Welt als Körper

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II Theoretische Konzepte und Fragestellungen

1 Das expandierende Welt-System
1.1 Expansion, die endliche Erdoberfläche und Kompression

Um 1500 beginnt ein Prozess, der verschieden benannt und konzeptualisiert wurde: so ist in Texten und Theorien die Rede vom Beginn des „Zeitalter[s] der Entdeckungen“ (Dünne 11), der ‚Europäischen ExpansionExpansion‘ oder der ‚GlobalisierungGlobalisierung‘ – vorausgesetzt man versteht unter Letzterer nicht ausschließlich Ereignisse und Prozesse des ausgehenden 20. Jahrhunderts.Universum (Figur der Ganzheit)1 Achille Mbembe fasst das Geschehen wie folgt zusammen: „Au cours de la période atlantique […] cette petite province de la planète qu’est l’Europe s’installe progressivement dans une position de capitanat sur le reste du monde.“ (Mbembe 33) Wallerstein schreibt, von der ‚Welt‘ unserer Gegenwart ausgehend und deren Ursprung beschreibend:

The world in which we are now living, the modern world-system, had its origins in the sixteenth century. This world-system was then located in only a part of the globe, primarily in parts of Europe and the Americas. It expanded over time to cover the whole globe. It is and has always been a world-economy. It is and has always been a capitalist world-economy. (World-Systems 23)

‚Unsere Welt‘ ist laut Wallerstein also die eines „Welt-SystemWelt-Systems“, dessen historischer Ursprung im 16. Jahrhundert anzusiedeln ist;2 bei diesem ‚Welt-System‘ handelt es sich weiter um einen ökonomischen Zusammenhang.Expansion3 Aus der ExpansionExpansion dieses Welt-Systems („it expanded“) ergibt sich zunächst eine Vergrößerung des bekannten Raums (besonders prominent im Fall der zunehmenden Kolonialisierung Amerikas).4 Doch dieser Prozess der räumlichen Vergrößerung hat einen natürlichen Endpunkt, bedingt durch die Endlichkeit der Ausdehnung der Erdoberfläche. Hannah Arendt schreibt in diesem Zusammenhang von „the enlargement of the earth’s surface, which found its final limitation only in the limitations of the globe itself, but also the still apparently limitless economic accumulation process.“ (250) Sie beschreibt damit, dass die „enlargement of the earth’s surface“ erst ihr Ende findet, sobald die gesamte Extension5 der Erdoberfläche erfasst ist.

Aus dem Prozess dieser Vergrößerung geht parallel eine Verkleinerung der GanzheitGanzheit hervor, insofern sich die Zeiten, die für das Reisen zwischen weit entfernten Punkten auf der Erdoberfläche mit dem Fortschreiten der ExpansionExpansion immer weiter verringern und sich in einem schneller werdenden Welt-Verkehr institutionalisieren; Sloterdijk spricht vom „Wesen des entdeckenden Verkehrs“ als der „Ent-Fernung der Welt“ (Sphären II 909). Die zunehmende Geschwindigkeit, mit der Distanzen überbrückt werden, wird metaphorisch als ‚Verkleinerung‘ oder ‚Kompression‘ des Erdraums gefasst. Der Prozess der Expansion kollabiert somit in sein – scheinbares – Gegenteil, wie Arendt beschreibt:

Precisely when the immensity of available space on earth was discovered, the famous shrinkage of the globe began, until eventually in our world (which, though the result of the modern age, is by no means identical with the modern age’s world) each man is as much inhabitant of the earth as he is inhabitant of his country. Men now live in an earth-wide continuous whole where even the notion of distance, still inherent in the most perfectly unbroken contiguity of parts, has yielded before the onslaught of speed. Speed has conquered space; and though this conquering process finds its limit at the unconquerable boundary of the simultaneous presence of one body at two different places, it has made distance meaningless, for no significant part of a human life–years, months, or even weeks–is any longer necessary to reach any point on the earth. (250)

