Goldmond

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Tamara Glück:

Goldmond

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 edition a, Wien

www.edition-a.at

ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-470-7

ISBN E-Book 978-3-99001-471-4

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Für meine Familie und meine Freunde, die mir alle so unendlich viel bedeuten.

Für meine Eltern, die mit Abstand die besten sind.

Für all diejenigen, die in diesen kurzen Zeilen keinen Platz finden konnten.

Für die Welt, die mich mit offenen und liebevollen Armen willkommen geheißen hat.

PROLOG

Grundgesetz, erster Abschnitt:

Die Natur und der Umweltschutz stehen über den Eigeninteressen einzelner Menschen. Jede und jeder ist verpflichtet, zum Schutz des Planeten beizutragen und ihm keinen unnötigen Schaden zuzufügen. Der Ausstoß von Treibhausgasen, der Abbau fossiler Brennstoff und das fahrlässige Aufheizen der Atmosphäre ist verbotenbeziehungsweise nur mit Genehmigung der Regierungdes Weltstaates erlaubt.

Grundgesetz, zweiter Abschnitt:

Die Welt soll in zwei Gruppen geteilt sein: Die einen sollen unser Wissen bewahren, auf dass es niemals verloren gehen mag. Doch unsere Welt ist zu klein, um für alle Menschen dauerhaft Platz zu bieten. So sollen die anderen zum Wohle der Welt den einen Platz lassen. So sollen die einen – wir sollen sie adelig nennen – die Welt in eine gute Zukunft führen und dafür Sorge tragen, dass die Gesetze befolgt werden und kein Bürger wahllos dem Tod überlassen wird. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, sollen die Adeligen mit der Technologie ausgestattet werden, die wir allen wünschen würden, die jedoch jenen mit der höchsten Bildung vorbehalten sein soll: Die Lebensverlängerung soll nur den Adeligen zugänglich sein.

Grundgesetz, dritter Abschnitt:

Um diese Welt nicht zu überfordern, sollen alle Menschen, wenn möglich, nur ein Kind zur Welt bringen. Werden Mehrlinge geboren, so trifft die Eltern keine Schuld. Doch jene, die willentlich die Bevölkerung der Erde vermehren, sollen dafür zur Verantwortung gezogen werden. Bei allen Verbrechen trifft die Kinder keine Schuld. Um ihr Wissen weitergeben zu können und die Zahl der Adeligen aufrechtzuerhalten, ist es den Adeligen erlaubt, sofern beide Eltern adelig geboren wurden, zwei Kinder zu bekommen.

Grundgesetz, vierter Abschnitt:

Alle Adeligen, die ihr Wissen geteilt haben soweit sie können und in dieser Welt keine Aufgabe mehr erfüllen, sollen sich, um die Bevölkerung der Erde nicht zusätzlich zu erhöhen, mit ihren Partnern auf dem Mond niederlassen.

ELENA

Mein Tag begann ganz normal. Ich war noch mitten im Tiefschlaf, als die Stimme meiner Mutter mich weckte: »Steh auf, El!«

El stand für Elena. Meine Mutter hatte angefangen, mich El zu nennen, sobald sie sicher sein konnte, dass ich ganz genau wusste, dass ich Elena hieß und nicht El.

Müde rieb ich mir die Augen und schlug die Decke zurück. Es war Winter. Die Kälte ließ mich schaudern. Schnell sprang ich auf und schlüpfte in meine alten Jeans und mein löchriges T-Shirt.

»El?«, rief meine Mutter aus der Küche.

»Komme schon«, dachte ich, bemühte mich aber nicht, das laut zu sagen, denn ich bog bereits um die Ecke. »Mmh, mmh«, brummte ich verschlafen.

»El, hol Wasser.«

»Mmh, mmh«, sagte ich und machte mich auf den Weg.

Um diese Zeit waren die Straßen voller müder Kinder und Erwachsener. Sie alle trugen Wasserbehälter auf dem Kopf, den Schultern oder in der Hand. Vor dem Haus schnappte ich mir einen leeren Kübel und machte mich auf den Weg zum Brunnen. Dort stand bereits eine kleine Menschenmenge. Ich schob mich nach vorne und stellte mich an.

