Die Faust

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Die Faust
Font:Smaller АаLarger Aa

Sven Elvestad

Die Faust

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

Impressum

I.

Am 25. Februar 1899, um sieben Uhr morgens, fand man in der Christian Kroghsgate einen bewußtlosen Mann. Eine zur Ablösung anrückende Patrouille von Schutzleuten bemerkte ihn. Einer von ihnen ging zu dem nächsten Telephon und läutete bei der Kriminalpolizei an. Und in dem Augenblick, da der Bewußtlose in einen Wagen gelegt wurde, um nach dem Landeskrankenhause gebracht zu werden, war bereits ein Kriminalbeamter zur Stelle.

Dieser erkannte sofort, daß hier ein Verbrechen vorlag. Der Verletzte hatte eine große Wunde an der linken Seite des Kopfes, unmittelbar über dem Ohr. Es war ein Mann mittleren Alters, offenbar ein Bauer.

Der Beamte fuhr mit nach dem Krankenhause, wo der Gefundene rasch verbunden wurde. Der Arzt stellte fest, daß seine Verwundung nicht lebensgefährlich sei. Aber nur durch ein Wunder sei er dem Tode entronnen. Die Wunde sei durch ein stumpfes Instrument verursacht, durch einen Knüppel oder eine Eisenstange, und die Waffe sei mit außerordentlicher Kraft geführt worden.

Aus den Papieren des Überfallenen ging hervor, daß er der Sohn eines vermögenden Bauern aus der Gegend von Elverum war. Man hatte ihn seiner Uhr und aller sonstigen Wertsachen beraubt.

Als er das Bewußtsein so weit zurückerlangt hatte, daß er über seine Erlebnisse berichten konnte, erzählte er, er sei am Tage zuvor in stark berauschtem Zustand mit ein paar »Damen« und ein paar ihm unbekannten Männern zusammengeraten, die ihn weiter mit Bier und Schnaps traktiert hätten. Er erinnerte sich, daß diese Leute ihn tief in der Nacht in eine abseits gelegene Straße geführt, wo ihn plötzlich ein gewaltsamer Schlag an den Kopf getroffen hätte. Als er auf den Bummel gegangen war, hatte er 350 Kronen Papiergeld, darunter einen Hundertkronenschein in seiner Brieftasche gehabt. Bis zu dem Überfall hatte er vielleicht 25 Kronen verbraucht. Er war also um 325 Kronen und eine wertvolle goldene Uhr bestohlen worden.

Die Polizei registrierte die Sache sofort in die Rubrik der allgemeinen Überfälle. Man nahm einige Verhaftungen unter den »lockeren Vögeln« der Straße vor. Doch gelang es nicht, die Urheber zu fassen.

Am 4. März, um zwei Uhr nachts, tat zufällig wieder einer jener Schutzleute, die den verwundeten Bauernburschen aus Elverum gefunden hatten, in der Christian Kroghsgate Dienst.

Plötzlich vernahm er aus dem Dunkel der Straße einen lauten Schrei. Er eilte zu der betreffenden Stelle und stieß auf ein junges Mädchen. Sie war es, die geschrien hatte. Er fand sie in einem unverkennbaren Zustand größten Entsetzens. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Haar war in schlimmster Unordnung. In furchtbarer Erregung klammerte sie sich an seinen Arm und rief:

»O Gott, ich hatte eine schreckliche Erscheinung!«

Und dabei wies sie über die Straße.

»Sehen Sie, da geht er!« rief sie. »Sehen Sie, daß er einen Stock mit einer Elfenbeinkrücke hat?«

Im Licht der qualmenden Laterne bemerkte nun der Schutzmann ganz deutlich, daß eine große männliche Gestalt um die nächste Ecke verschwand. Er trug einen Rock mit langem Schoß und hielt einen Spazierstock in der Hand.

Der Schutzmann lief ihm nach, fand ihn jedoch nicht. Als er zu der Stelle zurückkam, an der er das junge Mädchen verlassen hatte, war auch dieses verschwunden.

Er fand diesen Vorfall ein wenig merkwürdig und berichtete ihn am nächsten Tage seinen Vorgesetzten. Die Polizei war zunächst nicht geneigt, sich um die Geschichte zu kümmern. Als der Chef jedoch erfuhr, daß sie sich an derselben Stelle zugetragen habe, an der vor wenigen Tagen der überfallene Bauernbursche gefunden worden war, verlangte er, daß das Mädchen herbeigeschafft werde.