Mit dieser Verkleinerung geht ein zunehmendes Bewusstsein von der GanzheitGanzheit als geschlossenem Zusammenhang einher, es kommt zu einer „compression of the world into ‘a single place’“ (Robertson, Globalization 6). Nur wenn die Folgen eines Ereignisses an einem Punkt der Erdoberfläche schnell an anderen Punkten auf der gleichen Oberfläche bemerkbar sind, werden diese Punkte deutlich als Teil des gleichen Zusammenhangs wahrgenommen. Es entsteht also das Bewusstsein, „daß jeder Ort auf einer umrundbaren Kugel auch aus der größten Ferne durch Transaktionen von Gegenspielern in Mitleidenschaft gezogen werden kann.“ (Sloterdijk, Sphären II 824)

ExpansionExpansion und Kompression stellen somit zwei Aspekte (bzw. bis zu einem gewissen Grad konsekutive Abschnitte) des gleichen Prozesses dar;6 begründet liegt dies letztlich in der Begrenztheit der Oberfläche der Erde. Sobald dieser Raum in seiner Gänze erfasst ist, liegt die Grenze der Kompression durch die Geschwindigkeit letztlich nur noch in der von Arendt genannten physikalischen Unmöglichkeit für einen Körper, an zwei Stellen zugleich sein zu können; ausgerechnet der Körper ist hier also als letztes Hindernis anzusehen.

Doch spricht Arendt im weiter oben zitierten Ausschnitt auch vom „economic accumulation process“, der, anders als die Oberfläche der Erde, „still apparently limitless“ zu sein scheint. Die ExpansionExpansion, die schließlich erdumfassend wird, und in ihrem Verlauf ein Komprimieren der Erde bewirkt, ist an den endlosen Prozess der Akkumulation von Kapital geknüpft, ein Umstand, den Wallersteins Konzept des kapitalistischen Welt-SystemWelt-Systems mitbedenkt. Doch bevor dieses Konzept genauer beschrieben und analysiert wird, ist im nächsten Abschnitt allgemeiner auf FdG einzugehen, wobei der Fokus auf der FdG ‚Welt‘ liegen wird, mit der Wallerstein seine einflussreiche Wortschöpfung des ‚Welt-Systems‘ bildet. Festzuhalten bleibt hier, dass der Prozess der Expansion als dynamisch und vielschichtig zu verstehen ist, insofern er die Kompression als Konsequenz der Endlichkeit der Erdoberfläche mit einschließt, und an den unbegrenzten Prozess der Akkumulation von Kapital knüpft.

1.2 Die Ganzheit des Teils und die Ganzheit des Ganzen

In der großen Menge an kritischen Texten, welche sich der FdG ‚Welt‘ explizit widmen, insofern sie deren Gehalt zu fassen versuchen – ganz gleich ob sie diese dabei als Lemma, BegriffBegriff (im Verhältnis zu Figur), Metapher oder FigurFigur verstanden wissen wollen –, lassen sich zwei grundsätzliche Positionen unterscheiden. So behauptet die eine Seite, dass ‚Welt‘ sich nicht abschließend definieren lässt, und die andere, dass ‚Welt‘ in ihrem Gehalt sehr wohl eindeutig bestimmt werden kann. Es stehen sich also Behauptungen, man könne ‚Welt‘ nie abschließend definieren einerseits, und – mehr oder weniger konkrete – Definitionen von Welt andererseits, gegenüber.

Keine der beiden Positionen ist mehr im Recht als die andere. Weder ist es grundsätzlich falsch oder unmöglich ‚Welt‘ zu definieren, noch ist es abwegig, eine solche Definition nicht geben zu wollen. Doch lässt sich die Entscheidung, ob man eine Definition von ‚Welt‘ geben möchte oder nicht, auf Strukturen der FdG ‚Welt‘ zurückführen, die zur Bildung der verschiedenen Positionen in dieser Sache beitragen.

Zunächst sollen hier einige mögliche Definitionen von ‚Welt‘ wiedergegeben werden. Rémi Brague etwa schreibt, ‚monde‘ sei ein „mot susceptible de désigner l’ensemble de la réalité d’une façon unifiée“ (24), anstelle additiver Reihungen wie „ciel, terre, mer, monde souterrain, etc.“ (33). ‚Welt‘ fungiere so als „synthèse des deux premières catégories de la quantité, la pluralité et l’unité.“ (25) Auch lässt sich Jean-Luc Nancys denkbar kurze Definition von ‚monde‘ als „totalité de sens“ (34) nennen, oder Heideggers voraussetzungsreiche Definition von ‚Welt‘ als das „Seiende im Ganzen“ (89; zur genaueren Analyse von Heideggers Ansatz vgl. II.2.1).

