Krisendemokratie

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Krisendemokratie
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Tamara Ehs

KRISENDEMOKRATIE

Sieben Lektionen aus der Coronakrise

mandelbaum verlag

mandelbaum.atmandelbaum.de

ISBN 978-3-85476-893-7

eISBN 978-3-85476-704-6

© mandelbaum verlag, wien • berlin 2020

alle Rechte vorbehalten

Lektorat: ELVIRA M. GROSS

Satz: KEVIN MITREGA

Umschlag: MARTIN BIRKNER

Inhalt

Vorwort

Lektion 1

Lektion 2

Lektion 3

Lektion 4

Lektion 5

Lektion 6

Lektion 7

Nachwort

Utopie

Vorwort

Die Akutphase der CoViD19-Krise ermöglichte wie ein Brennglas den Blick auf die Stärken und Schwächen der österreichischen Demokratie. Wo es gute Routinen gab, funktionierten die Abläufe auch im Stress der Ausnahmesituation. Jene Bereiche, in denen das politische System aber schon im Regelzustand holprig läuft, gerieten in der Krise zum Stolperstein. Das betraf unter anderem das Selbstverständnis und damit die Handlungsmacht des Parlaments, die Stellung von Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung bei der politischen Entscheidungsfindung, die sozioökonomische Repräsentation der Bevölkerung und entsprechende Responsivität in der politischen Elite sowie die Beziehung der reichweitenstarken Medien zur Regierung.

Wenn es aus Sicht der Politikwissenschaft etwas aus der Krise zu lernen gibt, dann das: die Demokratie besser auf Ausnahmesituationen vorzubereiten, indem man bereits den Regelzustand korrigiert. Die Bundesverfassung liefert zwar seit 100 Jahren eine praktikable Handlungsanleitung – wie sich zuletzt 2019 in der Ibiza-Affäre und nachfolgender Regierungskrise eindrücklich gezeigt hatte – darüber hinaus muss aber die Demokratie immer wieder aufs Neue mit Leben erfüllt und verteidigt werden. Ebenso wie Brandschutzübungen gesetzlich vorgeschrieben sind oder Spitäler ihre Notfallpläne immer wieder adaptieren, müssten auch demokratische Abläufe nach jeder Krise einer Prüfung unterzogen werden: Was hat gut funktioniert? Was können wir verbessern? Was müssen wir unbedingt ändern, um beim nächsten Mal klüger zu agieren? Denn das nächste Mal kommt bestimmt. Sei es abermals eine Pandemie, ein terroristischer Anschlag oder am wahrscheinlichsten: ein Klimanotstand aufgrund der fortschreitenden und nicht hinreichend bekämpften Erderhitzung. Keines dieser Schreckensszenarien muss aber bedeuten, dass wir die Demokratie in Quarantäne schicken.

Im emotionalen Ausnahmezustand fällt es oft schwer, rationale Entscheidungen zu fällen. Beherrschen zudem Parteien und Politiker*innen das Geschehen, die der autoritären Versuchung ohnehin nicht abgeneigt sind, besteht eine Gefahr für das demokratische Zusammenleben, die über den Anlassfall hinausgeht. Zwar kann ein starker Rechtsstaat einige grobe Verwerfungen im Nachhinein wieder ausgleichen, doch das Vertrauen ins politische System und seine Institutionen, in die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit der Demokratie an sich, ja auch das soziale Vertrauen ineinander sind dann meist schon nachhaltig beschädigt. Umso wichtiger ist es daher, bereits im Regelzustand eine krisenfeste Demokratie zu etablieren und zu stärken. Demokratische Abläufe und die Sicherstellung ihrer sozialen Grundlagen müssen mehr als bisher zur Daseinsvorsorge gezählt werden – Demokratie als gemeinsames Recht auf das, was alle brauchen. Um mit dem Vokabular der Coronakrise zu sprechen: Demokratie ist systemrelevant.

