. Jetzt im Juni stand die Insel in voller Blüte. Hier in Vitte dominierte das Rosa der Röschen. Am Deich zum Bodden leuchteten die roten Blütenblätter des Mohns. Das Hochland hinter Kloster, der Ortschaft im Norden der Insel, erstrahlte im Gelb des blühenden Ginsters. Nachdem der Mai kalt und ungemütlich auf der Insel gewesen war, wärmte seit Tagen die Sonne die Luft und die Ostsee. Das Meer lud mit überraschend lauem Wasser zum ersten Badevergnügen ein. Eigentlich musste sich Rieder langsam auf den Weg machen zum Revier im Rathaus. Dort tat er seit zwei Monaten Dienst neben dem Hauptwachtmeister Ole Damp. Rieder in Zivil, Damp in Uniform. Rieder hatte zuvor als Ermittler in Berlin gearbeitet, doch nun wollte er nur noch Ruhe. Auch war er gesundheitlich nicht mehr so ganz auf dem Posten. Stress und Angst hatten ihren Tribut gefordert. Da war ihm die Stellenausschreibung der Polizeidirektion Stralsund wie ein Wink des Schicksals erschienen. Für Hiddensee suchte man einen Zivilbeamten, der sich der Urlauberbetreuung und Verbrechensvorbeugung widmen sollte.

Seine Hoffnung hatte sich erfüllt. Statt in verrauchten Berliner Kneipen Dealer oder Zuhälter zu observieren, spazierte er nun über die Inselstraßen und den Strand, machte Touristen darauf aufmerksam, auf ihre Wertsachen zu achten, wies auch schon mal den einen oder die anderen darauf hin, wo die unsichtbare Grenze zwischen Textil- und FKK-Strand verlief. Rieder glaubte, im Polizistenparadies angekommen zu sein, denn die Kriminalstatistik dieser Insel beschränkte sich auf Fahrraddiebstähle und Mundraub an Kirschen und Pflaumen. Höhepunkt war laut Aktenbestand des letzten Jahres eine versuchte Vergewaltigung. Allerdings hatte die betroffene Dame den Slip noch bereitwillig abgelegt, bevor sie sich überlegte, ihren Verehrer doch abzuweisen. Das Verfahren wurde eingestellt. Alles wäre perfekt gewesen, wenn nicht noch Hauptwachtmeister Ole Damp zum Polizeiposten Hiddensee gehört hätte. Damp war ein richtiger Hüne, über eins neunzig, hatte allerdings mit den Jahren auch ganz schön über den Hüften ausgelegt. Sein Gang war schlaksig und wenn er durch die Straßen von Hiddensee patrouillierte, kam seine Uniform schnell in Unordnung. Besonders das Hemd rutschte dann immer wieder aus der Hose.

Die Verkehrssicherheit der Fahrräder auf der Insel und deren ordnungsgemäße Beleuchtung waren mangels sonstiger Fälle Damps große Leidenschaft, zum Spott der Insulaner. Für die waren die Fahrräder auf der autofreien Insel ein Gebrauchsgegenstand, die nur eine Voraussetzung zu erfüllen hatten: nämlich fahren. Falls es funktionierte, auch mit Licht. Ansonsten ohne. Und das war der Normalfall.

Es kam nicht selten vor, dass an den Skattischen der Insel der Verlierer verpflichtet wurde, am nächsten Morgen sein Fahrrad Damp vorzuführen. Der nahm die Sache auch wirklich ernst, wenn wieder jemand an die Bürotür klopfte und meinte, er wolle gern mal seinen Drahtesel auf Verkehrssicherheit überprüfen lassen. Der untersetzte Wachtmeister stand dann auf, straffte die Uniform, setzte seine Sonnenbrille auf und marschierte, jawohl, marschierte nach draußen und dort um das Fahrrad herum. Unter dem fernen Gelächter der Skatbrüder ließ er sich die Funktionstüchtigkeit von Licht und Bremsen vorführen, nickte kurz, wenn alles okay war, oder griff in seine Brusttasche und schrieb einen Zahlungsbeleg aus, wenn nicht. Von denen war bisher allerdings keiner bezahlt worden, sondern sie hingen wie früher das beste Skatblatt an den Wänden über den Stammtischen der Hiddenseer Kneipen.