Zum Glück gab es noch genug Wasser. In einem kalten Winter wie diesem froren die Leitungen oft ein. Der automatische Schöpfmechanismus, der das Wasser aus dem Brunnen heraufholte, lieferte dann kein Wasser mehr. Das passierte nicht nur bei kaltem Wetter, sondern auch, wenn es besonders trocken oder heiß war, manchmal auch einfach so. Manchmal fragte ich mich, ob die Maschine absichtlich das Wasser abstellte, damit wir alle verdursteten. Aber das war natürlich Blödsinn.

Auf dem Heimweg beobachtete ich einen der silbrig glitzernden Sternenvögel, wie er mit einem Paket in den Klauen über die Siedlung flog. Mein Vater sagte, dass diese Vögel die Haustiere der Adeligen waren, doch ich war mir nicht sicher, ob er das ernst meinte. Die Vögel flogen stets in geraden Bahnen und so schnell und hoch, dass man sie nur als weißen Stern am Himmel sah.

Ich trug den schweren, schlackernden Kübel mühevoll nach Hause. Mir taten die Arme weh, als ich ihn endlich abstellte.

Doch schon schickte meine Mutter mich, um ein wenig Holz von hinter dem Haus zu holen. Der Stapel war erschreckend klein, doch ich versuchte, nicht darüber nachzudenken. Man durfte kein Holz aus den Wäldern schlägern. Sie waren irgendwie heilig oder so.

Danach kochte ich unseren Reis, was ewig dauerte, da es eine Temperaturbeschränkung gab, die den Ofen kühl hielt. Die Scheibe am Dach, die aus dem Sonnenlicht Strom machte, war zu klein, um mehr Energie zu liefern. Das bisschen Holz, das ich unerlaubterweise in unsere Feuerschale warf, brachte auch nicht viel. Eigentlich durfte man das Holz nur zum Bauen verwenden, aber wir verbrannten das meiste in einem kleinen Kessel, um das Haus zu heizen.

Ich putzte den Boden, bis es Zeit war, meinen Vater zu wecken. Ich ging hinüber in den kleineren der zwei Räume unseres Hauses und sagte leise zu meinem Vater: »Aufstehen, Dad!«

Er begann sich zu wälzen und ich beschloss, das als Wachsein zu werten. Außerdem fror ich bereits und wollte mich neben den Ofen stellen, auf dem meine Mutter das Frühstück zubereitete. Er hatte sich durch das Holz, das wir illegal verbrannten, etwas erwärmt.

»Er ist wach«, sagte ich zu meiner Mutter, als ich mich an den Ofen lehnte.

»Und das gibt dir das Recht, dumm rumzustehen, oder was?«, fauchte sie mich an. Ich seufzte. Eigentlich war es nicht die Schuld meiner Mutter, dass es so viel zu tun gab, aber es war schwer, nicht wütend zu werden, auch wenn ich es mir immer wieder vornahm. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass sie hier geboren worden war. Obwohl es ja eigentlich nicht darauf ankam, wo du geboren wurdest, sondern wer deine Eltern waren. Wären meine Eltern Adelige gewesen, dann wäre ich nicht in einem Barackenviertel aufgewachsen, hätte länger als nur zwei Jahre die Schule besuchen können, müsste nicht jeden Tag Wasser holen und mich von Maschinen drangsalieren lassen. Und vor allem müsste ich nicht jeden Tag in der Fabrik arbeiten.

Nein, wenn ich die Eine aus einer Million Menschen gewesen wäre, die adelig war, dann würde ich in einer Villa leben, jeden zweiten Tag in die Schule gehen und könnte mir von Robotern alles bringen lassen, was ich gerade wollte. Aber wie gesagt, wir alle gehörten zu den 999.999, die nicht-adelige Menschen waren. Zu denjenigen, die von allen Redbloods genannt wurden – Rotblute. So, als hätten die Adeligen wirklich blaues Blut. Es war eine Erinnerung an unseren Stand als minderwertige Menschen.

»He! Seit wann so ungehorsam? Ich dachte, du wärst diejenige, die jeden Tag was zu essen haben will! Also Marsch, geh zum Händler und kauf Reis!«, riss meine Mutter mich aus meinen Gedanken.