Der Schutzmann war auch imstande, ein so genaues Signalement von ihr anzugeben, daß es keine Schwierigkeit machte, sie zu finden. Schon um sechs Uhr nachmittags wurde sie dem Chef in einem der Vernehmungszimmer vorgeführt.

Es war eine ganz junge Fabrikarbeiterin, die bereits einmal in eine Diebessache verwickelt gewesen war. Sie hieß Selma Strand.

Der Chef fragte sie, warum sie in der vorigen Nacht so erschrocken gewesen sei.

Das Mädchen zögerte lange mit der Antwort. Sie war offenbar sehr nervös; die Anwesenheit all der Polizisten beunruhigte sie. Und sie antwortete ausweichend.

»Ich ängstigte mich,« sagte sie, »weil im Dunkeln ein großer Mann auf mich zukam.«

»Kannten Sie diesen Mann?«

»Nein.«

»Warum ängstigten Sie sich dann? Sprach er mit Ihnen?«

»Ja – nein – er sagte nur ein paar Worte.«

»Was sagte er denn?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Nannte er Sie bei Namen?«

»Ich sagte ja, daß ich ihn nicht kannte.«

»Bedrohte er Sie?«

»Nein, das tat er nicht.«

»Aber dann begreife ich nicht, warum Sie sich so ängstigten. Sie haben ja laut geschrien.«

Das Mädchen suchte nach einer Antwort und warf verlegene Blicke ringsum.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein schlanker, gut gekleideter Herr trat ein. Er nickte dem Chef zu, der wohlwollend lächelte. Die anderen Polizisten grüßten respektvoll. Der Ankömmling nahm auf dem Stuhl zunächst der Tür Platz.

Der Chef setzte das Verhör fort.

»Antworten Sie offen und ehrlich. Sie haben doch wohl nichts zu verbergen? Können Sie uns den Mann beschreiben? Wissen Sie, wie er angezogen war?«

»Ich glaube. Er trug einen schwarzen Rock. Und auf dem Kopf hatte er, wenn ich nicht irre, eine Pelzmütze.«

Der Schutzmann, der in der Nacht die Begegnung mit dem Mädchen gehabt hatte, trat nun vor und sagte:

»Ich sah ganz deutlich, daß der Mann einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf hatte.«

»Nun, das ist wohl möglich«, warf das Mädchen rasch ein. »Es war so dunkel, daß ich es nicht so genau unterscheiden konnte.«

»Und er hielt einen Stock in der Hand?«

»Ja, ich sah deutlich, daß er einen Stock hatte.«

»Einen Stock aus Elfenbein?«

Das Mädchen wurde immer unruhiger. Es schien eine Qual für sie zu sein, die Fragen beantworten zu müssen.

»Ja, wenigstens war ein weißer Griff daran«, erwiderte sie leise.

In diesem Augenblick wandte sich der schlanke Herr, der plötzlich von dem Stuhl an der Tür aufgestanden war, an den Chef und fragte:

»Gestatten Sie, daß ich das Verhör einen Moment übernehme?«

»Bitte, Herr Krag«, lautete die Antwort.

Das junge Mädchen zuckte zusammen, als sie den Namen des berühmten Detektivs hörte.

»Ich habe nichts weiter zu sagen«, stammelte sie.

»Ich will auch nur noch ein paar Fragen stellen«, erklärte Krag. »Sie sahen deutlich, daß der Stock weiß war?«

»Ja, der Griff war weiß.«

»Aber wie kamen Sie darauf, daß es Elfenbein sei? Als Sie den Schutzmann sahen, riefen Sie ja aus, der Mann habe einen Elfenbeinstock.«

»Ich glaubte es, weil er weiß war.«

Der Detektiv überlegte einen Augenblick.

»Waren Sie es auch gewesen, die geschrien hatte?« fragte er dann. »Der Schutzmann hatte mehrere Schreie gehört.«

»Ja, ich war es gewesen. Ich ängstigte mich, als der Mann aus der Finsternis gerade auf mich zugegangen kam.«

»War der Mann gut gekleidet?«

»Ja, ziemlich gut.«

»Und Sie kannten ihn nicht?«

»Nein, ich habe ihn nie zuvor gesehen. Das kann ich beschwören.«

»Danke, das ist nicht nötig. Wo wohnen Sie?«

Das Mädchen gab eine Adresse an – offenbar erleichtert, weil das Verhör zu Ende war.