Damp war nicht gerade begeistert gewesen von seinem neuen Kollegen, dem Kriminalhauptkommissar Rieder, auch weil noch nicht entschieden war, wer zukünftig die Dienststelle Hiddensee leiten würde, Damp oder Rieder. In Stralsund wollte man erst einmal sehen, was bei diesem Versuch herauskäme. Damp jedenfalls setzte viel daran, Rieder das Leben auf der Insel nicht gerade angenehm zu machen. Mit kleinen Schikanen piesackte er den ungeliebten Neuen. Mit der Begründung, Rieder hätte noch keine Betriebsfahrerlaubnis für Mecklenburg-Vorpommern, nahm sich Damp das Recht, allein den Dienstwagen zu benutzen. Rieder musste, wohl oder übel, per Dienstfahrrad die Insel überqueren und war dabei gleich am zweiten Abend mit Damp aneinandergeraten. Als Rieder von einer Kontrollfahrt in der Dämmerung von Neuendorf nach Vitte zurückgeradelt war, war plötzlich Damp auf Höhe der Ferienanlage »Heiderose« aus dem Gebüsch gesprungen.

»Hauptwachtmeister Damp. Würden Sie bitte anhalten?«

Rieder hatte gebremst und gefragt, was los sei.

»Sie fahren ohne Licht! Das ist ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung.«

»Na okay, dann mache ich es eben jetzt an.«

»So einfach geht das aber nicht. Ich muss gegen Sie ein Bußgeld von zehn Euro verhängen.«

Rieder war etwas verstört von diesem Auftritt seines Kollegen. Damp solle doch nun mal nicht übertreiben. Aber dieser hatte sich weder aus der Ruhe, noch von seinem Vorhaben abbringen lassen.

»Auch Sie sind ein Bürger wie jeder andere und haben sich an die Verkehrsregeln zu halten. Wir sind hier nicht in Berlin, wo es vielleicht mit Ordnung und Sicherheit etwas laxer genommen wird. Also bitte, bezahlen Sie das Bußgeld sofort oder soll ich Ihnen einen Zahlungsbeleg ausstellen?«

Rieder hatte seine Geldbörse aus der Hose gekramt, zehn Euro rausgezogen und sie Damp in die Hand geklatscht. Dann war er wieder aufs Rad gestiegen und wutentbrannt davongefahren.

Über diesen Vorfall hatten sie zwar nie wieder ein Wort verloren, aber das zwischenmenschliche Klima im kleinen Büro der Polizeistation war seitdem auf den Gefrierpunkt gesunken. Dabei hätte Damp ganz gut etwas moralische Unterstützung gebrauchen können. Die Insulaner mochten ihn nicht, weil er keiner von ihnen war, sondern von Rügen kam. Und mit der Nachbarinsel und ihren Bewohnern verband die Hiddenseer eine regelrechte Hassliebe.

Rieder zog es also nicht besonders ins Büro. Aber bevor er heute den Norden der Insel umrunden wollte, um die Trittsicherheit der Treppenstufen am Steilufer zu prüfen, musste er sich bei Damp wenigstens kurz melden, falls noch etwas anderes zu tun anstand. Er räumte den Frühstückstisch ab, und wie er das Geschirr in das kleine Abwaschbecken stellte, sah er den Hiddenseer Polizeiwagen inklusive Damp und Blaulicht in hohem Tempo in Richtung Neuendorf vorbeifahren. Was war da los? Damp übertrieb zwar immer mal mit seiner Einsatzbereitschaft und ließ gern den Sheriff raushängen, aber das war nicht unbedingt seine Art und auf Blaulicht hatte er bisher auch immer verzichtet. Rieder ging hinaus und pumpte noch kurz sein Rad auf. Er winkte Malte Fittkau, der gerade seinen Rasen stutzte, und schob sein Rad zum Gartentor, da klingelte sein Telefon.