»Entschuldigung …«, murmelte ich, griff nach dem wenigen Geld, das wir hatten, und ging zur Tür hinaus. Doch kaum hatte ich das Haus verlassen, rief mir meine Mutter nach: »Was? Was hast du gesagt? Red‘ gefälligst lauter mit mir!«

Genervt drehte ich mich um und steckte meinen Kopf durch die Eingangstür: »Nichts, Mutter, ich habe lediglich ‚Entschuldigung‘ gesagt.« Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern machte mich gereizt auf den Weg.

Ich duckte mich instinktiv, um den Blicken der anderen Menschen auszuweichen. Ich sah einen Mann mit fettigen Haaren und einem fanatischen Glitzern in den Augen, der mit sich selbst redete. Erst, als er seine Finger nach dem langen Zopf eines Nachbarsmädchens ausstreckte, wurde mir klar, was er vorhatte.

Ich atmete tief ein und rang mit mir selbst. Ich wusste den Namen des Mädchens nicht mehr, aber ich hatte sie hier schon öfter gesehen. Ich konnte doch nicht einfach so zuschauen …

Der Mann packte den Zopf und zog kurz an. Mit der anderen Hand riss er ihr ein Päckchen Mehl aus den Armen. Ich sah mich um, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der ihr helfen konnte. Ich spürte, wie sich Erleichterung in mir ausbreitete, als ich einen unserer Nachbarn vor einer Hütte entdeckte. Er war in ein Gespräch vertieft, eine Axt gedankenverloren in der Hand.

»Carter!«, rief ich und winkte ihm zu, damit er mich sah. Er drehte sich um, erblickte mich, als ich meine Hand ausstreckte, um sie auf das zitternde Nachbarsmädchen zu richten. Carters Augen verengten sich und er fing an zu laufen. Ganz kurz dachte ich, er hätte mich falsch verstanden, doch dann sah ich den Dieb mit den fettigen Haaren die Gasse hinuntereilen, seine Schultern gebeugt und seine Arme fest um das Mehl geschlossen. Carter war ihm bereits dicht auf den Fersen. Ich beschleunigte meine Schritte und schloss beide Hände fest um mein Geld.

Beim Händler stand bereits eine Menschentraube, doch das war nichts Ungewöhnliches. Ich schob mich vorsichtig durch die Menge, während ich die Gesichter der Leute genau im Blick behielt. Jeder wusste, dass man hier auf seine Sachen gut aufpassen musste, aber es war etwas anderes, die Tat des Stehlens mitanzusehen. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

 

Eine laute Stimme riss mich aus meinen Gedanken: »He, da! Du! Was willst du?« Ich schaute zu dem Händler hinauf. »Drei Packungen Reis!«, schrie ich zurück. Es waren so viele Menschen hier, die sich laut unterhielten, schrien, oder versuchten, etwas zu essen zu kaufen, dass man meine Stimme kaum hörte. »Da!«, sagte er barsch. Ich drückte ihm das Geld in die Hand und schlang dann die Arme um das Bündel mit dem Reis. Ich wollte kein Risiko eingehen.

Kaum war ich zuhause angekommen, gab es Frühstück. Es war immer sehr still am Frühstückstisch. Ich nahm mir meine Portion Reis und aß schweigend vor mich hin.

Nach dem Frühstück verließen mein Vater und ich die Hütte, um zur Arbeit zu gehen. In der Fabrik arbeiteten fast alle aus unserem Viertel. Eigentlich war es ja gar nicht nötig, dass wir hier schufteten. Eigentlich könnten Roboter unsere Arbeit erledigen, doch die Adeligen wollten, dass wir beschäftigt waren und nicht auf dumme Gedanken kamen. Und da wir alle nichts zum Leben hatten, kam jeder, der alt genug war, um nicht mehr zur Schule zu gehen, hierhin. In meiner Familie arbeiteten mein Vater und ich. Früher hatte meine Mutter auch gearbeitet, aber eines Tages wurde uns alles gestohlen, was wir hatten, weil wir das Haus alleine ließen. Daher blieb sie jetzt zuhause. Zumindest hatte mein Vater mir das so erzählt. Manchmal fragte ich mich, ob es noch einen anderen Grund gab.

***

Es war harte Arbeit. Kaum hatte ich die Fabrik verlassen, ließ ich mich zu Boden sinken und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Bei der Arbeit schwitzten wir auch bei -10°C.

»Hey, komm!«, sagte mein Vater und zog mich hoch. Er schleifte mich ein paar Meter die Gasse hinunter, dann stellte er mich auf die Füße. Ich machte ein paar wackelige Schritte auf meinen müden Beinen, dann machten wir uns gemeinsam auf den Weg nach Hause.