Als sie gegangen war, schickte Krag nach einem Kriminalbeamten. Er trat mit ihm an das Fenster und wies auf die Straße hinunter.

»Sehen Sie das Mädchen dort unten mit dem blauen Hutband?« fragte er ihn. Sie ist soeben hier vernommen worden.«

»Jawohl, ich sehe sie.«

»Gut. So gehen Sie ihr nach, und lassen Sie sie nicht aus dem Auge. Aber sie darf nicht merken, daß sie verfolgt wird.«

Der Beamte verschwand sofort. Und einen Augenblick später konnte man ihn die Straße hinunterschlendern sehen – auf demselben Wege, den das junge Mädchen genommen hatte.

 

Der Chef blieb mit Krag allein zurück.

»Was halten Sie von dem Mädchen?« fragte der erstere.

»Ich bin überzeugt, daß sie uns etwas verbirgt. Es ist ja ganz klar, daß sie den Mann mit dem Elfenbeinstock kennt.«

»Es kann doch aber nicht wohl einer ihrer Freunde gewesen sein.«

Krag zuckte die Schultern.

»Wer weiß«, sagte er. »Ich glaube, das Mädchen war ebenso überrascht wie erschrocken. Sicher ist jedenfalls, daß sie einem Manne begegnet ist, den zu sehen sie unter keinen Umständen erwartet hat.«

»Meinen Sie, daß die Sache für uns von Interesse ist?«

»Möglich«, antwortete Krag, indem er zur Tür ging. »Es verhält sich ja stets so, daß wer etwas vor der Polizei zu verbergen hat, auch etwas von ihr zu fürchten hat.«

»Aber es läßt sich doch kaum annehmen, daß die Geschichte mit dem Überfall von neulich nacht in Verbindung steht?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Wir wollen nun zunächst abwarten, was für Nachrichten uns der ausgesandte Detektiv bringen wird. Hat das Mädchen uns eine falsche Adresse aufgegeben, so ist es um so schlimmer für sie. Wir wollen sie jedenfalls fortan Schritt für Schritt verfolgen, und ich werde mich wohl kaum in meiner Annahme irren, daß sie uns schließlich selbst zu dem Manne mit dem Elfenbeinstock führen wird.«

Damit ging Krag.

Am nächsten Tage legte der dem Mädchen nachgesandte Detektiv Bericht ab. Sie war direkt nach ihrer Wohnung gegangen; die Adresse stimmte mit der von ihr angegebenen überein.

Asbjörn Krag war schon im Begriff, die Angelegenheit als völlig gleichgültig aufzugeben, als etwas eintraf, was ihn veranlaßte, mit seinem ganzen Interesse und seiner ganzen Energie einzugreifen.

Am 8. März wurde ein neuer Überfall aus der Christian Kroghsgate gemeldet, genau von der gleichen Stelle, an der der Bauernbursche aus Elverum ausgeplündert worden war und das junge Madchen den Zusammenstoß mit dem geheimnisvollen Manne gehabt hatte. Dieses Mal war der Überfallene ein Matrose. Er war von zwei Männern, mit denen er Karten gespielt hatte, in der Nacht an jenen Platz gelockt worden. Sie hatten im Laufe des Abends zwar sehr viel getrunken, aber der Matrose wußte sich dennoch aller Einzelheiten des Geschehnisses zu erinnern.

In der dunkeln Straße war plötzlich ein großer, grobknochiger Mann aus einem Torweg herausgestürzt und hatte mit einem Knüppel auf ihn losgeschlagen. Der Matrose war sofort bewußtlos zusammengebrochen. Beim Erwachen hatte er dann etwas Warmes über das Gesicht rieseln gefühlt, sich an den Kopf gegriffen und die ganze Hand voller Blut gehabt. Man hatte ihm ein großes Loch geschlagen. Fast bewußtlos war er dann durch die Straßen geschwankt, bis er einen Schutzmann gefunden, der ihn in eine Sanitätswache gebracht hatte, wo er verbunden worden war.