Dieser Essay nahm seinen Anfang, als mich APA-Science Ende März 2020 um einen Text für die Rubrik »CoronaAlltag« bat. Ich verfasste basierend auf den ersten Erfahrungen der Akutphase eine »(Not)-To-do-Liste: Coronakrise und Demokratie«, die in aller Kürze aufzeigte, was hinsichtlich demokratischer Abläufe gut funktionierte und was bereits bedenklich aus dem Ruder lief. Swissinfo, die öffentlich-rechtliche Nachrichtenplattform der Schweiz, und Democracy International, ein globales Netzwerk zur Stärkung von direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung, nahmen meine Gedanken in weiteren Beiträgen auf, zumal sich international ähnliche Verwerfungen im Umgang mit demokratischen Grundrechten abzeichneten wie in Österreich. Vielerorts traten die Extreme zum Vorschein: Bereiche des demokratischen Aushandlungsprozesses, die schon in sogenannten Normalzeiten vernachlässigt sind, fanden in der Stunde der Not gar keine Einflussmöglichkeit mehr vor. Politische Entwicklungen und Handlungsweisen, die bereits zuvor hegemonial waren, wurden nun eine Zeit lang gar nicht mehr konfrontiert. In ihrer Zuspitzung offenbarte die CoViD19-Krise mit bislang ungekannter Vehemenz, wo demokratische Routine im Sinne von Pluralismus und Vielstimmigkeit fehlt.

Intellektuellen Anreiz fanden meine Überlegungen zur Demokratie in der Coronakrise im Gesprächskreis #besserentscheiden, den der Politikberater Andreas Kovar vor einigen Jahren ins Leben gerufen hatte. Parteiübergreifend mit Politiker*innen, Wissenschafter*innen und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft besetzt, sahen wir unsere langjährige Kritik am österreichischen politischen System in der Krise bestätigt. Vorschlägen, wie wir sie seit 2015 im Leitbild Parlament oder im Grünbuch: Offene Gesetzgebung entwickelt hatten, schien die CoViD19-Krise Nachdruck zu verleihen. Mehr denn je hätte das politische Verfahren institutionalisierte Abläufe nötig gehabt, die auch in der Ausnahmesituation und gebotenen Eile Deliberation und breite Beteiligung ermöglichten. Einige unserer Ideen und Utopien stelle ich am Ende des Essays vor.

Die Politikwissenschaft kann in der Krise anbieten, was auch sonst ihre Maxime ist: einen Beitrag zur Stärkung der politischen Urteilskraft zu leisten. Denn selbst wenn wir in Bezug auf ein neuartiges Virus immunologisch naiv sind, können wir mit Blick über die Grenzen oder in unsere eigene Geschichte autoritäre Tendenzen sehr wohl frühzeitig erkennen und uns gegen einen Shutdown der Demokratie zur Wehr setzen. Das Buch richtet sich daher an alle Demokratinnen und Demokraten und an jene, die es noch werden wollen. Es zieht sieben Lektionen aus der Akutphase (März/April 2020) der CoViD19-Krise und fordert von allen Beteiligten – Politiker*innen, Medienvertreter*innen und Zivilgesellschaft – mehr Bemühen um die Verteidigung der Demokratie ein.

Der Philosoph Walter Benjamin ging davon aus, »dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist«. Ökonomische Unsicherheit, Abstiegsängste, schlechte Teilhabechancen trotz guter Ausbildung, die Erosion von Zukunftsgewissheit und schließlich verminderte Möglichkeiten einer planbaren, zukunftsorientierten Lebensführung stellten bereits vor dem 16. März 2020 die Realität allzu vieler Menschen dar. Die Coronakrise erweiterte allerdings jene »Zone der Verwundbarkeit«, wie der französische Soziologe Robert Castel die neue soziale Frage nannte, und warf Schlaglichter auf massenhaft gewordene prekäre Arbeitsverhältnisse und verschärfte soziale Ungleichheiten. Deren Einfluss auf die Stabilität der Demokratie und ihre Wehrhaftigkeit gegen eine autoritäre Übernahme ist hinlänglich bekannt. Was, wenn die soziale Katastrophe bereits zuvor eingetreten war, aber erst in der Krise zur Kenntlichkeit entstellt wurde? Dieser Essay ist daher allen Armutsbetroffenen, prekär Beschäftigten, Alleinerziehenden, Mindestpensions- und Notstandshilfebezieher*innen gewidmet, für die bereits der Regelzustand alles andere als normal war.