Wie jeden Tag. Wie jede Woche. Wie jeden Monat. Wie jedes Jahr. Wie immer. Für immer. Bis der Tod kam.

LEANDER

Als ich an diesem Morgen aufwachte, fühlte ich mich unruhig. Heute war eine große Prüfung fällig, auf die ich mich wochenlang vorbereitet hatte. Nervös schlug ich die Augen auf. Die Sonne schien durch die Fenster. Ich hatte Merlin, meinen Roboter, gestern gebeten, sie nicht zu verdunkeln, damit ich heute früher aufwachen würde. Ich blieb noch etwas liegen und versuchte, mich auf den Tag vorzubereiten, dann stieg ich langsam aus dem Bett und machte mich auf den Weg zu meinem begehbaren Kleiderschrank.

Ich öffnete die Tür, indem ich sanft die Schnalle berührte, und ging hinein. Auf dem Tisch in der Mitte lag bereits, perfekt gebügelt und gefaltet, der Anzug. Ich schlüpfte flink hinein und kehrte dann in mein Zimmer zurück. Ich sah mich im Spiegel an und fuhr mit meiner Bürste durch meine verwuschelten Haare. Es half wenig und ich drehte mich frustriert um und sah nach draußen. Es war ein wunderschöner Morgen. Da mein Zimmer eine große Glasfront hatte, konnte ich den Schnee unter mir und die Sonne hinter den Baumwipfeln aufgehen sehen. Ich beobachtete, wie eine Drohne unser Haus ansteuerte, vermutlich, um Essen zu liefern. Sie flog an meinem Fenster vorbei und verschwand hinter dem Dach der Bibliothek.

Eine Weile sah ich zu, wie die Sonne immer höher stieg, dann blickte ich auf die Uhr. Sie zeigte bereits neun Uhr an und so verließ ich mein Zimmer, wobei sich die Türe selbstständig hinter mir schloss.

Im Wohnzimmer warteten bereits Merlin und mein Vater.

»Guten Morgen!«, sagten sie gleichzeitig. Mein Vater lächelte, auch Merlin wirkte amüsiert. Ich lächelte nervös zurück.

»Komm her, mein Sohn! Hast du gut geschlafen?«, fragte mein Vater und nahm mich in die Arme. Ich versuchte nicht, mich zu wehren, erstens, weil mein Vater stärker war als ich, und zweitens, weil er mich nur selten umarmte.

»Guten Morgen, Dad. Ja, ich habe gut geschlafen, danke. Und du?«

»Danke, vorzüglich«, antwortete er und ließ mich los.

»Heute ist also der große Tag, nicht wahr? Deine vorletzte Abschlussprüfung! Mein Sohn wird ja richtig erwachsen. Ich kann es nicht glauben. In ein paar Monaten kannst du schon studieren!«, sagte mein Vater und lächelte traurig.

»Ich werde euch nie ganz verlassen. Ich komme euch bestimmt besuchen!«, versprach ich.

»Was darf ich zum Frühstück servieren?«, fragte Merlin. Ich drehte mich zu ihm um. Seine unnatürlich hellblauen Augen schimmerten und auf seinem Gesicht lag sein übliches Lächeln. Sonst verriet nichts, dass er kein echter Mensch war.

»Ich denke, Eier wären gut«, sagte ich.

»Wie Sie wünschen, Leander«, antwortete er höflich und ging in die Küche. Ich hatte nie ganz verstanden, warum Roboter ihre Herren siezten und doch den Vornamen benutzten, doch mein Vater meinte, erst wenn der Besitzer erwachsen war, wurde er mit seinem Nachnamen angesprochen.

Ich setzte mich an den Küchentisch und sah zu, wie die Schatten auf dem Boden kürzer wurden, als die Sonne höher stieg. Auch hier hatten wir eine Seite des Raumes komplett verglast. Bereits nach wenigen Minuten unterbrach Merlin meine Gedanken: »Ich habe Ihnen das übliche Omelett gemacht, Leander. Möchten Sie noch etwas anderes? Was kann ich Ihnen denn zu trinken bringen?«

»Eine Tasse Tee und eine Scheibe Brot, bitte.«

»Und für Sie, Mr. Merrywith?«, richtete Merlin sich an meinen Vater, der sich neben mich an den Tisch gesetzt hatte.