»Hallo.«

»Hier Damp. Kommen Sie schnell zum Strandabschnitt südlich des Leuchtturms Gellen, so kurz vor der Grenze zum Nationalpark. Es ist etwas passiert.«

»Ja was denn?«, fragte Rieder genervt zurück, aber Damp hatte schon aufgelegt.

Schöner Mist. Bei der Sonne jetzt nach Neuendorf. Rieder setzte sein Basecap auf, um seine schüttere Haarpracht, um nicht zu sagen Glatze, vor der Sonne zu schützen. Dann schwang er sich auf sein Rad und machte sich in Richtung Neuendorf auf den Weg. Am Deich hinter Vitte überholten ihn der Krankenwagen aus Kloster, ebenfalls mit Blaulicht, und der Arzt mit seinem Jeep. Es musste also wirklich etwas passiert sein. Vielleicht war jemand ertrunken oder hatte sich verletzt beim Baden? Hinter Neuendorf wurde der Weg sandig, und da es schon Tage nicht geregnet hatte, ließ sich das Rad schwer durch den staubigen Untergrund manövrieren. Hinter dem Leuchtturm Gellen sah Rieder schon den Streifenwagen mit rotierenden Blaulichtern und den Krankenwagen am Strandübergang stehen. Er sprang vom Rad.

Unten am Wasser standen Damp, der Arzt und die Sanitäter. Sie beugten sich über einen offenbar leblosen Körper im Sand. In einigem Abstand waren die ersten Strandgänger versammelt und beobachteten neugierig die Männer. Rieder tippte Damp auf die Schulter. »Was ist hier eigentlich los?«

»Ein Toter am Strand!«

»Und! Ist er ertrunken oder …«

»Ich schätze, er ist ermordet worden. Auf seinem Rücken klafft eine breite Wunde. Könnte von einem Messer stammen.«

Rieder blickte auf den Toten, hockte sich hin.

»Gibt es Papiere, einen Ausweis oder so etwas?«

»In seinen Taschen haben wir nichts gefunden.«

Die schwarzen Haare des Mannes waren noch nass und von Sandkörnern durchsetzt. Das karierte Hemd klebte an seinem Körper. Ohne Handschuhe wollte Rieder die Leiche nicht anrühren.

»Können Sie mal ein Paar Latexhandschuhe aus dem Polizeiwagen holen? Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die wenigen Spuren verwischen, die uns das Wasser noch gelassen hat. Alarmieren Sie die Spurensicherung von Stralsund. Die sollen so schnell wie möglich herkommen.«

Damp schnaufte.

»Ich bin doch nicht ihr Laufbursche …«

Rieders Blick brachte Damp zum Schweigen. »Jetzt nicht. Wer hat die Leiche überhaupt gefunden?«

Damp zeigte auf einen Mann in grüner Uniform. Rieder erkannte in ihm einen der Nationalparkwächter. Sein Name war Gerber. Rieder hatte schon einmal mit ihm zu tun, als er in der Heide ein totes Reh entdeckt hatte. Gerber war gekommen, um es wegzuschaffen.

Rieder ging zu ihm hin, während Damp zum Streifenwagen eilte, so schnell es ihm sein massiger Körper erlaubte.

»Sie haben den Mann gefunden?«

Gerber hob etwas die Schultern, als würde er frösteln. »Ja! Er trieb da im seichten Wasser. Ich kam grade vorbei, wollte zum Sperrgebiet, die Nester am Strand kontrollieren. Da sah ich ihn liegen. Ich bin gleich hingerannt, aber der war tot. Das hab ich gleich gesehen. Ich hab ihn dann weiter hoch an Land gezogen und Damp angerufen.«

»Haben Sie sonst noch was bemerkt?«

»Erst dachte ich, er wäre vielleicht angetrieben worden. Vielleicht besoffen von einem Segler gefallen. Aber dann sah ich das Rad da stehen.« Rieder sah es jetzt auch. Inzwischen kam auch Damp wieder zurück. »Die Stralsunder machen sich auf den Weg. Sie werden mit dem Boot in einer Dreiviertelstunde hier vor Ort sein.« Er reichte Rieder die Handschuhe.