Ich danke Martin Birkner vom Mandelbaum Verlag, der dieses Buch bereits unterstützte, als er nur ein Titelfragment kannte, Democracy International e. V. für die finanzielle Förderung während der Texterstellung sowie Susanne Giendl, Christoph Konrath, Konrad Lachmayer, Matthias Lemke, Alfred J. Noll und Alexander Somek für die kritische Durchsicht (von Teilen) des Manuskripts und Elvira M. Gross für das sorgfältige Lektorat. Alle noch verbliebenen Fehler und Ungereimtheiten gehören nun alleine mir. Ganz besonderer Dank gebührt Vincent. Ohne ihn wäre das krisenbedingte Daheimbleiben nicht halb so lustig gewesen.

Tamara Ehs

P. S.: Aufgrund des schnelllebigen Themas ist bei der Lektüre darauf zu achten, dass der Essay Anfang Juni 2020 abgeschlossen wurde und daher auf spätere Entwicklungen nicht eingegangen werden kann. Wissenschaft ist ein iterativer Prozess; man nähert sich dem Forschungsgegenstand schrittweise an. Ein erster Schritt ist mit Blick auf das österreichische Krisenregime der Akutphase getan, einen weiteren unternehme ich mit dem in Planung befindlichen Forschungsverbund »Ausnahmezustand in der Weltgesellschaft. Nationale Krisenbewältigung während der Coronapandemie im Vergleich«. Dieses Projekt wird unter der Leitung der deutschen Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in den nächsten vier Jahren einen global angelegten Vergleich der rechtlich, politisch und kommunikativ durchgeführten Krisenbewältigungsstrategien ziehen.

 

Lektion 1

Das Parlament muss tagen, um den konstitutionellen Ausnahmezustand zu verhindern und damit wenigstens die Opposition ihrer Kontrollfunktion nachkommen kann. Es muss aber auch inhaltliche Alternativen diskutieren. Die bloße Administration des Krisenregimes schadet der Demokratie.

Krisenzeiten seien die »Stunde der Exekutive«, bekam man in den ersten Tagen der CoViD19-Krise in vielen Kommentaren zu lesen und zu hören. Ein Blick auf die zahlreichen, stets eilig einberufenen Pressekonferenzen und die mediale Omnipräsenz von Regierungsmitgliedern mag diese Schlussfolgerung nahelegen; doch allein auf die österreichische Bundesverfassung besehen, stimmt sie nicht. Das B-VG kennt im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen nämlich kein umfassendes Notstandsrecht, sondern verpflichtet die Regierung, sich auch in Ausnahmesituationen, in denen schnelles Handeln geboten ist, dem parlamentarischen Verfahren zu fügen und den normalen Gesetzgebungsweg zu gehen. Einzig wenn der Nationalrat – zum Beispiel aufgrund der plötzlichen und gleichzeitigen Erkrankung von mehr als zwei Drittel seiner Abgeordneten – nicht zusammentreten kann, dann und nur dann dürfte der Bundespräsident auf der Grundlage des Artikels 18 Absatz 3 B-VG »zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit« Notverordnungen anstelle von Gesetzen erlassen. Aber auch in diesem Fall wäre er an einen Vorschlag der Bundesregierung gebunden, der wiederum mit dem »Ständigen Unterausschuss des Hauptausschusses« abgestimmt sein muss; im »Ständigen Unterausschuss« sind alle Parlamentsparteien gemäß den Mehrheitsverhältnissen vertreten.

Jede auf diese Weise erlassene Notverordnung muss unverzüglich dem Nationalrat vorgelegt werden, der dann vier Wochen Zeit hat, um entweder an Stelle der Verordnung ein entsprechendes Bundesgesetz zu beschließen oder die Bundesregierung zu verpflichten, die Verordnung sofort außer Kraft zu setzen. Demnach könnten auch in der größten Not und höchsten Dringlichkeit weder Bundesregierung noch Bundespräsident allein und eigenmächtig handeln. Denn die österreichische Verfassung gliedert alle Staatsorgane in ein »System rechtstechnischer Maßnahmen, die den Zweck haben, die Rechtmäßigkeit der Staatsfunktionen zu sichern«, schrieb schon ihr maßgeblicher Autor Hans Kelsen. Ins B-VG sind durch die Gewaltenverschränkung auch und gerade für den Krisenfall Vorsichtsmaßnahmen eingebaut, um einen Alleingang der Exekutive zu verhindern. Niemals dürfe es parlamentslose Zeiten geben, warnte Kelsen.

