Welt als Körper

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Welt als Körper
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Thomas Erthel

Welt als Körper

Die Darstellung von Ganzheit bei Swift, Voltaire und Melville

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8662-5 (Print)

ISBN 978-3-7720-0103-1 (ePub)

Inhalt

  Danksagung

  I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“

  II Theoretische Konzepte und Fragestellungen

 1 Das expandierende Welt-System1.1 Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit

  2 Darstellung von Ganzheit 2.1 Blickperspektiven 2.2 Unsichtbarkeit und Paranoia 2.3 ‚Welt‘ und Literatur 2.4 Körper und Ganzheit

  III Lektüren

  1 Präliminarien: „Die Welt, sage ich, ist eine Muschel“

 2 Jonathan Swifts Gulliver’s Travels2.1 Prolog: Ideenimport aus den Kolonien (A Modest Proposal)2.2 Hinführung: Ganzheit in den vier Teilen der Travels2.3 Bezüge auf die Erde2.3.1 Paratextuelle Reflexion auf Reiseliteratur2.3.2 Lokalisierung der ‚Nationen‘2.3.3 Kartografischer Maßstab und „Erzählprojektion“2.4 Parodien politischer Körper und Figuren der Ganzheit2.4.1 „Golbasto“: Ein globaler Leviathan?2.4.2 Politische Körper jenseits des Königskörpers2.5 Erdumspannender Kolonialismus2.5.1 Die Rolle der Yahoos im kolonialen Kontext2.5.2 „This whole Globe of Earth“: Kompression und kolonialer Konsum2.6 Die Außenperspektive auf Ganzheit2.6.1 Der Globus und die Sicht der Herrscher2.6.2 Die blinde Außenperspektive der Kolonialherren2.7 Schluss: Yahoos in der englischen Heimat

 3 Voltaires Candide ou l’Optimisme3.1 Prolog: Eskalierende Außenperspektive (Micromégas)3.2 Hinführung: Die ‚bestmögliche Welt‘ und das Welt-System3.3 Gute Welt, schlechte Erde?3.4 Einsheit der Ganzheit3.4.1 Vergrößerung der Bezüge und erhöhtes Erzähltempo3.4.2 „Sur ce globule“: Die komprimierte Ganzheit3.4.3 Verkettet-Sein der Ganzheit3.4.4 Synchronität der Ganzheit3.5 Asymmetrie der Ganzheit3.5.1 Die Ganzheit und die Neue Welt3.5.2 „Paradis terrestre“: Optimismus und Welt-Handel3.5.3 „Étendu par terre“: Der Sklavenkörper und das Ganze3.5.4 Der koloniale Zusammenhang als Krankheit3.6 Schluss: „Petite terre“ oder „globule“?

 4 Herman Melvilles Moby-Dick; Or, the Whale4.1 Hinführung: Schiff, Wal, Welt, und Walfanggründe4.2 Das Schiff, die Crew und die Ganzheit4.2.1 „Water-Gazers“: Die Figur der Ganzheit ‚world‘ und ihre Sichtbarkeit4.2.2 Zwischen Staatsmetaphern und einer ‚Welt im Kleinen‘4.3 Tiere, Menschen und die Ganzheit4.3.1 „Mitten durchs Tier“: Beschreibung und Vermessung großer Tiere4.3.2 „Die Welt ist Jagd“: Walkunde, Waljagd und die Tiefe4.3.3 Vortex: Der menschliche Körper als Himmelskörper4.4 Japan und die Jagd nach Moby Dick4.4.1 „World-watching“: Zur ‚Öffnung‘ Japans4.4.2 „Circumnavigating“: Die Ost-Ausrichtung der Pequod4.4.3 „Ah, the world!“: Kolonialismus und Walfang4.4.4 „Level by nature“: Lokalisierung des Weißen Wals4.4.5 „Dismasted“: Der versehrte Körper und der Welt-Markt

  IV Schluss: „The Earth reeking with the Blood of its Inhabitants“

  Literaturverzeichnis

  Register

Für S.