Betrachtet man in diesem Kontext Hans Blumenbergs Ausführungen zu ‚Welt‘ in der Theorie der Unbegrifflichkeit,1 so stößt man auf die Anekdote, dass er nach einem Vortrag die Frage, wie er ‚Welt‘ definiere, nicht habe beantworten wollen: „In meiner Verzweiflung entschloß ich mich zu einer Parodie: ‚Die Welt ist der geometrische Ort aller Punkte‘“ (38). Als Grund für diese Weigerung gibt er explizit den Wunsch an, eine Diskussion von Wittgensteins Welt-Verständnis zu umgehen.2 Dieser Wunsch impliziert die Annahme, dass eine philosophische Diskussion nicht den Königsweg zu einem besseren Verständnis von ‚Welt‘ darstellt. Stattdessen hält er diese ernüchternde Erkenntnis fest: „‚Welt‘ ist ein Ausdruck, bei dem der Versuch, Wortersetzungsregeln zu finden, konstitutiv zum Scheitern verurteilt ist.“ (ebd.) Man kann sich ‚Welt‘ anscheinend nicht ohne weiteres annähern: Regeln zur Synonymbildung – fester Bestandteil jeder Definition – können laut Blumenberg nicht gelingen. Dennoch, so weiter die Pointe Blumenbergs, entkommt man dem Wort ‚Welt‘ nicht. Zur Illustration führt Blumenberg nahezu völlig sinnentleerte Verwendungen von ‚Welt‘ ins Feld, wie etwa in hohlen Aussagen „wie ‚Die Welt ist schlecht‘ oder ‚Die Welt steht vor dem Untergang‘“ (ebd.).3 Anhand dieser Beispiele macht er deutlich, dass ‚Welt‘ in ihrem Gehalt nahezu unmöglich einzugrenzen ist, und dennoch – oder sagt man treffender: deswegen? – sehr häufig gebraucht wird. Hayot beschreibt die von Blumenberg damit adressierte Problematik mit der Aussage, dass „non-tautological, precise statements about the world are harder to make than one might think.“ (39) Obwohl man gewissermaßen ständig nicht umhin kommt, ‚Welt‘ zu sagen, ist es unmöglich, den genauen Gehalt dieses Wortes zu definieren. Entsprechend will Blumenberg – im Scherz – ein Wort-Verbot nicht gänzlich ablehnen: „Selbst wenn ich zur Zustimmung geneigt wäre, man solle Sätze über ‚die Welt‘ fortan lieber überhaupt nicht mehr bilden oder gebrauchen, wäre ich doch sehr unsicher, ob diesem Verbot jemals Erfolg beschieden sein könnte.“ (38) Dabei ist jedoch explizit auf Blumenbergs Verständnis von ‚BegriffBegriff (im Verhältnis zu Figur)‘ einzugehen, als welchen er ‚Welt‘ verstanden wissen will. Blumenbergs ‚Begriff‘ ist – vielleicht kontraintuitiv, aber einleuchtend – durch seine Undefinierbarkeit bestimmt, denn er führt aus: „Der Begriff hat etwas zu tun mit der Abwesenheit seines Gegenstandes. Das kann auch heißen: mit dem Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes.“ (9) Weiter schreibt er: „Es könnte sein, daß die Leistung des Begriffs nur partiell gegenüber der Intention der Vernunft ist, die immer etwas mit Totalität zu tun zu haben scheint.“ (9) Im Blumenberg’schen ‚Begriff‘ ist damit eine Spannung eingeschrieben, die unauflösbar ist: die Vernunft will zur Totalität; ein Wunsch, den der so verstandene Begriff „nur partiell“ bedient, denn in ihm ist immer auch die „Abwesenheit seines Gegenstandes“ eingeschrieben. Damit ist der ‚Begriff‘ „zur Enttäuschung der auf ihn gesetzten philosophischen Erwartung nicht die Erfüllung der Intentionen der Vernunft, sondern nur deren Durchgang, deren Richtungsnahme.“ (10) In diesem Verständnis von ‚Welt‘ ist diese stets entzogen, insofern sie als ‚Begriff‘ nur eine Richtung ‚auf sie hin‘ vorgibt.