Der Matrose gab ein genaues Signalement von den beiden Männern, die den Abend über mit ihm zusammen gewesen waren. Aber dieses paßte auf keine der zweifelhaften Existenzen, die der Polizei von ähnlichen Überfällen her bekannt waren.

Der Überfallene war an jenem Tage ausgemustert worden und hatte daher ziemlich viel Geld, etwa 400 Kronen bei sich gehabt. Diese waren fort.

Die Geschichte beunruhigte die Polizei. Sie hatte absolut keine Anhaltspunkte. Man nahm einige überstürzte Verhaftungen vor, die zu keinem Ergebnis führten. Die Zeitungen schrieben und schalten über grauenvolle Zustände in der Stadt und über die Schlappheit der Polizei.

Diese nahm schließlich eine vollständige Durchsuchung der Christian Koghsgate vor. Haussuchungen in allen Wohnungen, Verhöre aller Bewohner. Doch nicht um einen Schritt kam man der Lösung näher.

Wer waren die Verbrecher? Warum geschahen die Überfälle stets an derselben Stelle und in derselben Straße? Stand der Mann mit dem Elfenbeinstock irgendwie mit diesen Dingen in Verbindung?

Vorläufig konnte man nicht anderes tun, als die Straße und die Gegend ringsum während der Nacht mit doppelten Patrouillen besetzen.

Inzwischen arbeitete Asbjörn Krag, der sich die Sache sofort hatte übergeben lassen. Aber auch ihm gelang es nicht, die geringste Klarheit herbeizuführen.

Als er eines Vormittags in seinem Kontor saß, wurde eine Dame mittleren Alters zu ihm hereingeführt.

»Wie ich höre, sucht die Polizei einen geheimnisvollen Mann mit einem Elfenbeinstock«, sagte sie.

»Jawohl«, antwortete Krag interessiert. »Können Sie uns vielleicht etwas von ihm berichten?«

»Er muß nun wohl tot sein«, meinte die Dame. »Ich kann Ihnen eine merkwürdige Geschichte erzählen.«

II.

Asbjörn Krag betrachtete die schwarz gekleidete Dame, die an dem Tisch vor ihm saß. Sie gehörte scheinbar dem besseren Mittelstande an und machte sofort einen sehr guten Eindruck auf den Detektiv. Er hielt sie für eine pensionierte Beamtenwitwe.

»Leute meiner Art,« begann sie, »leben am liebsten möglichst still und zurückgezogen. Wenn ich mich trotzdem an die Polizei wende, begreifen Sie also, daß mir etwas ganz Seltsames begegnet sein muß. Aber ich möchte doch vor allem darum bitten, daß meine Name nicht mit der Angelegenheit in Verbindung gebracht wird.«

»Vorausgesetzt, daß die Sache uns nicht dazu zwingt«, wandte Krag ein.

»Nein,« erwiderte die Dame, »meine Rolle darin ist vollkommen bedeutungslos, sowohl für die Polizei als auch für die Sache selbst. Wie ich Ihnen bereits sagte, handelt es sich um den Mann, den die Polizei sucht, jenen Mann mit dem Elfenbeinstock. Daß er gesucht wird, ersah ich aus den polizeilichen Aufrufen.«

Krag nickte und machte sich eine Notiz auf einem Papier.

»Er ist tot?« fragte er.

»Ja, ich weiß nicht, was ich glauben soll«, lautete die Antwort der Dame. »Er ist nun seit einigen Tagen fort, und zwar verschwand er auf eine sehr merkwürdige Weise.«

»War er vielleicht Ihr Mieter?«

»Ja. Wir wohnen in der Oscarsgate. Und da unsere Wohnung für unsere bescheidenen Bedürfnisse nun zu groß geworden ist, vermieten wir ein möbliertes Zimmer. Vor einigen Monaten kam Herr Brandt – so heißt er – zu uns und fragte, ob er das Zimmer bekommen könnte. Da er sehr anständig und ordentlich aussah, hatten wir kein Bedenken, es ihm zu überlassen. Er zog sofort mit seinen Sachen ein.«

»Ehe Sie fortfahren,« unterbrach sie Krag, »müssen Sie so liebenswürdig sein, mir das Signalement des Mannes zu geben.«

»Gern. Ich nehme an, daß er etwa fünfzig Jahre alt ist, vielleicht aber auch jünger. Sein Gesicht zeigte das Gepräge von schweren Leiden und Kümmernissen. Er trägt eine schwarze Perücke, hat aber einen stark angegrauten Bart. Meist trug er einen dunkelgrauen Rock mit langen Schößen, einen breitrandigen Hut und einen Stock mit langem weißem Griff, vermutlich einem Elfenbeingriff. Ein genaueres Signalement vermag ich Ihnen nicht zu geben, da ich ihn nur selten sah.«

»Er war wohl viel aus?« fragte Krag.