»Ich würde auch eine Tasse Schwarztee mit Milch nehmen.«

»Entschuldigen Sie vielmals, Leander, ich habe nicht mitgedacht, ich hatte einfach angenommen, dass Sie mit Tee Schwarztee meinen. Verzeihen Sie?«

»Natürlich verzeihe ich, es stimmt ja auch. Ich hätte gerne Schwarztee mit Milch, bitte«, sagte ich leicht amüsiert. Merlin war wie alle Roboter darauf trainiert worden, seinen Herrn zu respektieren, doch offenbar hatte der Programmierer übertrieben. Wir hätten seine Programmierung natürlich auch ändern können, aber ich mochte es so. Merlin konnte mich immer ablenken. Ich musste oft lachen, wenn er zu höflich war.

»Natürlich.« Merlin nickte dankbar. »Darf ich Ihnen während des Essens die neuesten Nachrichten vorlesen?«

Mein Vater sah interessiert auf, was Merlins scharfen Augen nicht entging. »Ich habe hier die neuesten Aktienkurse für Sie, das aktuelle Fernsehprogramm für alle 1.200 verfügbaren Kanäle oder vielleicht die neuesten politischen Meldungen von einem Parlamentarier, der angeblich eine Affäre mit einer Redblood hatte.« Während er sprach, erschienen in der Luft Hologramme, die um den Esstisch herumschwebten und passende Bilder präsentierten.

Mein Vater lachte und sah sich eines der Hologramme an, das das Gesicht eines gutaussehenden Mannes zeigte.

»Ich glaube ja nicht, dass diese Gerüchte wahr sind. Kein hochrangiger Politiker würde jemals … Wie dem auch sei, selbst wenn, könnte man ihm ja rein theoretisch kein Verbrechen anlasten. Trotzdem, Leander …« Er wandte seinen Blick von dem Hologramm ab und drehte sich zu mir. »Tu mir das bitte nicht an und halte dich von den Redbloods fern.« Er zwinkerte und ich lachte.

Als ich gerade mit dem Frühstück fertig wurde, kam meine Mutter herein. Sie schlief gerne lange und war vermutlich nur aufgestanden, um mir viel Glück zu wünschen. Sie war ganz anders als mein Vater: Ihre braunen Augen waren stets warm und freundlich. Außerdem schien sie fast so oft zu lächeln wie Merlin, obwohl es bei ihr viel natürlicher wirkte. Ihre braunen, hüftlangen Haare glänzten und wehten hinter ihr her, als sie auf uns zukam, da sie noch keine Zeit gehabt hatte, sie kunstvoll flechten zu lassen.

Sie ließ die Tür offen. Hinter ihr kam Sally, ihre treue Roboterfrau, leise ins Zimmer und schloss sie sanft.

»Mary, du bist ja schon wach!«, bemerkte mein Vater.

»Ja, Cassander, ich wollte doch Leander vor der Prüfung viel Glück wünschen!«, sagte meine Mutter und lief leichtfüßig auf mich zu. Im Gegensatz zu meinem Vater umarmte sie mich oft, denn sie war generell jemand, der die Leute schnell ins Herz schloss. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass das ihre Rollen waren: Mein Vater war immer wie ein Vorbild für mich gewesen, ihn fragte ich um Rat, aber meine Mutter war immer meine erste Anlaufstelle, wenn es mir nicht gut ging, besonders, wenn ich als Kind geweint hatte. Sie war ruhig und wie eine persönliche Sonne für mich. Ich liebte sie, tief und innig, egal wie kindisch das klingen mochte. Ich war schließlich schon fast 17 Jahre alt. Aber bei meiner Mutter hatte ich nie das Gefühl, dass ich aufpassen musste, wie ich mich benahm. Sie liebte mich und sie zeigte das so offen, dass ich mich in dieser Gewissheit geborgen fühlte.

Sanft zog sie mich aus ihrer Umarmung. »Ich bin so stolz auf dich«, sagte sie und lächelte traurig. Ich konnte in ihren Augenwinkeln Tränen entdecken. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände.