 

Als weitere Argumente für die Unmöglichkeit, Welt zu definieren, lassen sich ‚konzeptuelle Ambivalenzen‘ anführen, welche die FdG ‚Welt‘ birgt. Eric Hayot weist, ausgehend vom Eintrag zu world im OED, auf folgenden Zusammenhang hin:

Its [der Welt; T.E.] definitions in the Oxford English Dictionary run to some forty pages, and its complexity and slipperiness appear from the very first one: “human existence; a period of this,” words whose reference mostly to time will surprise anyone accustomed to thinking of “world” as having largely spatial implications. The second major definition makes things both better and worse: “the earth or a region of it; the universe or a part of it.” Here we are on familiar spatial ground. But what to make of that double “or”? Like the semicolon in the first definition, it forces “world” to pivot between an ontological reference to any self-enclosing whole (what are, after all, periods, regions, or parts of wholes but wholes themselves?) and a material reference to the largest possible versions of such wholes (history; the planet Earth; the universe). By highlighting the tension between world as a generic totality and world as the most total totality of all–the totality of the “part” and the totality of the “whole” – this ambivalence recapitulates the difficulties generated by the “world” of world-systems and the “world” of world literature. […] “[W]orld” thus bears within itself the conceptual difficulty that makes its use in contemporary literary criticism so fecund, and so incoherent. (38f.)

Was Hayot hier als „conceptual difficulty“ beschreibt, umfasst folgende Struktur: ‚Welt‘ kann sowohl die „totality of the ‘part’“ (eine Region, eine Zeitspanne etc.) als auch „the totality of the ‘whole’“ bezeichnen, wobei Letzteres von ihm auch beschrieben wird als „the most total totality of all“. Letztgenannte Formulierung buchstabiert das Potenzial von ‚Welt‘, schlicht alles zu bezeichnen, mit spielerisch-ironischem Gestus aus. Robert Stockhammer äußert zu diesem Sachverhalt (wiederum unter Bezug auf ein Wörterbuch, diesmal das von Jacob und Wilhelm Grimm begründete Deutsche Wörterbuch) das Folgende:

Kleine Welten, wie diejenigen einer Mäusegemeinde oder eines Maulwurfsbaus, wären dann nur anders skaliert als der ‚kreis der erdbewohner‘ […] oder – davon bemerkenswerterweise „nicht scharf abzugrenzen“ – der ‚erdkreis‘ […]. Und ‚Welt‘ im Sinne von ‚Weltall‘ […] wäre, als größtmögliche Skalierung, zugleich eine Hyperbel, die auf das größte denkbare All zielt. Auch dieses ist noch „ein all im kleinen“, insofern es als ein irgendwie „abgeschlossenes ganzes“ gedacht wird […]. (Stockhammer, „Welt“ 50)

Die Größe dessen, was ‚Welt‘ bezeichnet, kann demnach stark variieren, es handelt sich um eine flexible Extension. Auch Roland Robertson scheint sich dieser Flexibilität bewusst zu sein, insofern er in seiner Verwendung von ‚world‘ gehäuft ein „as a whole“ anhängt (8, 10, 13, 14, 15, 24, 25, 26, 28, 31 etc.) – um deutlich zu machen, dass es ihm in diesem Sinne um ‚world‘ geht, und nicht nur um einen Ausschnitt der Erde. ‚Welt‘ ist, kurz gesagt, ‚skalierbar‘.Maßstab (Kartografie)4

C. S. Lewis5 widmet ein ganzes Kapitel seines 1960 erschienenen Studies in Words dem Wort ‚world‘. Dabei weist er darauf hin, dass sich world in zwei Hauptbedeutungen unterteilen lässt: „In the earliest recorded period of our language this noun has two senses which we may call World A and World B.“ (214) Er führt aus: „[T]o cover all the shades of the A-sense we had better say that World A means something like age or durée.“ (214)6 Die zweite Bedeutung dagegen entspricht der, die ein heutiger Sprecher auch im Sinn haben wird:

The B-sense is that which the word most naturally suggests to a modern speaker. The poet who did the Metres of Boethius into Anglo-Saxon writes ‘in those days there were no great houses in the weorulde’. Here we could translate it ‘earth’. But whenever the distinction between the earth and the universe is present in the mind, World B can mean either, and the context usually shows which. (215)

Hier ist vor allem die weitere Differenzierung von ‚Welt‘ in die Bedeutungen ‚universe‘ und ‚earth‘ entscheidend. Weiter definiert Lewis: „World B may loosely be defined as the region that contains all regions; if all absolutely, then it means universe; if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Dem ist hinzuzufügen, dass ‚world‘ mit dem Lauf der Zeit zunehmend weniger die Bedeutung von ‚universe‘ zu tragen scheint: „On the other hand, world is decreasingly used to mean the absolute region of regions; universe tends to replace it. Partly, no doubt, this has happened because the ambiguity of world can cause inconvenience.“ (249)7 Der sukzessiven Ersetzung von ‚world‘ durch ‚universe‘ hat Alexandre Koyré ein ganzes Buch gewidmet, dessen Titel sein Ergebnis konzis zusammenfasst: From the Closed World to the Infinite Universe.8

„[T]he equation of the world with the spatial extensiveness of the globe“ (Chea 48) also erscheint vor dem Hintergrund der von Lewis so genannten „ambiguity of world“ als Sonderfall, d.h. als nur eine Bedeutung von vielen möglichen. Dabei ist jedoch Folgendes zu betonen:

Während freilich Metaphern wie ‚Welt der Maulwürfe‘ oder ‚Welt der Mäuse‘ üblicherweise im eng benachbarten syntaktischen Kontext präzisiert werden müssen (sei es durch ganze Erzählungen, sei es durch abgekürzte Genitivattribute), scheint die Verwendung von ‚Welt‘ in der Bedeutung von Erde keiner ausdrücklichen Bestimmung zu bedürfen. (Stockhammer, „Welt“ 50)

So ist also festzuhalten, dass die unbestimmte Rede von ‚Welt‘ in der Regel als „in der Bedeutung von Erde“ zu verstehen ist. Ein zu starker Fokus auf diesen Sonderfall kann nichtsdestotrotz den Blick für andere Bedeutungsvarianten von ‚Welt‘ trüben.

Wenn ‚Welt‘ also sowohl die GanzheitGanzheit eines Teils als auch die Ganzheit des Ganzen bezeichnen kann, so ist im Einzelfall die Bedeutung jeweils neu zu ermitteln; es ist jeweils neu zu bestimmen, welches ‚Ganze‘ bezeichnet werden soll, d.h. wie total die evozierte Totalität ist. So muss ‚Welt‘ stets in ihrem Potenzial, verschiedene Ganzheiten zu fassen, begriffen werden.

Diese Konstellation führt, wie Hayot anhand mehrerer Beispiele demonstriert, zu zahllosen Missverständnissen, und er schlussfolgert „that no one has a very good theory of the world“ (Hayot 40).

Faced with this problem, a task: to come up with a better theory of the world, and of the relationship between the world and literature. Not to produce a mediating relay between world literature and world-systems, but to see if a third analysis, focusing on the ontology of composed works, can bring “world” differently into the scene. And to see, then, if such a theory makes any difference to our understanding of world literature or the history of worldedness as an aesthetic and cultural phenomenon–as a symptom and as a compass for the history, in other words, of totality as a function of the human imagination. (Hayot 40f.)

Hayot schlägt als Alternative vor, world auf eine Art und Weise zu definieren, die die besagten Ambivalenzen explizit ausbuchstabiert – und world außerdem von einem Nomen in ein Verb wandelt: „To world is to enclose, but also to exclude“ (39). Hayot schreibt weiter: „What falls in the ambit of those enclosures and exclusions will determine the political meaning of any given act of world-making, as it does so in our debates on world literature.“ (40) Damit liefert er eine Formulierung, die den ambivalenten Charakter von ‚Welt‘ expliziert. Der Vorteil dieser Definition Hayots besteht darin, dass sie keineswegs unbeweglich ist, sondern eine flexible ‚sowohl-als-auch‘-Struktur vorgibt, die auf eine in ‚Welt‘ eingeschlossene Ungleichheit verweist.