»Nein, im Gegenteil. Fast den ganzen Tag hielt er sich in seinem Zimmer auf. Es war, als fürchte er das Tageslicht. Sobald es dunkel wurde, verließ er das Haus und blieb gewöhnlich ein paar Stunden, zuweilen aber auch die ganze Nacht über fort. Er empfing nie Besuch und hatte ein für alle Mal die Anweisung gegeben, ihn zu verleugnen, falls jemand nach ihm fragen sollte. Er war ein sehr stiller, bescheidener Mieter, mit dem wir sehr zufrieden waren. Sein Auftreten war das eines gebildeten Mannes, der keinerlei Ansprüche an uns stellte.«

»Nahm er auch die Mahlzeiten in seinem Zimmer ein?« fragte Krag.

»Ja, stets. Unser Mädchen brachte ihm das Mittagessen und das Abendbrot. Das letztere bestand stets nur aus Brot, Butter, kaltem Fleisch und einem Glas Milch. Nun aber komme ich zu dem Merkwürdigen, in der Geschichte des Mannes.

Vor einigen Tagen – ich weiß genau, daß es der 6. März war – klingelte Brandt, abends um 8 Uhr, von seinem Zimmer aus. Wir hatten unserm Mädchen Urlaub gegeben, und ich mußte selbst zu ihm hineingehen. Er saß an seinem Tisch und schrieb. Ich fragte ihn, was er wünsche. Er wollte, wie gewöhnlich, das Mädchen bitten, ihm Milch zu holen. Als er aber hörte, daß sie nicht da sei, erklärte er, dann wolle er sie sich selbst holen, da er ohnedies hinuntergehen und sich Briefmarken besorgen müsse. Ich erbot mich, ihm den Weg abzunehmen, das lehnte er aber in seiner Bescheidenheit ab. Ich brachte ihm also eine kleine Kanne, die er mitnahm. Die Milchhandlung ist gegenüber von unserer Wohnung. Eine halbe Stunde verging, ohne daß Brandt zurückkam, und ich begann unruhig zu werden, da ich mir sagte, daß ein erwachsener Mann wohl kaum auf den Gedanken kommen werde, mit einer Blechkanne auf den Straßen umherzugehen. Brandt aber blieb fort. Er kam an jenem Abend nicht mehr zurück. Seitdem er mit der Milchkanne wegging, habe ich ihn nicht wiedergesehen. Das finde ich sehr merkwürdig. Und ich habe das bestimmte Gefühl, daß meine Mitteilungen für die Polizei von großer Bedeutung sein werden.«

»Darin haben Sie recht,« antwortete Krag, »Ihre Mitteilungen sind von außerordentlicher. Bedeutung für uns. Nun möchte ich noch einige Fragen an Sie richten: bekam dieser Herr Brandt viele Briefe?«

»Nein, gar keine. Weder Briefe noch Telegramme erhielt er je. Es fragte auch nie ein Mensch nach ihm. Dagegen schrieb er selbst sehr viele Briefe. Er trug wohl jeden Abend mindestes drei oder vier zum Postkasten.«

»Womit beschäftigte er sich?«

»Soviel ich beobachtete, hatte er keine bestimmte Tätigkeit. Entweder schrieb er Briefe, oder er ging im Zimmer auf und ab. Wir hörten oft stundenlang seine schweren Schritte. Es war gleichsam, als warte er darauf, daß die Dunkelheit kommen solle.«

»Bezahlte er pünktlich?«

»Auf die Minute. Er hatte auch stets reichlich Geldmittel.«

»Noch etwas: hatte er an jenem Abend, an dem er verschwunden ist, seinen Elfenbeinstock mit?«