Mit dem Ziel, die Bundesregierung und den Bundespräsidenten erst gar nicht in die Verlegenheit kommen zu lassen, Notverordnungen in Anspruch zu nehmen, entschloss sich der Nationalrat in der Sitzung vor Ostern für seine Verkleinerung in Relation zu den gegebenen Mehrheitsverhältnissen und trat mit nur 96 Abgeordneten zusammen. Mithilfe dieser Maßnahme sollte der seuchenhygienische Sicherheitsabstand zwischen den einzelnen Nationalratsabgeordneten gewährleistet werden, um vor Ort Ansteckungen und folglich eine Grundlage für die Verwendung des Artikels 18 Absatz 3 bis 5 B-VG zu verunmöglichen. Mit 96 Personen waren noch immer genug Nationalratsabgeordnete anwesend, um Verfassungsgesetze zu beschließen. Für einen normalen Gesetzesbeschluss hätte auch die Anwesenheit von bloß 61 Abgeordneten, also einem Drittel, genügt.

Die Vorsichtsmaßnahmen des Nationalrats sowie des B-VG sind institutionelle Mittel, um die Gefahr einzudämmen, dass Krisen zum Einfallstor für den autoritär verwalteten Ausnahmezustand werden. Obwohl auch in Österreich das Parlament traditionell – bis auf die kurze Zeit der sogenannten »Expertenregierung« unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein – von der engen Verbindung zwischen Regierung und Regierungspartei(en) gekennzeichnet ist, kommt ihm als Ort der Öffentlichkeit eine besondere Bedeutung zu. Denn aufgrund der medialen Omnipräsenz von Kanzler, Vizekanzler und Minister*innen erhält das Regierungshandeln insbesondere im Krisenmodus überragende Aufmerksamkeit. Bleibt zudem das kritische Hinterfragen durch Medienvertreter*innen aus, stellt sich rasch ein Bild der Alternativlosigkeit ein. Diesem mit einem eigenen Maßnahmenkatalog und als Korrektiv entgegenzutreten, gelingt Oppositionsparteien dann nur, wenn ihnen das Parlament als Bühne zur Verfügung steht. Die Politikwissenschaft spricht deshalb von der »Tribünenfunktion« des Parlaments. Insbesondere der Nationalrat stellt den Ort dar, an dem Debatten und Entscheidungen öffentlich werden müssen. »Hier ist die Regierung verpflichtet, zu kommen, Rede und Antwort zu stehen und sich den parlamentarischen Verhaltensregeln zu unterwerfen. Dies ist von so großer Bedeutung, weil es für den Bereich der Regierungen und Verwaltungen keine Tradition (und Theorie) der Öffentlichkeit und geregelten Debatte gibt«, erinnert der Mitarbeiter der Parlamentsdirektion Christoph Konrath.

Die Verpflichtung der Regierungsmitglieder, Rede und Antwort zu stehen, findet ihre gesetzliche Grundlage im Zitationsrecht des Nationalrats (Paragraph 18 GOG), das allerdings als Mehrheitsrecht ausgestaltet und daher auf die Stimmen von Regierungsparteien angewiesen ist. Als Bundeskanzler und Regierungsmitglieder dem Nationalrat Ende April zwar ihre weiteren Maßnahmen in der CoViD19-Krise darlegten, danach aber den Saal verließen, ohne die Debatte anzuhören, stellten Abgeordnete der Oppositionsparteien einen entsprechenden Antrag auf (verkürzt genannt) »Herbeischaffung«, der allerdings keine hinreichende Unterstützung fand. Der von Oppositionsparteien und kritischen Beobachter*innen oft getadelten – weil als »Missachtung des Parlaments« interpretierten – Abwesenheit von Regierungsmitgliedern (sei sie nun eine tatsächlich physische oder wegen übermäßiger Handynutzung vermutete geistige Abwesenheit) ist schließlich kaum beizukommen.