»Ich werde dich immer lieben, egal, was du tust. Aber ich bin ganz sicher, dass du das heute wunderbar machen wirst. Du bist so schlau, du schaffst das bestimmt. Und vergiss nie: Wenn du nicht perfekt wärst, so wie du bist, dann hätte Gott dich nicht so geschaffen!« Sie schlug die Augen nieder und Tränen rannen unter ihren perfekten Wimpern hervor. Sie gab mir, ohne die Augen zu öffnen, einen Kuss auf jede Wange. Dann ließ sie mich los. Sie öffnete langsam die Augen und flüsterte: »Viel Glück!«

»Mary!«, sagte mein Vater bestimmt. »Er geht ja heute noch nicht weg, oder? Erst einmal müssen wir noch ein College für ihn finden!« Er sah meine Mutter streng an.

Das war ebenfalls typisch: Mein Vater war immer ruhig und gelassen und zeigte selten Gefühle. Meine Mutter zeigte sie stets, aber auch, wenn mein Vater das behauptete, glaubte ich nicht, dass es sie schwach machte. Sie war so offen, dass man einfach nicht anders konnte, als ihr zu vertrauen.

Mary warf ihrem Mann einen Blick zu, in dem wie immer Liebe lag, aber auch etwas Drängendes.

»Er wird bald 17. Lange wird er nicht mehr bleiben. Und irgendwann wird er die Frau seines Lebens finden. Und dann …«, sie lächelte, »wird er nicht mehr kommen müssen.« Es lag etwas Neckendes in ihrem Ton, aber ihr Gesicht war immer noch nass von den Tränen.

LEANDER

Als ich an diesem Morgen zur Schule kam, sah ich schon von weitem meinen besten Freund, Norman. Wir kannten uns seit der ersten Klasse. Ich winkte ihm und er winkte zurück. Auch er wirkte aufgeregt.

»Fahr nach Hause. Ich sage dir Bescheid, wenn du mich abholen sollst, Merlin.« Merlin hatte mich wie jeden Morgen mit dem fliegenden Auto, dem EFV, wie es richtig hieß, dem »Electronic Flying Vehicle«, zur Schule gebracht und sollte jetzt zuhause aufräumen und auf mich warten. Ich würde ihn anfunken, wenn er mich abholen konnte.

Bevor Merlin irgendetwas sagen konnte, ging ich zu Norman hinüber. »Guten Morgen!«

»Guten Morgen«, murmelte er nervös.

»Hey, verunsichere dich nicht. Es ist alles okay. Du wirst die Prüfung bestimmt fehlerlos bestehen!«

Norman schüttelte unsicher den Kopf und ging ins Schulgebäude. Ich seufzte. Wie sollte ich ihn beruhigen, wenn ich doch selbst so nervös war? Ich seufzte ein weiteres Mal und folgte ihm nach drinnen.

Alle waren aufgeregt. Ich setzte mich an meinen Platz neben Norman und fuhr meinen Computer hoch. Norman war gerade dabei, das Französisch-Testprogramm zu starten. Er drehte sich zu mir um und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Bist du auch so nervös?«

»Ja, sehr. Mehr als du vielleicht.«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Es beruhigt mich, wenn du auch nervös bist.«

Ich legte meine Hand sanft auf seine klopfenden Finger. Es war unüblich für Adelige, so etwas zu tun. Normalerweise waren wir stets gelassen und machten alles langsam und mit Bedacht. Schließlich wurden wir, wenn wir einmal erwachsen waren, nicht mehr älter. Es eilte also nicht.

Norman sah zerknirscht aus und zog seine Hand weg. Ich seufzte noch einmal und beschäftigte mich mit meinem Computer.

Kurz darauf kam der Prüfer herein. Er trug einen Anzug und bewegte sich ein bisschen wie in Zeitlupe. Er musste sehr alt sein, auch wenn er aussah wie zwanzig. Er drehte den Lehrercomputer auf und begann die Namen der Klassenmitglieder vorzulesen, um die Anwesenheit zu überprüfen. Norman kam vor mir dran, doch da wir nur 15 Schüler und Schülerinnen waren, dauerte es nicht lange.

 

»Edwards, Norman Harry?«

Norman räusperte sich. »Anwesend«, sagte er, seine Stimme klang kräftiger.