»Nein, der steht noch immer in der Ecke seines Zimmers. Er pflegte sonst nie auszugehen, ohne ihn mitzunehmen. Das ist, meine ich, um so mehr ein Beweis dafür, daß er nicht die Absicht hatte, lange fortzubleiben. Außerdem hatte er ja auch die Milch mit.«

»Die Milch? Die Milchkanne meinen Sie.«

»Ja, die Milch in der Kanne. Ich erkundigte mich bei dem Milchhändler und erfuhr dort, daß er tatsächlich einen Liter Milch geholt hat. Von da aus ist es nur wenige Schritte zu einem Kurzwarenhändler, bei dem er seine Schreibwaren und auch gleichzeitig seine Briefmarken zu kaufen pflegte. Aber da war er an jenem Abend nicht mehr. Er muß also verschwunden sein, während er, die Blechkanne in der Hand, auf dem Wege von dem Milchladen nach dem Kurzwarengeschäft war. Finden Sie das nicht seltsam?«

»Allerdings. Und Sie haben die Milchkanne nicht wieder bekommen?«

»Nein, Sie ist mit ihm verschwunden. – Glauben Sie nicht auch, daß Brandt tot ist?«

»Nein,« antwortete Krag, »aufrichtig gestanden – das glaube ich nicht. Es muß ihm etwas zugestoßen sein, als er in das Geschäft gehen und Marken holen wollte.«

»Was sollte ihm wohl zugestoßen sein? Es kann sich doch niemand an ihm vergriffen haben, da er selbst keiner Fliege etwas zuleide tat!« rief die Dame aus.

Der Detektiv lächelte.

»Das herauszufinden müssen Sie schon der Polizei überlassen«, sagte er. »Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre genauen und ausführlichen Mitteilungen, die von großem Wert für uns sind. Nun müssen wir aber auch der Höhle des Verschwundenen einen Besuch abstatten. Sie haben doch nichts dagegen?«

»Nein, keineswegs. Alles ist unberührt in seinem Zimmer, von dem Stock bis auf das Papier, das er zu beschreiben pflegte.«

*

Eine Stunde später stand Krag in dem Zimmer, das Brandt auf so geheimnisvolle Weise vor wenigen Tagen verlassen hatte.

Er begann sofort eine sorgfältige Untersuchung. Auf dem Tisch fand er nur ein paar unbeschriebene Blätter und ein Paket Kuverts. Er steckte das Löschpapier, das für alle Detektive so hochwillkommene Kopierblatt, zu sich. Dann durchsuchte er die Taschen der zurückgebliebenen Kleidungsstücke des Verschwundenen. Aber was er fand, war weiter nichts als die gewöhnlichen Kleinigkeiten: ein Tabaksbeutel – gefüllt mit einem außerordentlich feinen und teuren Tabak – ein Taschenspiegel usw. Dann machte er sich an Brandts Koffer. Auch hier war nichts von Interesse. Dort in der Ecke stand der Elfenbeinstock. Es war eine ungewöhnlich schöne Arbeit. Der Stock war sehr schwer. Krag schwang ihn durch die Luft und mußte unwillkürlich denken, was für eine vorzügliche Waffe das sei – einen besseren Knüppel konnte man sich nicht vorstellen. An dem Stock befand sich im übrigen kein Merkmal weiter als zwei auf einfache Art mit einem Messer eingeschnittene Kreuze.

 

Was Krag besonders irritierte, war der Umstand, daß es ihm nicht gelang, auch nur auf ein einziges beschriebenes Stückchen Papier zu stoßen. Er muß ein sehr vorsichtiger Mann gewesen sein, dieser Brandt, dachte er. Er scheint all seine Papiere stets bei sich getragen zu haben.

Aber in dem Augenblick, da er das Zimmer verlassen wollte, fiel sein Blick auf etwas Weißes, das unter einem Tischbein hervorlugte. Er beugte sich hinab und zog es vor.

Es erwies sich als eine gefaltete Visitenkarte, die zwischen Fußboden und Tisch geklemmt worden war, damit dieser feststehe. Krag entfaltete die Karte. Endlich! Die Karte war beschrieben. Mit großen, dicken Buchstaben standen da nur zwei Worte:

Die Faust.

Darunter das Zeichen: zwei Kreuze, die genau denen auf dem Elfenbeinstock eingeschnittenen glichen.

You have finished the free preview. Would you like to read more?

Other books by this author