Der Nationalrat hat mittlerweile aber auch einige Kontrollrechte, die nur von einer Minderheit der Abgeordneten, also mitunter alleine von den Oppositionsparteien, wahrgenommen werden können. Das gegenüber der Öffentlichkeit wichtigste Instrument stellt wohl der Untersuchungsausschuss dar. Seit 2015 ist seine Einsetzung als Minderheitenrecht ausgestaltet; schon ein Viertel der Abgeordneten (das heißt mindestens 46 Personen) kann ihn beantragen und so die Geschäftsführung der Bundesregierung in bestimmten Angelegenheiten genau überprüfen. Mit Untersuchungsausschüssen ergreifen Oppositionsparteien eine Möglichkeit, der medialen Dominanz der Regierungskommunikation entgegenzutreten. Nach der Akutphase der CoViD19-Krise begannen sich ab Anfang Mai die Stimmen zu mehren, einen »Corona-Untersuchungsausschuss« einzusetzen. Dieser solle nach dem »Ibiza-Untersuchungsausschuss« und nach Ablauf eines Jahres, also im Frühling 2021, anfangen, die von der Regierung gesetzten Maßnahmen zu untersuchen.

In Österreich, wo ein allgemeines Informationsfreiheitsgesetz noch immer auf sich warten lässt und auch die parlamentarische Kontrolle überwiegend nachgängig ausgelegt ist, wäre es aber von Vorteil gewesen, in solch einer politischen Ausnahmesituation bereits ein begleitendes Kontrollinstrument zu etablieren. Aus demokratiewissenschaftlicher Sicht umso bedauerlicher war es, dass der Nationalrat nicht gleich zu Beginn der Krise einen »Coronaauschuss« eingesetzt hatte, um die COVID-19-Maßnahmengesetze der Regierung einer ergänzenden kritischen Reflexion zu unterziehen. Gleichzeitig mit dem Allparteienbeschluss der Ermächtigungsgesetze hätte ein Allparteienausschuss seine Arbeit aufnehmen können. Vorzugsweise unter der Vorsitzführung einer*eines Oppositionellen hätte jener Ausschuss in Permanenz nach den wertenden Kriterien und Entscheidungsgrundlagen der Regierung gefragt und diese öffentlich gemacht. Rechtlich hätte es sich um einen Unterausschuss gehandelt. Für dessen Einrichtung hätte man aber nicht nur eine Mehrheit in einem bestehenden Ausschuss (zum Beispiel im Finanz- oder Gesundheitsausschuss), sondern wohl auch eine Verfassungsänderung gebraucht, weil der Unterausschuss besondere Rechte (etwa auf Vorlage von Dokumenten und auf Öffentlichkeit) beanspruchen würde. Mit genügend politischem Druck und Einigkeit hätte die Opposition diesen Unterausschuss im Austausch mit dem »nationalen Schulterschluss« wohl durchsetzen können.

Solch ein begleitendes Kontrollinstrument hätte unter anderem Einsicht in die Beratungsprotokolle der Taskforce Corona gefordert, die der Öffentlichkeit schließlich nur durch Whistleblower und Leaks an Zeitungen zugänglich wurden. Parlamentarische Kontrolle dient der Informationsgewinnung und deren Veröffentlichung; sie ist außerdem »das einzige (formelle) Mittel der Parlamentarier*innen […], um an Informationen aus dem Bereich der Regierung zu gelangen. Damit wird sie zu einer primären Wissensressource in diesem Bereich«, so Christoph Konrath weiter. Leider gehört es nicht zum Selbstverständnis des österreichischen Nationalrats, dass die Abgeordneten der Regierungsparteien »ihre« Regierung einer Überprüfung unterziehen. Das Ausbleiben solch einer Kontrolle veranlasste Kritiker*innen der Parlamentswirklichkeit wie den ehemaligen oppositionellen Nationalratsabgeordneten Alfred J. Noll, den Nationalrat beziehungsweise vor allem die Abgeordneten der Regierungsparteien abermals als »Erfüllungsgehilfen der Regierung« zu bezeichnen.