Abschließend lässt sich hier Folgendes zusammenfassen: Der Umfang, den FdG bezeichnen und evozieren, kann im Einzelfall deutlich variieren. Starke Definitionsakte versuchen diesen Unsicherheiten zu begegnen, sie können sie jedoch nicht ausräumen. Ein möglicher Weg, dieser schwierigen Ausgangslage gerecht zu werden, besteht in dem bereits weiter oben (Abschnitt I) beschriebenen Verständnis von ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren, welches ein stets neues Bestimmen der Bedeutung von FdG erlaubt.

1.3 ‚Eine‘ Welt und ‚die‘ Welt

Laut Immanuel Wallerstein ist es die Grundeigenschaft des KapitalismusKapitalismus (Welt-System), Kapital anzuhäufen um – ad infinitum – weiteres Kapital anzuhäufen:1 „Using such a definition, only the modern world-system has been a capitalist system.“ (World-Systems 24) Die kapitalistische Natur des Welt-SystemWelt-Systems wiederum hat dessen ExpansionExpansion stetig vorangetrieben. Aus der Perspektive der hiesigen Studie drängt sich mit Blick auf Wallersteins Terminologie die Frage auf, warum Wallerstein das von ihm beschriebene kapitalistische System konsequent an die FdG ‚world‘ bindet. Wallerstein selbst beschreibt, dass es ihm in seiner Verwendung von ‚world-system‘ nicht um die Welt zu tun ist, sondern um eine Welt, und geht damit explizit auf eine wesentliche Differenzierung ein:

Note the hyphen in world-system and its two subcategories, world-economies and world-empires. Putting in the hyphen was intended to underline that we are talking not about systems, economies, empires of the (whole) world, but about systems, economies, empires that are a world (but quite possibly, and indeed usually, not encompassing the entire globe). This is a key initial concept to grasp. It says that in “world-systems” we are dealing with a spatial/temporal zone which cuts across many political and cultural units, one that represents an integrated zone of activity and institutions which obey certain systemic rules. (World-Systems 16f.)

Zunächst ist zu erwähnen, dass es laut Wallerstein mehrere Welt-SystemWelt-Systeme gab, welche dem aktuellen (kapitalistischen) Welt-System vorausgingen; daraus erklärt sich auch der Plural im Namen der Disziplin: world-systems-analysis. Im zitierten Passus verdeutlicht Wallerstein durch eine eingeschobene Klammer, dass ‚Welt‘ mit bestimmtem Artikel diese in ihrer Gänze bezeichnet („the (whole) world“). Doch diese Bedeutung soll die Wortbildung ‚world-system‘ dezidiert nicht aufrufen.2 Denn eine Welt ist in ihrer Ausdehnung, laut Wallerstein, in der Regel nicht global, das heißt eine Welt umspannt „gewöhnlich nicht“ den ganzen Globus. Potenziell jedoch kann eine Welt den ganzen Globus umfassen. Dieser Fall trifft jedoch nur auf das kapitalistische Welt-System zu, welches sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts etabliert, denn nur dieses umspannt, am Ende eines langen historischen Prozesses, den ganzen Globus („globe“). Vorgängige „Welt-Ökonomien“ und „Welt-Imperien“ waren nicht (und das heißt: zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz) globus-umspannend.

 

Auch in Historical Capitalism (vor allem 97–101) beschreibt Wallerstein, dass der ‚Welt‘ des aktuellen Welt-SystemWelt-Systems andere Welt-Systeme oder Welten („the worlds before historical capitalism“, 100) vorausgingen. „The […] use of the plural is necessary because, strictly speaking, the term ‘world’ does not necessarily, in world-systems theory, apply to the entire world.“ (Robertson, Globalization 14) ‚Welthaftigkeit‘ ist also dezidiert keine dem aktuellen Welt-System vorbehaltene Eigenschaft. Das kapitalistische Welt-System ist jedoch insofern einzigartig, als es im Zuge seiner ExpansionExpansion schließlich doch erdumspannend installiert wird.