 

Beim Überziehen meinte er: »Wir sollten den Strandabschnitt sperren, mindestens zwei Strandabgänge von hier nach Norden und Süden. Oder was meinen Sie?«

»Ich kümmere mich mal drum«, klang Damp etwas versöhnlicher und begann die Schaulustigen vom Strand wegzutreiben. Rieder wandte sich an einen der Sanitäter. »Können Sie mir mal helfen, den Mann umzudrehen?«

Vorsichtig legten sie den Toten auf den Bauch. Da sah auch Rieder den Riss im Hemd.

»Doktor Müselbeck, was schätzen Sie, wie lange er schon tot ist?«

»Ich bin zwar kein Pathologe und dann ist es immer schwer, bei einer Wasserleiche den genauen Todeszeitpunkt festzulegen, aber nach der ersten Untersuchung würde ich sagen, noch vor Mitternacht, vielleicht so gegen 22 oder 23 Uhr.«

Rieder fiel auf, dass die rechte Hand zur Faust geballt war, aber nicht völlig geschlossen. Und es schimmerte etwas durch die Finger.

»Was hat er da in der Hand?«

Müselbeck versuchte die Faust zu öffnen. Etwas Goldenes wurde sichtbar. Er nahm es aus der Hand und gab es in eine kleine durchsichtige Plastiktüte, die ihm Rieder entgegenhielt.

»Es scheint so etwas wie eine Münze zu sein.«

»Das ist eine Münze«, meinte Müselbeck, »mein Vater hat mal solche Dinger gesammelt.«

»Und ist die wertvoll?«

»Schwer zu sagen, ich hab mich nicht dafür interessiert, aber alt ist die bestimmt, ziemlich alt.«

Rieder steckte das Beweisstück in die Jackentasche und wandte sich dem Rad zu. Ein grau-grünes Herrenrad, Marke Diamant, noch aus DDR-Zeiten. Er hatte als Kind selbst solch ein Rad besessen. Es musste mindestens dreißig Jahre alt sein, wenn nicht noch älter, denn Rieder erinnerte sich, dass er es von seinem Bruder geerbt hatte. Und der war zwölf Jahre älter als er. Anfassen wollte es Rieder nicht, bis die Spurensicherung aufgetaucht war. Vielleicht war ja da noch etwas rauszuholen.

Damp hatte die Strandzugänge mit Band abgesperrt und kam nun durch den Sand zurückgestapft.

»Alles okay. Ich habe die freiwillige Feuerwehr herangeholt. Die kontrollieren jetzt die Zugänge, damit hier keiner herkommt.«

»Gute Idee. Vielleicht nehmen wir, bis die Kollegen aus Stralsund eintreffen, die Aussage von Herrn Gerber auf.«

»Ich hole mal den Laptop aus dem Auto.«

Rieder riss die Augen auf. »Welchen Laptop?«

»Na für operative Einsätze haben wir natürlich einen Laptop an Bord, für Aussagen oder Kennzeichenabgleiche.«

»Aha.« Eigentlich wollte Rieder Damp fragen, warum er erst jetzt erfuhr, dass das Revier hier auf Hiddensee über einen Laptop verfügte, andererseits stellte er sich vor, wie viele Kennzeichen bereits auf der autofreien Insel per Laptop abgefragt worden waren.

Während er noch den Kopf schüttelte über seinen Kollegen Damp, fragten die Sanitäter, ob sie noch gebraucht würden. Und auch Müselbeck meinte, er müsse sich eigentlich mal wieder seinen Patienten zuwenden, die in der Praxis in Vitte auf ihn warten würden.