Obwohl die österreichische Verfassung kein Ausnahmerecht kennt, hatte das Parlament durch umfassende Ermächtigungsgesetze das Ruder aus der Hand gegeben, sodass sich die CoViD19-Krise doch noch zur »Stunde der Exekutive« wandelte. Denn zu den politischen Inhalten, die aufgrund der im COVID-19-Maßnahmengesetz vom 16. März in den Paragraphen 1 und 2 festgehaltenen Verordnungsermächtigung gesetzt wurden, hatte das Parlament fortan nichts mehr zu sagen. Es hatte sich selbst aus dem Spiel genommen, das Heft aus der Hand gegeben und vom Inhalt der Politik, der doch eigentlich seine Hauptbeschäftigung darstellen sollte, verabschiedet. Die zunehmende »Exekutivierung« des politischen Geschehens ist zwar nicht neu und wird auch längst politikwissenschaftlich beklagt; die Krise zeigte diese Entwicklung jedoch in einer Verdichtung und Klarheit, die Demokrat*innen erschaudern lassen muss: Noch nie wurde so wenig Politik durch das Parlament gemacht wie in jenen Tagen. Manfred Matzka, vormals Präsidialchef des Kanzleramts und zuletzt Berater von Bundeskanzlerin Bierlein, verglich die CoViD19-Ermächtigungsgesetze, die ohne gründliche parlamentarische Debatte und noch dazu in Sammelgesetzen eilig in Kraft gesetzt worden waren, gar mit dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917, auf dessen Grundlage 1933 der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt und der Austrofaschismus nach der politischen auch gesetzliche Realität wurde.

Damit im auf diese Weise selbst verursachten »Verordnungsstaat« (Alfred J. Noll) wenigstens die Opposition noch ansatzweise ihrer Kontrollfunktion nachkommen kann, ist es notwendig, dass Parlamente alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um überhaupt zusammentreten zu können. Die parlamentarische Demokratie benötigt die physische Begegnung, um auch für die Bevölkerung sichtbar zu sein und Gegenentwürfe sowie Korrektive zur Regierungspolitik in den diskursiven Prozess zu bringen. Der Rechtswissenschafter Uwe Volkmann von der Goethe-Universität Frankfurt kritisierte, dass zwar in vielen Parlamenten während der CoViD19-Krise ein notdürftiger Betrieb aufrechterhalten worden war, »wenn auch nicht in einem unmittelbar politischen Sinne, das heißt als Austrag grundsätzlicher Alternativen, sondern auf die technisch-administrativen Fragen der Erreichung eines als alternativlos anerkannten Ziels bezogen«. In der pluralistischen Demokratie ist keine Maßnahme alternativlos. Doch gerade in angstbesetzten Krisensituationen wie angesichts CoViD19 neigten selbst ansonsten kritische Journalist*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zur Schockstarre und zum Eintritt in den nationalen Schulterschluss des »Team Österreich«. Auch die Oppositionsparteien trugen diese gelebte Negation der pluralistischen Demokratie beinahe einen Monat lang mit. Umso wichtiger war es, dass die Tagungsfähigkeit trotzdem aufrecht erhalten wurde, wenn auch die parlamentarische Kontrolle nur mit Verzögerung einsetzte.

Der österreichische Nationalrat traf sich während der Coronakrise entweder in geschrumpfter Zusammensetzung oder auf zwei Stockwerke verteilt, um genügend physischen Abstand sicherzustellen. Andere Parlamente wie etwa jenes der Schweiz wichen auf einen größeren Raum aus und traten im Messegelände der Bern-Expo zusammen; wieder andere nutzen Videokonferenzen, um die »virtuelle Anwesenheit aufrechtzuerhalten. Es geht um die Selbstbestimmung der freien Abgeordneten und um die Selbstbestimmung der Gesellschaft«, bekräftigten die Politologen Bernhard Weßels und Wolfgang Schröder. Ein eParlament ist zwar angesichts der erwähnten Tribünenfunktion suboptimal, aber immer noch besser, als seiner faktischen Selbstausschaltung zuzustimmen, wie dies in Ungarn geschehen ist, oder sich, wie es das australische Parlament anfänglich vorhatte, bis August zu vertagen und die CoViD19-Agenden einem demokratisch wenig legitimierten Krisenstab zu übertragen. Angesichts der zahlreichen, oftmals übereilten Selbstbeschränkungen von Parlamenten trat die Interparlamentarische Union (IPU) auf den Plan und bot Informationen für Parlamente in Zeiten einer Pandemie an. Ihre Website gab einen Überblick über alle infrastrukturellen und technischen Maßnahmen, die Parlamente weltweit nutzten, um weiterhin zusammentreten zu können. Zwei Handlungsanleitungen der IPU befassen sich zudem mit der Genderdimension der CoViD19-Krise sowie mit dem Thema Menschenrechte.