Danksagung

Wissenschaftliche Arbeit findet nicht im Vakuum eines Elfenbeinturms statt, sondern sie produziert stattdessen äußerst konkrete Probleme und Aufgaben, deren Bewältigung mir ohne die Hilfe von großzügigen Menschen, die mir ihre Gesellschaft, Zeit und Unterstützung geschenkt haben, unmöglich gewesen wäre. Mein persönlicher Dank dafür gilt Peter, Tobias, Nora, Petra, Valentin, Philipp, Brigitte Rath, Agatha, meinen Eltern Mira und Klaus, Daniel, Emidio und Sema.

Das Schreiben meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde durch ein dreijähriges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ gefördert. Nicht zuletzt aus den Gliedern des Gemeinschaftskörpers dieses Kollegs – Doktoranden, Professoren, Assoziierten und Gästen – ging der hiesige Text hervor. Besonders hervorzuheben ist Prof. Dr. Robert Stockhammer, der meine Forschung von Beginn an geprägt und mich als Erstbetreuer stets hervorragend unterstützt hat; für das stets freundliche und konstruktive Input meines Zweitbetreuers Prof. Dr. Jörg Dünne bin ich ebenfalls sehr dankbar.

Der Druck meiner Dissertation wurde durch das DFG-Graduiertenkolleg „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften durch großzügigen Druckkostenzuschuss finanziert. Hierfür bin ich äußerst dankbar. Meinem Verlagslektor Tillmann Bub gilt mein Dank für seine immer zuverlässige Unterstützung im Zuge des Publikationsprozesses dieses Buchs.

I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“

Wie wird GanzheitGanzheit in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts dargestellt? Um dieser Frage nachzugehen, wird hier auf Wörter wie ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc.,1 die größere Ganzheiten evozieren, fokussiert, und die literarische Arbeit an diesen Termini analysiert. Im Anschluss an bereits vorliegende Ansätze werden diese Wörter unter dem Überbegriff ‚Figuren der Ganzheit‘2 – im Folgenden: FdG – zusammengefasst. In Antwort auf die Ausgangsfrage vertritt meine Studie die These, dass die untersuchten literarischen Texte die Bedeutung(en) von FdG aktiv bearbeiten, indem sie die Inszenierung menschlicher und tierischer Körper mit der Darstellung von Ganzheit verschränken. D.h. die literarischen Texte führen die Nennung von FdG mit der Darstellung von Körpern eng und manipulieren im Zuge dessen die Bedeutung(en) der FdG. Im Folgenden werden kanonische Texte der westlichen Literatur in den Blick genommen: Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726), Voltaires Candide ou l’Optimisme (1759) sowie Herman Melvilles Moby-Dick; Or, The Whale (1851) stellen die zentralen Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Analyse dar (vgl. Abschnitt III).3

Die FdG werden im Zuge dieser Engführungen mit inszenierten Körpern wahlweise als ‚komprimiert‘/‚ausgedehnt‘, ‚chaotisch‘/‚geordnet‘‚ ‚klein‘/‚groß‘ etc. beschrieben, mit anderen FdG kombiniert, oder sie werden in (bekannte und unübliche) Wortkombinationen überführt (man denke zur Illustration an die schier endlose Liste von Weltkomposita: Welt-Markt, Welt-Krieg, Welt-Karte, etc.).4 In besonders prominenten Fällen werden die FdG auch kreativ in ihrem Wortmaterial verändert, d.h. beispielsweise vom ‚globe‘ (frz.) in ein ‚globule‘ (etwa: ‚Erdkügelchen‘) gewandelt (vgl. zu diesem konkreten Beispiel III.3.4.2).