»Ich werde euch hier noch brauchen, auch um die Leiche abzutransportieren.«

»Wir sind aber kein Bestattungsunternehmen. Da sollen die mal einen von Rügen rüberschicken.«

»Wie läuft das denn, wenn hier auf der Insel sonst jemand stirbt?«

»Dann kommt der Sarg aus Rügen und mit der Kutsche geht es in die Kapelle auf dem Friedhof in Kloster. Aber wir haben damit nichts zu tun. Und so wie der aussieht, macht der uns nur den ganzen Wagen dreckig. Die Arbeit, die Kiste wieder sauber zu kriegen …«

Rieder merkte, wie er schlechte Laune bekam. Müselbeck zuckte bei den Worten des Sanitäters nur resigniert mit den Schultern.

»Ihr wartet auf alle Fälle, bis die Kollegen aus Stralsund hier sind und wir entschieden haben, wohin die Leiche gebracht wird«, erwiderte Rieder leicht gereizt auf den Klagegesang der Sanitäter.

In diesem Moment klingelte Rieders Handy.

»Hallo, Rieder hier.«

»Polizeiinspektion Stralsund, Moment bitte, ich verbinde Sie mit dem Leiter der Dienststelle, Herrn Bökemüller.«

Bökemüller hatte Rieder eingestellt. Er war zunächst nicht sehr überzeugt gewesen von Rieders Bewerbung, aber dann nach einem ersten Gespräch hatte er es eigentlich ganz gut gefunden, dass Rieder zwar aus der Großstadt kam und somit die Eigenheiten der Menschen kannte, die die Ostseeküste als Touristen besuchten, ihm aber andererseits auch Rügen und Hiddensee durch eigene Urlaubsreisen nicht ganz fremd waren.

»Hallo, Rieder!«, meldete sich Bökemüller mit seiner ruhigen und bedächtigen Stimme am Telefon, »Ihnen folgt wohl das Verbrechen von Berlin nach Hiddensee?«

Was sollte Rieder darauf antworten?

»Mir liegt die Meldung vom Kollegen Damp vor, dass am Strand südlich von Neuendorf eine tote Person aufgefunden wurde, wahrscheinlich das Opfer eines Gewaltverbrechens.«

»Ja, das ist richtig. Der Mann ist offenbar erstochen worden, meint der hiesige Arzt nach einer ersten Untersuchung, wahrscheinlich letzte Nacht.«

»Identität?«

»Konnten wir noch nicht klären. Der Mann hatte keine Papiere bei sich. Am Strand findet sich nur noch ein Fahrrad. Wir nehmen an, dass es ihm gehört.«

»Hm, ich habe die Kollegen der Spurensicherung zu Ihnen in Marsch gesetzt. Aber mehr Unterstützung kann ich Ihnen nicht bieten. Wie Sie wissen, laufen hier die Vorbereitungen für den Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten auf Hochtouren und Mann und Maus sind damit beschäftigt, Kanaldeckel zu kontrollieren und die Fenster an der Protokollstrecke zu versiegeln. Und auf Rügen habe ich alle Kollegen ohne Kinder in den Urlaub geschickt, damit wir dann zur Hochsaison genügend Leute zur Verfügung haben. Sie müssen also erst mal allein klarkommen. Sie haben ja auch noch Damp.«

Rieder kannte solche Sätze aus Berlin zur Genüge. Entweder Staatsbesuch oder Loveparade, immer fehlten Kollegen, wenn es um die Überwachung von Verdächtigen ging. Hängen blieb es an den Kriminalbeamten, die aber zugleich in Aktenbergen und Bürokratie ertranken. Doch was sollte er jetzt jammern. Es war immerhin mal wieder ein Fall.

»Okay, alles klar. Wir versuchen zunächst, die Identität des Mannes zu klären und eine Witterung aufzunehmen.«

»Halten Sie mich auf dem Laufenden. Wenn der Zirkus hier vorbei ist, schicke ich Verstärkung. Versprochen.«

Rieder erinnerte sich schwach, in der Zeitung gelesen zu haben, dass der Staatsbesuch erst Anfang Juli stattfinden sollte. Bis dahin waren es noch zwei volle Wochen. Er schüttelte den Kopf. Bökemüller konnte es ja nicht sehen.