 

Ein wesentlicher Punkt, den Parlamente im Rahmen der Krisengesetzgebung sowie bei der Kontrolle ihrer Umsetzung laut IPU beachten müssen, betrifft die Befristung der Maßnahmen, vor allem wenn sich um die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten handelt. Da der Grat zwischen Missbrauch und Notwendigkeit ein schmaler und die Gefahr der Indienstnahme von Krisen für die Ausweitung staatlicher Kontrollmaßnahmen über den aktuellen Zeitpunkt hinaus nicht zu unterschätzen ist, muss jedes Gesetz eine sogenannte Sunset Clause beinhalten, also den Tag seines Außerkrafttretens benennen. Die österreichischen COVID-19-Maßnahmen wurden großteils mit 31. Dezember 2020 befristet. Gemäß Fachdossier der Parlamentsdirektion war dies dadurch begründet, dass Regelungen nur vorübergehend gebraucht wurden, wenig Zeit für die Vorbereitung war und einzelne Bestimmungen in Grundrechte eingriffen; Letzteres dürfe aufgrund der Bundesverfassung nur kurzfristig passieren.

Die Idee der Sunset Legislation stammt aus dem angloamerikanischen Rechtsraum. Sie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Befristung darin, dass Gesetze nicht einfach nach Zeitablauf außer Kraft treten; vielmehr ist die Befristung mit dem Zweck verbunden, begleitend zu evaluieren, ob die gesetzten Ziele erreicht werden konnten. Die Intention ist eine bessere staatliche Regulierung. In Krisenzeiten dient die Sunset Legislation dazu, Maßnahmen in kurzen Zeitabständen vom Parlament überprüfen zu lassen. In der Akutphase der CoViD19-Krise geschah dies beispielsweise im Vereinigten Königreich alle drei Wochen. Österreich hingegen sah keine regelmäßige Überprüfung durch den Nationalrat und auch keine Evaluierung vor.

Eine Befristung schützt allerdings noch nicht vor einer (unter Umständen mehrmaligen) Verlängerung eines Ausnahmegesetzes. Diese Vorgehensweise war in den vergangenen Jahren zum Beispiel in Frankreich im Zusammenhang mit der Antiterrorgesetzgebung zu beobachten: Nach den Terroranschlägen von 2015 war der Ausnahmezustand sechsmal verlängert worden; als ihn die Nationalversammlung dann doch beendete, wurden manche der Notstandsgesetze in die normale Gesetzgebung übergeführt und sind nun fixer Bestandteil der französischen Rechtsordnung. Diese nachhaltige Legalisierung von Normsuspendierungen nennt Matthias Lemke, der im Fachbereich Bundespolizei der deutschen Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung lehrt, »Ausnahmezustand 2.0«. Über das Plausibilisierungsmuster der Insuffizienz, also der Behauptung, dass der bestehende Rechtsrahmen nicht genüge, um auch in Zukunft solch eine Krise und all ihre Folgekosten (zum Beispiel den nächsten Shutdown) zu verhindern, werden der Exekutive dauerhaft mehr Machtmittel zugestanden.

Es ist folglich Aufgabe sowie Kontrollfunktion des Parlaments, realiter insbesondere der Oppositionsparteien, nicht nur auf die Befristung der COVID-19-Maßnahmengesetze zu achten, sondern im Sinne der Sunset Legislation jede einzelne Maßnahme – sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering – und ihre momentane Verhältnismäßigkeit immer wieder aufs Neue der Diskussion zu unterwerfen, vor allem dann, wenn vonseiten der Regierung ihre Verlängerung verlangt wird. Eine praktikable Möglichkeit läge im Vorschlag des führenden US-Verfassungsrechtlers Bruce Ackerman, jede Verlängerung an ein höheres Zustimmungsquorum zu binden: Gründete das erste Gesetz auf einer einfachen Mehrheit, müsste seine Verlängerung schon eine Zweidrittelmehrheit erlangen, jede neuerliche Befristung eine Dreiviertel-, schließlich Vierfünftelmehrheit usw.