Dies geschieht in Wechselwirkung mit Körpern, die als stark vergrößert oder verkleinert dargestellt werden (und so in ein neues (Größen-)Verhältnis zum ‚großen Ganzen‘ treten können), in staatspolitische Kontexte rücken (und so auf internationales Geschehen reflektieren), auf koloniale Praktiken verweisen (und damit einen transkontinentalen Ereigniszusammenhang sichtbar werden lassen), in Bedeutungszusammenhängen der TheodizeeTheodizee erscheinen (womit sie Fragen nach dem Ganzen aus religiöser Perspektive verhandeln), oder gar metaphorisch mit FdG – allen voran ‚Welt‘ – in eins gesetzt werden. Im Laufe der hier untersuchten Texte ist ‚Welt‘ beispielsweise einmal ‚Muschel‘ (vgl. III.1) und einmal ‚Wal‘ (III.4.3.2), wird also mit tierischen Körpern in eins gesetzt. Nicht zuletzt lassen sich mehrfach (zumindest tentative oder satirische) In-Eins-Setzungen des menschlichen Körpers mit FdG nachweisen. Diese Inszenierungen des menschlichen Körpers als ‚Welt‘ stellen einen Extrempunkt dar und können in allen drei Haupttexten isoliert werden.

 

In der Relation zwischen FdG und Körpern wird dabei ein automatisierter Bezug auf die Totalität unterbrochen, zugunsten einer Reflexion auf GanzheitGanzheit. Ausgehend von sehr grundsätzlichen, von den Texten z.T. explizit formulierten Fragen, – etwa ‚Was ist die Welt?‘, ‚Kann man die Ganzheit sehen?‘ – wird so Platz geschaffen für die Neu-Beschreibung stark raumgreifender Prozesse (Kolonialismus, SklavenhandelSklavenhandel, militärische Konflikte, Welt-HandelWelt-Handel (Welt-Markt)), die die Eigenschaften der dargestellten Ganzheit bestimmen.

Wie sich in diesen Ausführungen bereits andeutet, werden die literarischen Texte also hinsichtlich ihrer Reaktion auf, bzw. Interaktion mit, spezifischen historischen Kontexten untersucht. Diese Kontexte werden hier in den größeren Zusammenhang der von Immanuel Wallerstein beschriebenen ‚ExpansionExpansion des Welt-SystemWelt-Systems‘ eingeordnet (vgl. II.1.1), womit im Wesentlichen die Ausdehnung des kapitalistischen Systems beschrieben werden soll. Dieses erreicht im Lauf des 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System)s erstmals den Status eines globalen, d.h. erdumfassenden Zusammenhangs (s.u.). Die Prozesse dieser Expansion also, und deren erstmaliges Global-Werden, werden als zentraler Kontext der untersuchten literarischen Texte herangezogen.

Die Rede von Figuren der GanzheitGanzheit impliziert, dass keine letztgültige Definition der oben genannten Wörter (‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. – bzw. in den Sprachen des gewählten Textkorpus ‚world‘, ‚monde‘, ‚earth‘, ‚terre‘ sowie ‚globe‘) gegeben werden kann und soll; sie werden somit nicht als „Begriffe“ (Stockhammer, „Welt“ 48) im Sinne eines fest definierbaren Inhalts verstanden. Stattdessen ist ihre Bedeutung im Einzelfall jeder Verwendung stets neu zu bestimmen, d.h. „ihre Polysemien und Polyvalenzen lassen sich allenfalls in je spezifischen Verwendungszusammenhängen explizieren, nicht jedoch durch definitorische Maßnahmen ein für alle Mal regeln.“ (Stockhammer, „Welt“ 69)5 Damit lassen sich spezifische Bedeutungen dieser Figuren isolieren, ohne sie auf eine dieser Bedeutungen zu reduzieren. So richte ich mich auch nach dem Verständnis von ‚FigurFigur‘, wie Gayatri C. Spivak sie beschreibt: „The meaning of the figure is undecidable, and yet we must attempt to dis-figure it, read the logic of the metaphor.“ (71) Anstatt also eine externe Definition oder Konzeption von ‚Welt‘ – oder einer anderen FdG – an die Texte heranzutragen,6 wird hier auf die Arbeit der Texte selbst an ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren eingegangen. Daraus ergibt sich ein Prozess der Deutung der FdG, der Ergebnisse zeitigt, ohne diese als allgemeingültig festzusetzen. Die jeweiligen Bedeutungsnuancen der FdG sind im Einzelfall durch close reading und die Einbettung der Texte und Textstellen in ihren etymologischen und historischen Kontext zu ermitteln.7