»Dann kann man es nicht ändern. Was sollen wir mit der Leiche machen?«

»Klären Sie das mit der Spurensicherung. Aber ich würde vorschlagen, sie in die Rechtsmedizin Greifswald zu bringen. So viele Tötungsverbrechen haben wir hier oben nicht, die machen das dann immer für uns. Ich sag dort Bescheid, dass eine Lieferung in Anmarsch ist. Also bis dann und viel Glück. Sie kriegen das schon hin«, meinte Bökemüller und setzte nach einer kurzen Pause und nicht ohne einen süffisanten Unterton hinzu: »Sie sind doch ein Mann mit Erfahrung.«

Bökemüller legte auf und Rieder steckte mit einem kurzen Seufzer das Handy in seine Jackentasche. Damp hatte inzwischen begonnen, die Aussage von Peter Gerber aufzunehmen, nachdem er zuvor die Sanitäter mehr angewiesen als gebeten hatte, den Toten mit einer Plane abzudecken. Mit einem weiteren Murren hatten sie den Auftrag erledigt.

Rieder gesellte sich zu Damp und Gerber, die sich etwas abseits in den Sand gesetzt hatten. Der Nationalparkwächter ließ sich von dem Dorfpolizisten jedes Wort aus der Nase ziehen. Damp hämmerte mit Zweifingersuchsystem die Angaben in den Laptop. Als Rieder neben beiden stand, schaute Damp auf.

»Herr Gerber hat den Toten vorher auch noch nie hier gesehen, obwohl er jeden Tag zweimal hier vorbeikommt.«

Gerber hob wieder, wie zur Bestätigung, fast unscheinbar die Schultern. Erst schien es, als wollte er anfangen zu sprechen. Dann blieb er aber doch stumm.

»Tja, da kann man wohl nichts machen«, meinte Damp, »Sie können gehen. Die Vögel werden schon auf Sie warten. Aber am Nachmittag müssten Sie im Revier vorbeikommen und Ihre Aussage unterschreiben.«

Rieder nickte. Nachdem sich Gerber in Richtung Nationalparkbarriere aufgemacht hatte, erzählte er Damp von seinem Gespräch mit Stralsund.

»Unterstützung können wir von da erst mal nicht erwarten. Wir sind auf uns angewiesen.«

»Wir sind doch keine Kriminalbeamten«, wandte Damp ärgerlich ein, »ich jedenfalls nicht«, setzte er noch als kleinen Hieb gegen seinen Kollegen nach.

»Wir sind allerdings auch nicht nur dazu da, Leute ohne Licht am Fahrrad aufzuschreiben«, konterte Rieder.

Damp, sichtlich getroffen, brauste auf. »Was soll denn das heißen? Wollen Sie sich über mich lustig machen?«

Rieder winkte ab, obwohl er wusste, dass er jetzt auf Damp angewiesen war, denn allein konnte er hier auf der Insel nicht viel ausrichten.

»Ich meinte ja bloß, dass Sie als Polizist Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen sollen. Wir können damit beginnen, rauszukriegen, wer der Mann ist, wo er gewohnt hat. Das würden wir bei einem angespülten Toten auch tun. Dort kommt übrigens die Spurensicherung.«

Auf der Ostsee näherte sich ein Schnellboot der Wasserschutzpolizei mit Blaulicht. Die Gischt schlug an den Bordwänden empor. Während Rieder durch Winken versuchte, die Männer an Bord an den Fundort der Leiche am Strand zu lotsen, zog Damp eine Signalpistole aus seinem Gürtel und schoss eine rote Kugel in den Himmel. Sofort nach dem Signal bremste das Schiff und lenkte in ihre Richtung. Rieder konnte sich wieder einmal nur wundern über seinen Kollegen.