Schließlich war auch ich dran:

»Merrywith, Leander Soleil?«

Ich holte tief Luft: »Anwesend.«

Schließlich startete die Prüfung. Ich fand die Aufgaben gar nicht so schlimm und ich spürte, wie meine Nervosität sank, doch als nach drei Stunden bald die Zeit ablief, wurde ich wieder nervös. Schnell las ich mir meine Arbeit ein letztes Mal durch. Ich fand noch ein paar Fehler und war gerade beim vorletzten Abschnitt angekommen, als der Prüfer laut »Schluss!« rief und sich das Programm selbstständig herunterfuhr. Ich starrte auf meinen Bildschirm. Mein Bildschirmschoner zeigte wie immer eine Diashow. Gerade sah ich ein Schloss, das eine Universität beherbergte. Es war zwar eine längere Zugfahrt entfernt, genoss allerdings einen sehr guten Ruf und ich würde deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach dort studieren.

Neben mir seufzte Norman. Er hatte normalerweise mehr Selbstvertrauen, doch Sprachen lagen ihm nicht so. Nach seiner anfänglichen Nervosität schien er sich jetzt etwas beruhigt zu haben. Seine Hände waren zwar immer noch zu Fäusten geballt, aber ansonsten sah er komplett entspannt aus. Sein Gesicht war ein Pokerface.

»Oh Gott! Leander, was heißt ‚kosten‘ auf Französisch?«

Ich versuchte nicht, ihn davon abzuhalten, mir Fragen zu stellen, in der Hoffnung, dass es mich ablenken würde. Außerdem machte es Norman glücklich.

Überall im Raum waren bereits leise Gespräche im Gange und so seufzte ich und antwortete dann: »Meinst du, im Sinne von Preis? ‚Coûter‘.«

»Gut, dann habe ich das richtig. Und …« Er brach ab. Er wusste, dass ich es nicht mochte, wenn wir Arbeiten im Nachhinein durchgingen. Vor allem, da die Computer in zehn Minuten die Prüfungsergebnisse ausgewertet haben würden und es daher keinen Sinn hatte, zu diskutieren.

»Danke«, sagte ich leise und setzte dann hinzu: »Was machst du heute noch?«

»Meine Eltern werden vermutlich mit mir essen gehen und ich werde noch für die Mathematikprüfung in drei Wochen lernen. Außerdem arbeitet mein Vater an einem neuen Gesetzesvorschlag und hat mich gebeten, mit ihm zu einem Geschäftsessen zu gehen. Und was ist mit dir? Hast du dir für die Prüfung schon etwas angeschaut?«, fragte er.

»Na ja, meine Eltern haben geplant, dass wir am Abend bei Freunden sind, aber da ich noch nicht für die Mathematikprüfung gelernt habe, bin ich mir nicht sicher, ob es klug ist, mitzugehen.«

Jetzt sah er mich komisch an. Das war nicht gerade, was zum Beispiel mein Vater sagen würde, aber ich musste wirklich noch lernen. Egal, sagte ich mir, das geht sich aus. Und wenn du dir das gut einteilst, bleibt auch noch Zeit für etwas anderes.

»Du bist so gut in der Schule, du musst bestimmt nicht heute schon den ganzen Abend lernen«, fand auch Norman. Ich lächelte. Gut in der Schule. Ach ja. Schließlich war es so, dass alle ein »Fehlerlos« anstrebten. Und die meisten bekamen es auch.

»Du hast recht«, lenkte ich ein. »Ich werde natürlich mit meinen Eltern unsere Freunde besuchen gehen. Mein Vater würde mich ohnehin nicht zuhause bleiben lassen.«

Norman nickte. Wenn man gute Beziehungen hatte, dann vereinsamte man nicht so leicht und blieb gesund und lebensfroh, wie mein Vater immer sagte.

»Ich denke, ich werde meinem Vater auch zusagen. Es wird bestimmt interessant, einen Einblick in die Politik zu bekommen und etwas über unser Rechtswesen zu lernen. Er hat gesagt, sein neues Gesetz wird dafür sorgen, dass gefährliche Adelige besser überwacht werden und das Justizsystem gerechter wird. Außerdem versucht er, neue Regelungen für Redbloods durchzusetzen.«

Bevor ich mir überlegen konnte, was das zu bedeuten hatte, wurde ich durch plötzliche Stille aus meinen Gedanken gerissen. Alle Gespräche waren verstummt. Der Prüfer stellte sich vor die Klasse und sagte mit gewichtiger Stimme: »Die Ergebnisse sind gekommen.«