In der Zeitspanne von ca. 1600 bis „sometime in the 19th century“ (Wallerstein, Universalism 48) stellt das kapitalistische Welt-SystemWelt-System damit eine Welt dar. Ab einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt im 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System) – womit ein Übergang ohne klares Schwellenereignis postuliert wird3 – wird das kapitalistische Welt-System global. Wallersteins eigene Ausführungen zu „world“ anwendend, lässt sich sagen, dass sich das kapitalistische Welt-System von einer Welt hin zu einem Welt-System, dass die Welt umspannt, ausbreitet – womit sich die Bedeutung von ‚Welt‘ im Welt-System wandelt. Die eine ‚Welt‘ des kapitalistischen ‚Welt-Systems‘ bezeichnet nach ihrer Globalwerdung die Welt, d.h. sie umfasst die ganze Extension der Erde.

Worauf Wallerstein damit hinweist, ist die Tatsache, dass es ein signifikanter Unterschied ist, ob man von ‚GanzheitGanzheit‘ mit oder ohne bestimmtem Artikel spricht. Roland Robertson erwähnt die Unterscheidung zwischen einer Welt einerseits und der Welt andererseits in seinem Werk Globalization (1992) eher beiläufig, als eingeklammerten Einschub: „a world that is increasingly compressed (and indeed often identified as the world)“ (98; Hervorhebung T.E.), was den Status dieser oft übersehenen, bzw. wenn überhaupt dann nur en passant getroffenen, Unterscheidung deutlich illustriert. Worauf Robertson im Kotext des Zitats anspielt, ist die Tatsache, dass die meisten Globalisierungstheorien (in deren Kontext Robertson sich hier bewegt und verortet) von einem Eins-Werden des globalen Zusammenhangs ausgehen; die komprimierte ‚Welt‘ kennt kein Außen mehr, weshalb sie als die Welt bezeichnet werden kann. Da es (so die Annahme, die dem logisch zugrunde liegt) keine anderen Neben- oder Teil-Welten mehr gibt, ist die Unterscheidung zwischen einer Welt und der Welt anscheinend hinfällig. Bemerkenswert ist jedoch, dass Robertson keinen Bedarf sieht, sich hier zu erklären, gerade angesichts seines im Allgemeinen äußerst explikativen Stils.

Von der GanzheitGanzheit im engeren Sinn – von „all absolutely“ (Lewis 215, s.o.) also, der allumfassenden Extension, die man heute zumeist als ‚UniversumUniversum (Figur der Ganzheit)‘ bezeichnet –4 ist ganz allgemein eher im Ausnahmefall die Rede. Denn die Ganzheit in diesem Sinn ist der Gegenstand exklusiver philosophischer, physikalischer und kosmologischer Überlegungen (vgl. bspw. Koyré 5–10). Außerhalb dieser Domänen jedoch ist mit der Rede von der Ganzheit die – im jeweiligen Kontext – bestimmende Größe (zumeist: ohne Außen) gemeint. C. S. Lewis schreibt zu diesem Sachverhalt: „[I]f all absolutely, then it [world; T.E.] means universe; if ‘all that usually concern us humans’, then it means earth.“ (215) Ob diese konkrete Beschreibung nun in jedem Fall zutrifft oder nicht – sie beruht jedenfalls auf der bereits beschriebenen Unterscheidung zwischen der umfassendsten „Skalierung“ (Stockhammer, „Welt“ 50) von ‚Welt‘ einerseits und der Ganzheit des Teils andererseits.5

Wallerstein vollzieht die oben untersuchte Unterscheidung zwischen Welt mit bestimmtem und unbestimmtem Artikel, um deutlich zu machen, dass das Welt-SystemWelt-System des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) nicht natürlich entstanden ist, und seine Werte nicht von universaler Gültigkeit sind. Stattdessen stellt es nur eine Welt/ein Welt-System dar, welches sich in einem historischen Prozess über die ganze Erde ausgebreitet hat. Es ist somit als Ergebnis eines spezifischen Vorgangs global geworden.