Denis E. Cosgrove schreibt: „Three English words commonly describe this planet: earth, world, and globe. Used interchangeably, each has distinct resonance.“ (7) Damit beschreibt er eine komplexe Konstellation, welche die genannten Vokabeln erzeugen. Sie alle bezeichnen „üblicherweise“ „diesen Planeten“ und damit ist gemeint: ‚unseren‘, den der Menschen.8 So scheint einerseits die Referenz als ‚dieser/unser Planet‘ fassbar; man könnte behelfsmäßig sagen: der „menschliche Standort, der Planet Terra“ (Sloterdijk, Weltinnenraum 15) ist gemeint. Doch obwohl die von Cosgrove genannten FdG einerseits verwendet werden, als seien sie austauschbar, tragen sie andererseits „verschiedene Resonanz“ in sich. Anders gesagt sichert die Rede vom selben ‚Planeten Terra‘ noch nicht ein geteiltes Verständnis von dieser GanzheitGanzheit in Bezug auf deren Eigenschaften. Besieht man sich zur Illustration die FdG ‚globe‘ im Kontext der jüngeren Globalisierungstheorie, so lässt sich feststellen, dass deren Etymologie sowohl auf ‚Kugel‘ als auch auf ‚Klumpen‘ zurückverfolgt werden kann (vgl. Nancy 14). Wer ‚globe‘ sagt, kann also äußerst verschiedene Vorstellungen von der Ganzheit verstanden wissen wollen und dies gilt genauso für andere FdG:

So wie ‚Abendstern‘ und ‚Morgenstern‘ die gleiche Bedeutung besitzen (auf die man am einfachsten mit dem Wort ‚Venus‘ referiert), ihr Sinn, also die „Art des Gegebenseins des Bezeichneten“, sich jedoch unterscheidet, so besitzen auch ‚Erde‘ und ‚Welt‘ in vielen Kontexten die gleiche Bedeutung, während die Unterschiede ihres Sinnes durchaus beträchtlich sind. ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ entsprechen einander also nicht. (Stockhammer, „Welt“ 51)

So besteht die Gefahr einer „Verwechslung zwischen Sinn und Bedeutung, also zwischen der Funktion des Wortes, etwas zu bedeuten und dabei gleichzeitig einen Sinn zu evozieren, und derjenigen, diesen Vorgang unter Ausschaltung des Sinns auf eine Bedeutung zurückzuführen (zu vereindeutigen).“ (Stockhammer, „Welt“ 52) Missverständnisse, oder genauer (und problematischer), scheinbare ‚Verständnisse‘, sind so vorprogrammiert, da angenommen wird, lediglich mit unterschiedlichen Wörtern ‚vom Selben‘ zu sprechen. Entgegen dieser Annahme kann eine nuancierte Analyse von ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren einen differenzierten Blick auf GanzheitGanzheit ermöglichen. Dabei soll stets die von Cosgrove beschriebene Spannung zwischen der Verwendung der Figuren in ihrer (vermeintlichen) ‚Austauschbarkeit‘ einerseits und deren ‚verschiedenen Resonanzen‘ andererseits mitgedacht werden.

Der zu untersuchende Zeitraum (frühes 18. bis Mitte 19. Jahrhundert) wurde gewählt, da er für das Themenfeld der GanzheitGanzheit einen äußerst bewegten darstellt. Zur Illustration hierfür kann auf Globalisierungstheorien verwiesen werden, die für diesen Zeitabschnitt Prozesse ‚beschleunigter Verflechtung‘ beschreiben.9 Die Prozesse selbst sind dabei zu großem Teil kolonialer Natur. Man denke etwa, diesen Zeitraum betreffend, an die Intensivierung des britischen Sklavenhandels nach 1713 (der die Dominanz der französischen Kolonialmacht in diesem Bereich abzulösen beginnt), den Siebenjährigen Krieg (1756–1763), der aufgrund der Ausdehnung seiner – aus der Konkurrenz zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich hervorgehenden – Konfliktherde auch als ‚Welt-Krieg‘ beschrieben wird, sowie neben dem englischen und dem französischen an den amerikanischen Imperialismus, der sich im 19. Jahrhundert zu formieren beginnt – wobei dieser auf die ‚Öffnung‘ Japans für den Welt-HandelWelt-Handel (Welt-Markt) drängt. Auf alle genannten Kontexte wird im Rahmen der Analyse der drei literarischen Haupttexte genauer eingegangen.

Diese und andere Vorgänge haben, wie es Niels Petersson und Jürgen Osterhammel in Geschichte der GlobalisierungGlobalisierung ausführen, ab der Mitte des 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System)s eine erste erdumfassende Verflechtung hervorgebracht, d.h. einen „funktionierenden Weltmarkt und ungehinderten Kapitalverkehr, Wanderungsbewegungen, multinationale Konzerne, internationale Arbeitsteilung und ein Weltwährungssystem“ (15). Diesen Befund teilen sie hinsichtlich der Einschätzung der räumlichen Ausdehnung mit Wallerstein: „It [das moderne Welt-SystemWelt-System; T.E.] has been in existence for some five hundred years and has expanded from its initial locus (parts of Europe plus parts of the Americas) to incorporate by the nineteenth century the entire globe in its orbit, becoming the only historical system on the planet.“ (Universalism 52) Im 19. Jahrhundert also beginnen diese Zusammenhänge, wie sie die gerade zitierten Komposita „Weltmarkt“, „Weltwährung“ sowie das „world-system“ beschreiben (Hervorhebungen T.E.),10 und welche Teil der europäischen ExpansionExpansion sind, die gesamte Ausdehnung der Erde einzuschließen.11 Dem atlantischen Raum kommt dabei eine Sonderrolle zu: „En effet, entre les XIVe et XIXe siècles, l’horizon spatial de l’Europe s’élargit considérablement. L’Atlantique, graduellement, devient l’épicentre d’une nouvelle concaténation des mondes, le lieu d’où émerge une nouvelle conscience planétaire.“ (Mbembe 28) Die genannten Prozesse erzeugen also ein zunehmendes Bewusstsein („conscience“) vom Ganzen als einem geschlossenen Zusammenhang: „Globalization as a concept refers to both the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole. The processes and actions to which the concept of globalization now refers to have been proceeding, with some interruptions, for many centuries“ (Robertson, Globalization 8).12 Die so über den Lauf von Jahrhunderten hervorgebrachte EinheitEinheit eines Zusammenhangs zeichnet sich weiter durch den Einschluss von AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems) aus; Eric Hayot schreibt (‚world‘ als Verb verwendend): „to world is to enclose, but also to exclude“ (40). Die GanzheitGanzheit ist damit, wie Franco Moretti es mit Bezug auf Wallerstein formuliert, „one […] and unequal“ („World-Systems“ 70). Sie schließt also, wie diese Beschreibungen deutlich machen, eine große Spannung in sich ein (vgl. hierzu genauer II.1.1.4). Wie zu zeigen ist, zieht Wallersteins Terminologie, auf die ich mich in weiten Teilen stütze, ihre Stärke vor allem aus ihrem autoreflexiven Umgang mit der FdG ‚world‘. Denn ausgehend von den Ausführungen Wallersteins zu seiner Verwendung dieser FdG lässt sich der expandierende Charakter des Welt-Systems, sowie die Tatsache, dass dieses nur eine von vielen möglichen Welten darstellt, besonders klar nachvollziehen (vgl. hierzu II.1.3).

GanzheitGanzheit wird im genannten Zeitraum in ihrem Gehalt also wesentlich neu bestimmt – ein Vorgang, der von den untersuchten literarischen Texten mitgestaltet und reflektiert wird. Insofern dieser Prozess vielschichtig, komplex und voller Spannungen ist, kann er nicht ohne erheblichen Aufwand abgebildet werden. Die zu belegende Kernthese besagt dementsprechend, dass die untersuchten literarischen Texte das vielschichtige, unübersichtliche – weil stark raumgreifende – und stellenweise unsichtbare Geschehen mittels der Verschränkung der Darstellung von Ganzheit mit der Darstellung von Körpern dennoch ins Bild zu rücken in der Lage sind.

Meine Forschungsarbeit für das vorliegende Buch fragte von Beginn an nach Analoga zu den Modellen von Staatskörpern (wie etwa demjenigen in Thomas Hobbes LeviathanLeviathan (Text und Titelkupfer)), die jedoch größere (d.h. interkontinentale bis hin zu globale) Einheiten oder Prozesse zur Darstellung bringen (vgl. II.2.4). Das Modell des Staatskörpers erwies sich nicht nur aufgrund des Zeitpunktes der Veröffentlichung von Hobbes Leviathan 1651 (und damit im Vorfeld des untersuchten Zeitraums) als besonders relevant (vgl. Abschnitt III.2.4), sondern der StaatskörperStaatskörper (body politic) dient vor allem aufgrund seiner Funktion als HypotyposeHypotypose – d.h., dass er einer GanzheitGanzheit eine sinnliche Anschauung gibt, die sie ohne ihn nicht hätte – den hiesigen Untersuchungen als Leitschnur,13 ausgehend von dem oben umrissenen Befund, dass sich die Ganzheit (auch und gerade im Wandel historischer Prozesse) nicht ohne Weiteres anschaulich machen lässt (vgl. II.2). So soll sowohl das Dilemma der Darstellung von Gemeinschaften – nämlich, dass „das ‚Ganze‘ der Ganzheit, sinnlich nicht wahrnehmbar“ (Koschorke et al. 58) ist –, als auch die Ergebnisse der Forschung zu diesem Thema, den hiesigen Untersuchungen Orientierung geben. Darüber hinaus beziehen sich die untersuchten literarischen Texte mitunter explizit auf die Tradition des Staatskörpers und testen (teilweise satirisch) die mögliche Übertragung dieser Tradition auf deutlich größere Zusammenhänge, wie sie von FdG evoziert werden. Der Staatskörper ist dem hiesigen Vorhaben somit ein doppelter Bezugspunkt: einerseits, insofern sich hier auf die Forschungen zum Staatskörper wiederholt bezogen wird, und andererseits, indem das Aufgreifen der Tradition des Staatskörpers durch literarische Texte untersucht wird. Die Tatsache, dass die Idee des Staatskörpers bei Hobbes koloniale Wurzeln hat, spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle (vgl. III.2.4.1).

 

Aus dieser Perspektive lässt sich eine Gruppe von hochgradig einflussreichen literarischen Texten beschreiben, welche Körper auf eine Art inszenieren, die auf größere Zusammenhänge und Prozesse verweist; somit kann ein literarischer Topos der Verschränkung von Körpern und FdG isoliert werden. Wie zu zeigen ist, unterstreichen die untersuchten Texte dabei vor allem die Eigenschaft der GanzheitGanzheit als expandierend und asymmetrisch.

Im Folgenden wird erstens aus der Perspektive jüngerer Überlegungen zur GanzheitGanzheit eine Analyse der literarischen Texte des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet (II.1); der Fokus wird dabei, neben der zentralen Analyse von Wallersteins Ansatz, auf den Ausführungen von Hannah Arendt, Hans Blumenberg, Martin Heidegger, Jean-Luc Nancy und anderen liegen. Zweitens werden, ausgehend von der Beschreibung der ExpansionExpansion des Welt-Systems in II.1, verschiedene Probleme bei der Darstellung von Ganzheit vorgestellt, um Referenzpunkte für die späteren Analysen zu schaffen (II.2). Den Untersuchungen der drei Haupttexte geht außerdem ein kurzer Exkurs voraus, der der Analyse eines sehr viel später erschienenen Textes gewidmet ist, Das Vermächtnis des Maître Mussard (2007) von Patrick Süskind, an dem sich einige Grundfragen der Analyse der anderen Texte besonders gut entfalten lassen, insofern sich dort ein besonders extremes Beispiel für die In-Eins-Setzung von Körper und Ganzheit explizieren lässt. Aus dieser Perspektive heraus werden anschließend die ausgewählten fiktionalen Texte des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht (III). Der Analyse dieser Texte folgt ein zusammenfassendes Fazit der Betrachtungen (IV).