Zu groß ist nämlich die Gefahr der Gewöhnung an den autoritären Maßnahmenstaat. Über den Aspekt der Gesundheit lassen sich wohl ähnlich viele Grundrechte einschränken wie über den der Sicherheit. Die in den letzten Jahren oftmals überarbeitete österreichische »Sicherheitsarchitektur« hatte über die Plausibilisierung des Kampfes gegen den Terrorismus bereits zahlreichen Grundrechten wie beispielsweise dem Briefgeheimnis neue Grenzen gesetzt, sodass »von manchen Freiheitsrechten seinerzeit nur noch ihre Hülle bestehen blieb«, wie der Berliner Politikwissenschafter Sascha Kneip moniert. Auch für Österreich besteht daher die eigentliche Gefahr nicht in einer vorübergehenden präsidentiellen Notverordnungsregierung, sondern darin, dass sich inhaltlich autoritäre Gesetze in einer grundsätzlich liberalen Demokratie festsetzen und so den Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf Dauer verändern. Der Soziologe Harald Welzer meint hierzu: »Im Katastrophenfall zeigt sich nicht der Ausnahmezustand einer Gesellschaft, sondern lediglich eine Dimension ihrer Existenz, die im Alltag verborgen bleibt.« Die »neue Normalität« wäre demnach der alten Normalität schon eingeschrieben, bloß in ihrer Deutlichkeit noch nicht erfasst gewesen.

Um dieser Bedrohung entgegenzusteuern, ist es unter vielem anderem notwendig, dass die Gesetze ein Begutachtungsverfahren durchlaufen, wodurch nicht nur Stimmen von Interessensvertretungen, akademischen Institutionen oder auch der Zivilgesellschaft Gehör finden können, sondern den Oppositionsparteien mehr Zeit für eine Reaktion eingeräumt wird. Sämtliche CoViD19-Gesetze der ersten Wochen kamen als Initiativanträge von Nationalratsabgeordneten der Regierungsparteien in den Gesetzgebungsprozess. Die von der Opposition unterstützten Beschleunigungsbeschlüsse sowie die Mithilfe von Bundesrat und Bundespräsident ermöglichten ihr schnelles Inkrafttreten. Allerdings fand auf diese Weise kein Begutachtungsverfahren statt. Sein Ausbleiben verhindert zwar nicht das verfassungsmäßige Zustandekommen, sehr wohl aber die Abgabe von Stellungnahmen durch die interessierte Öffentlichkeit.

War es ganz zu Beginn der CoViD19-Krise wohl noch berechtigt gewesen, ausschließlich mit Initiativanträgen zu arbeiten, konnte diese Begründung spätestens Ende April von der Opposition nicht mehr nachvollzogen werden. Sie pochte daher auf ein Begutachtungsverfahren, das ihr die Regierungsparteien mit dem Verweis auf die Dringlichkeit der zu setzenden Maßnahmen (noch) nicht gewähren wollten. Deshalb nutzten die Oppositionsparteien SPÖ und FPÖ im Bundesrat ihr Einspruchsrecht gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates und legten ein Veto gegen einige der neuen Gesetze ein. Da solch ein Veto jedoch bloß aufschiebende Wirkung und zur Folge hat, dass der Nationalrat einen Beharrungsbeschluss trifft, sah Sigrid Maurer, Klubchefin der Grünen im Nationalrat, darin einen »zynischen Sabotageakt«.

Viel eher als Sabotage war es aber ein symbolischer Akt, welcher immer dann notwendig wird, wenn besonders deutlich zum Tragen kommt, dass parlamentarische Kontrolle in Österreich vorrangig im Gegensatz von Opposition und Regierung verstanden und kommuniziert wird. Da ein Begutachtungsverfahren nicht erzwungen werden kann und es bei seinem Ausbleiben keine Sanktionsfolgen gibt, handelt es sich bei den Rechtsgrundlagen für die Begutachtung um Soft Law. Zwar sehen sowohl Arbeiterkammer- als auch Wirtschaftskammergesetz die »Einhaltung einer angemessenen Frist zur Begutachtung« vor, und der Verfassungsdienst empfiehlt hierfür sechs Wochen, doch diese Fristen werden schon in Regelzeiten in weniger als 20 Prozent der Fälle eingehalten, wie Laurenz Ennser-Jedenastik vom Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien feststellte. Rechtswissenschafter*in Maximilian Blaßnig und Antonia Reiss weisen folglich darauf hin, dass sich die parlamentarische Demokratie bereits zuvor im Rückbau befand:

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