The pan-European world, dominating the world-system economically and politically, defined itself as the heart, the culmination, of a civilizational process which it traced back to Europe’s presumed roots in Antiquity. Given the state of its civilization and its technology in the nineteenth century, the pan-European world claimed the duty to impose itself, culturally as well as politically, on everyone else–Kipling’s “White man’s burden,” the “manifest destiny” of the United States, France’s mission civilisatrice. (Wallerstein, World-Systems 66)

Insofern dem einen Welt-SystemWelt-System des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) andere Welt-Systeme vorausgingen, ist die kapitalistische Ordnung nicht als die ‚beste aller möglichen Welten‘ anzusehen. D.h., das aktuelle Welt-System ist kein Fortschritt gegenüber vorgängigen Welt-Systemen (vgl. Wallerstein, Capitalism 97–110). Es erweckt lediglich diesen Anschein, indem es die Idee des Fortschritts zu einem seiner Leitmotive erklärt (vgl. Wallerstein, Universalism 33 und Mbembe 25). Doch dies gilt nicht nur für das aktuelle Welt-System, denn Wallerstein hält fest: „There never was a golden era.“ (Capitalism 136) Welten lösen einander ab, und die Frage ihrer Bewertung ist hochkomplex. Zwar tritt Wallerstein den Versuch an, die Frage zu beantworten, ob es der Mehrzahl der Menschen im Feudalismus nicht vielleicht ‚besser ging‘, als im anschließenden Kapitalismus (vgl. ebd.), doch er ist – trotz seiner generell äußerst skeptischen Haltung gegenüber dem von ihm beschriebenen kapitalistischen Welt-System – in seinen Schlussfolgerungen hier vorsichtig. Er beschränkt sich auf die Aussage, dass es immerhin nicht ausgeschlossen sei, dass der Kapitalismus für die Mehrheit der Menschen keine deutliche Verbesserung mit sich brachte: „It is, let me say, at the very least by no means self-evident that there is more liberty, equality, and fraternity in the world today than there was one thousand years ago“ (Capitalism 100).

Doch stellt sich, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten, immer noch die Frage nach dem Grund für die Wahl der FdG ‚world‘ durch Wallerstein. Wieso spricht er vom Welt-SystemWelt-System, wenn das doch die Möglichkeit birgt, die eine Welt des KapitalismusKapitalismus (Welt-System) als die Welt misszuverstehen, und so eine ‚Naturalisierung‘ des Kapitalismus zu befördern? Bzw. ließe sich genauer fragen, wieso Wallerstein nicht von Systemen spricht – und die FdG ‚Welt‘ nicht einfach ganz fallen lässt?

Einige plausible Antworten sind möglich: Erstens lässt sich festhalten, dass Wallerstein vom KapitalismusKapitalismus (Welt-System) als selbstbezügliches System spricht (Kapital wird angehäuft, um weiteres Kapital anzuhäufen). Selbstbezüglichkeit ist eine in mehreren Texten genannte Bedeutungsnuance von ‚Welt‘.6 Mit dem Hinzufügen von ‚Welt‘ betont Wallerstein also diesen speziellen Charakterzug des kapitalistischen Systems.

Zweitens ist die Tatsache der geografischen Ausbreitung des Welt-SystemWelt-Systems, die Wallerstein wiederholt betont, von großer Wichtigkeit:

There is indeed a modern world-system, and it is truly different from all previous ones. It is a capitalist world-economy, which came into existence in the long sixteenth century in Europe and the Americas. And once it was able to consolidate itself, it followed its inner logic and structural needs to expand geographically. It developed the military and technological competence to do this, and was therefore able to incorporate one part of the world after another, until it came to include the entire globe sometime in the nineteenth century. (Universalism 47f.)

Die geografische Ausbreitung des world-system wird von Wallerstein an mehreren Stellen erwähnt, und seine Terminologie bleibt dabei stets konsistent: Das world-system breitet sich über den „globe“ aus. Die FdG ‚world‘ unterhält also in Wallersteins Verwendung eine integrale Beziehung zur FdG ‚globe‘. Entsprechend der Logik einer immer umfassenderen ExpansionExpansion wird das System ab einem bestimmten Zeitpunkt global. Wallerstein aktualisiert so die Bedeutung von ‚Welt‘ als ‚flexible Ausdehnung‘. Der Begriff ‚Welt‘ erlaubt Wallerstein ein sich ausbreitendes System zu beschreiben, das relativ klein beginnt, und schließlich global wird. Die FdG ‚Welt‘ ist ideal geeignet, dieses Anwachsen zu beschreiben, und kann, ohne die geringste Irritation, sowohl den Beginn als auch das ‚globale Endstadium‘ der Ausbreitung des Systems bezeichnen. Hayot fasst alle bisher genannten Aspekte wie folgt zusammen: