Der eiserne Wagen

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Der eiserne Wagen
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Sven Elvestad

Der eiserne Wagen

Inhaltsverzeichnis

I. Drei laufende Menschen

II. Der Tote

III. Der alte Hof

IV. Der Verwalter

V. Das Gesicht

VI. Der Hund

VII. Der Abgrund

Impressum

Sven Elvestad

Der eiserne Wagen

Roman

I.
Drei laufende Menschen

Es mochte etwa elf Uhr vormittags sein; die meisten Sommergäste waren nach und nach vom Frühstückstisch herausgekommen und hatten sich im Rasen vor der Veranda des Pensionats gelagert.

Nach einer Reihe von kühlen Tagen war endlich die Wärme des Sommers siegreich eingezogen; es hatte in der Nacht geregnet, dann hatte sich gegen sieben Uhr morgens das Wetter verzogen und die Sonne den ganzen Vormittag über geschienen, Gras und Erdboden getrocknet, die Pfützen aufgesogen und die Wege hart und weiß gebrannt.

Und nun freuten sich die Sommergäste, daß der fruchtbare Sommer mit seiner wohltuenden Wärme endlich doch gekommen war. Darum hatten sie sich mitten in die Sonne gelagert, die über dem hohen Grase brütete; so lagen sie und blinzelten mit den Augen in das flammende Licht. Sie hörten das Rauschen des Meeres in der Ferne und lauschten auf das Säuseln des Windes, der draußen vom Meere aufstieg, über die Berge dahinstrich und in den Tannenwald eindrang, wo seine Kraft gebrochen wurde, so daß er nur mehr über die Wiese hintaumelte und allenfalls noch das Gras bewegte, das dann die Ruhenden im Gesicht kitzelte.

Da, wo ich selbst im Grase lag, konnte ich noch soeben den Schimmer einer Gestalt in weißem Musselin wahrnehmen und einen goldenen Frauennacken mit Haaren, die sich sacht bewegten; wenn ich den Kopf nur ein wenig drehte, traf mein Blick die Markise des Pensionats, auf deren feuerroten Streifen die Sonnenstrahlen spielten.

Fünf Menschen lagen rings um mich her im Grase; alle schienen zu schlafen und doch schlief in Wirklichkeit niemand. Von der weißgekleideten Dame zur Linken wußte ich, daß sie ihr Gesicht in beide Hände stützte und vor sich einen aufgeschlagenen Roman hatte; aber ich hörte nicht, daß sie in ihm blätterte. Niemand sagte ein Wort. Wir schwelgten alle in gänzlichem Nichtstun, ein Gefühl der Schläfrigkeit überkam uns und die Wärme erstickte nach und nach allen Willen und alle Energie. Jahrelang hätten wir hier so liegen bleiben können, ohne daß jemand von uns auch nur einen Fuß rühren oder in einem Buche blättern mochte. Auch die sonst nimmer rastenden Gedanken begannen einzuschlummern. Wer mochte auch noch weiterdenken? Das Rauschen des Meeres da draußen verklang, die Ohren schlossen sich, jeder Laut glitt vorüber, und nur hie und da noch hörten wir etwas. Es mochte eine Hummel sein, die vorbeisummte, oder ein Gattertor, das ins Schloß fiel. Ich wußte, daß ein Papagei in seinem Bauer mitten an der Sonnenseite des Hotels hing. Auch er fühlte wohl, wie sein Gefieder warm wurde, und wollte seine alten Knochen strecken. Ich konnte hören, wie er sich mit dem Schnabel an den Stangen des Käfigs festhielt und hin und her schaukelte. Aber da fiel wieder ein Gartentor ins Schloß, und zwar diesmal so hart, daß alles klirrte. Kurz darauf hörte ich eine Stimme dicht neben mir rufen: »Sehen Sie nur!«

Was gab es da zu sehen? Wer hatte Lust, den Kopf zu heben? Schritte ertönten auf dem Wege, hastige Schritte; es mußten ein Mann und eine Frau sein, die da liefen. Deutlich konnte ich das Stampfen von Männerstiefeln und das Rascheln eines Kleides hören. Ich erhob mich; aber meine Augen waren vom Sonnenlicht geblendet, das in der Luft funkelte und flirrte.

»Sehen Sie doch,« sagte die Dame in Weiß neben mir und deutete mit der Hand vor sich. Durch die blütenweißen Apfelbäume konnte ich nun sehen, was auf dem Wege vorging.

Es waren drei Menschen, die herbeiliefen. Vorneweg sprang barfuß ein flinker Knabe, hinter ihm lief ein Mann in mittleren Jahren, einer der Bewohner des Fleckens; er trug ein blaues Hemd ohne Jacke, in den Händen hatte er einen kleinen, abgetragenen, gelben Strohhut. Ganz zuletzt kam eine Dame, ein Sommergast; aber sie war weit zurück, denn ihr weißes Kleid hinderte sie am Vorwärtskommen. Sie versuchte es zu raffen, doch es gelang ihr nicht; so lief sie weiter, während ihr Rock wie eine weiße Fahne hinter ihr her wehte.

»Vielleicht ist es ein wilder Stier,« meinte die Dame an meiner Seite.

Das konnte jedoch unmöglich der Fall sein, denn dann brauchten die Menschen ja nicht so zu laufen, nachdem das Gattertor ins Schloß gefallen war.

Im Nu hatten wir trägen Leute uns erhoben; einzelne standen schon und beschatteten die Augen mit den Händen.

Die Herankommenden hielten auf uns zu. Ein niedriger Zaun trennte das Anwesen des Hotels vom Wege; in dem Zaune war ein schmaler Zugang. Man brauchte nur einen einfachen, hölzernen Balken beiseite zu schieben, um hindurchzugehen.

Der Knabe und der Mann waren etwa gleichzeitig bei dem Balken. Und nun folgte eine durch ihre übergroße Hast hervorgerufene lächerliche Szene. Sie kamen mit dem Balken nicht zurecht und zerrten an ihm herum. Offenbar waren sie sich nicht klar darüber, ob sie über ihn wegspringen, ihn zerbrechen, unter ihm hindurchkriechen oder ihn beiseiteschieben sollten. Das Ende vom Liede war, daß die Dame im weißen Kleide sie einholte. Der Knabe zeigte sich als der Gewitzigtste; er sprang ein Stück weiterhin über den Zaun, fiel auf die Knie, stand wieder auf und rannte auf uns zu. Als der Mann auf diese Weise allein bei dem Balken zurückblieb, gelang es ihm leicht, ihn wegzuschieben. So waren die drei Menschen fast zu gleicher Zeit bei uns. Aus ihrem Mienenspiel konnten wir sogleich schließen, daß sich etwas ganz Besonderes zugetragen haben mußte. Sie waren alle drei zu aufgeregt, um sofort reden zu können. Der ortsansässige Mann stammelte unverständliches Zeug, und seine Augen waren starr vor Schreck, während er nach Worten rang. Die Dame war außer Atem und preßte die Hände auf die Brust. Der Knabe war jedoch auch mit dem Mundwerk der Flinkeste und kam zuerst zu Worte. – –

*

Es war noch so zeitig im Sommer, daß bisher nur sechs bis sieben Gäste eingetroffen waren. Drei von ihnen waren Damen, die in einem großen Geschäft in Christiania tätig waren, wo sich die Ferien für das Personal von Mitte Mai ab bis weit hinein in den September verteilten. Die Saison hatte eigentlich noch nicht begonnen, aber diese Damen mußten sich darein finden, ihre Ferien dann zu genießen, wenn die Reihe an sie gekommen war. Außerdem waren noch vier Herren, ein alter Bankkassierer, ein junger Student, ein Forstmeister und der Schreiber dieser Zeilen da.

Bis jetzt hatten wir mit dem Wetter recht viel Pech gehabt. Am Tage stürmte es, am Abend war es kühl und bewölkt. Aber auf einmal über Nacht war der Sommer da, mit schwüler Hitze und glühendem Sonnenbrand, und darum schwelgten wir so voller Freude in süßem Nichtstun an diesem Vormittag, als wir so plötzlich von den drei Menschen gestört wurden, die auf dem Wege heranliefen.

Der kleine Ort, wo wir uns befanden, war sonst stark von Sommergästen besucht, nämlich im Juli und August. Ein Spazierweg von wenigen Minuten führte durch einen jungen Tannenwald geradeswegs an das Meer. In dunklen Nächten schien das Blinkfeuer vom Leuchtturm weit hinaus über den Himmel wie ein wanderndes Nordlicht. Die Gegend war sehr flach, es war eine große, ziemlich unwegsame Insel. Bebautes Land fand sich nur in geringem Umfange und auch nur in allernächster Nahe des Hotels. In weiterer Entfernung von ihm erstreckte sich eine große Heide meilenweit über das Land; sie war übersät mit Steinhaufen. Hie und da glitzerte ein kleiner Tümpel oder rieselte ein Bächlein daher, und mitten in der Heide lagen moorreiche Strecken, bestanden mit Büschen und niedrigem Gehölz. In diesem Gelände lag der Edelhof Gjaernaes wie in einem Teppich von fruchtbaren grünenden Aeckern und üppigen Gärten. Am Tage konnte man den Hof vom Giebelzimmer des Hotels aus erkennen und am Abend blinkten die Lichter aus seinen Fenstern herüber. Als ich nach dem Hotel kam, hatte ich ausdrücklich darum gebeten, das Giebelzimmer zu bekommen; so konnte ich die prächtige Aussicht über die Heide ganz nach Wunsch genießen. Die Menschen auf dem Hofe kannte ich von früher her, es war ein Geschwisterpaar, das hier wohnte, Carsten und Hilde Gjaernaes.

Ueber die Heide führte ein alter Weg in vielen Krümmungen und Windungen, vorbei an den Steinhaufen, längs der Tümpel, über Bäche, durch Gehölz und Gestrüpp. Er bildete einen beliebten Spaziergang; in annähernd einer halben Stunde konnte man vom Hotel nach dem Edelhofe kommen. Da konnte man die hübsche, junge Hilde begrüßen oder mit Carsten Gjaernaes ein wenig plaudern – in beiden Fällen lohnte sich der Weg.

Am Abend vor dem Ereignis, von dem ich nun berichten will, war ich über die Heide spaziert.

Ich brach vom Hotel etwas nach halb zehn – nach Beendigung des Abendessens – auf. Ich war ganz allein und ging ziemlich rasch, denn die Abendluft war kühl und feucht. Kurz nach zehn Uhr erreichte ich den Hof und dachte, wie nett es wohl wäre, wenn ich hier etwas plaudern oder gar ein Kartenspielchen machen, vielleicht auch eine Partie Schach mit Carsten Gjaernaes spielen könnte. Gerade um diese Zeit pflegte er sich in sein Arbeitszimmer zu begeben und hier bis Mitternacht die Zeit zu verbringen. Als selbstverständlich sah ich es an, daß ich gern gesehen sein würde, denn Carsten Gjaernaes war ein geselliger Mensch und gut mit mir bekannt.

 

Allerdings hatte ich – wie ich gestehen muß – auch noch einen Nebengedanken: Falls Hilde noch nicht zur Ruhe gegangen war, so mochte sich vielleicht eine Gelegenheit finden, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Sie war, wie gesagt, ein sehr schönes Mädchen; hier aber, in dieser tristen Gegend, fehlte mir Damengesellschaft; die drei nervenschwachen Geschäftsdamen im Hotel waren auf die Dauer nicht zu ertragen mit ihrem Geschwätz, das sich nur darum drehte, ob sie stärker geworden wären, ob die Sonne sie gebräunt hätte oder ob ich nicht mit ihnen fortgehen wollte, um Wasserlilien zu pflücken.

Ich schritt durch den Gartenzaun und kam auf den Hofplatz. In der Hundehütte lag der schwarze Hektor und knurrte; als ich mich um ihn nicht weiter zu kümmern schien, erhob er sich langsam und kam, die Kette hinter sich herschleifend, auf mich los. Dabei heulte und knurrte er unaufhörlich, was mich schier verwunderte, da ich Hektor bis dahin nur als friedfertigen Hund kennengelernt hatte.

Als ich durch das Hauptportal eintreten wollte, kam mir der Hofverwalter entgegen und hielt mich an.

»Entschuldigen Sie,« sagte er, »aber Sie dürfen den Herrn jetzt nicht stören.«

Ich blieb stehen und starrte den Mann an.

»Was fehlt Ihnen,« fragte ich, »sind Sie krank?«

Der Mann war blaß, wie ich trotz des Zwielichtes sehen konnte. Er stand vor mir in dem Gange und hielt sich an dem Türpfosten. Das konnte heißen, daß der Mensch zu schwach war, um sich aufrecht zu halten, aber es konnte auch bedeuten, daß er mich um keinen Preis vorüberlassen und durch das Versperren der Tür dartun wollte, ich dürfte sie nicht durchschreiten.

»Ich bin nicht krank,« sagte er.

»So ist vielleicht Ihr Herr krank?«

»Nein.«

»Ist jemand bei ihm drinnen?«

»Nein, es ist gar niemand da, er ist allein mit seiner Schwester.«

Ich begriff nicht, warum ich abgewiesen wurde, und fuhr daher fort zu fragen.

»Habe ich ihn vielleicht gekränkt?« murmelte ich.

»Ganz und gar nicht,« antwortete der Verwalter. »Aber Herr Gjaernaes kann Sie heut« abend nicht empfangen.«

Ich sah mir den Mann nochmals genauer an und war nun völlig davon überzeugt, daß er ungewöhnlich blaß war. Auch erinnere ich mich, daß ich in diesem Augenblicke dachte: Warum fragt er mich nicht, ob er seinen Herrn von mir grüßen solle oder ob ich sonst etwas zu bestellen hätte. Dann fragte ich wiederum:

»Wie kommt es, daß Sie mich gerade hier draußen treffen?«

»Das Fräulein sah Sie kommen.«

»Fräulein Hilde?«

»Ja. Sie bat mich, Sie nicht hineinzulassen. Ich stehe also hier auf ihren Befehl.«

Da wandte ich mich schroff um und ging davon. Ich sagte zu dem Mann nicht einmal guten Abend, nickte ihm nicht einmal zu, sondern schritt quer über den Hofplatz. Der Hund knurrte noch ärger als zuvor. Ein Seitenweg, den ich kannte, da ich ihn oft genug gegangen war, führte durch den Garten. Ihn schlug ich ein; und nun tat ich etwas Ungewöhnliches, und das beweist, daß ich argwöhnte, es sei irgend etwas Besonderes im Gange. Ich blieb im Dunkeln unter den Bäumen des Gartens stehen und beobachtete das Haus, während ich gespannt horchte.

Sogleich war es mir klar, daß der Besitzer keine Gäste bei sich haben konnte, denn es war nur im Arbeitszimmer und in dem anschließenden Gemach Licht. Das Licht im Arbeitszimmer verschwand einige Male und leuchtete bald wieder auf. Ein einziges Mal sah ich Licht in allen Fenstern, die nach dem Hofe hinaus lagen; offenbar ging ein Mensch mit einer Lampe die Zimmerflucht entlang. Es mußte dies wohl Carsten Gjaernaes selber sein, da sein eigenes Zimmer während dieser Zeit dunkel blieb. In dem großen Edelhof herrschte ein auffallendes Leben und Treiben. Ich lauschte angestrengt, und einmal kam es mir so vor, als ob ich laute oder aufgeregte Stimmen da drinnen hörte.

Während ich so stand und gerade dachte: Nun mußt du aber gehen, bemerkte ich, daß sich eine kleine Seitentür in dem großen Gebäude öffnete. Ich wußte, daß diese Tür nach der Wohnung der jungen Dame führte, denn Fräulein Hilde bewohnte hier drei kleine Stuben.

Aus der Tür trat ein Mann in einem grünen Jagdanzug, unter dem Arm hatte er ein Gewehr, dessen Lauf er nach unten trug. Auf der obersten Stufe blieb er stehen; hinter ihm kam eine Frauengestalt heraus – Hilde. Sie gab ihm die Hand, lächelte und sagte etwas zu ihm. Darauf ging er davon, wandte sich nochmals um und winkte mit der Hand, worauf sie ihm wieder zuwinkte. Von meinem Platze aus konnte ich das Ganze sehr deutlich übersehen. Den Mann im Jagdanzuge kannte ich sehr gut, es war ein sympathischer, junger Bursche, der mit uns anderen zusammen im Hotel wohnte; er war Forstmeister und hieß Blinde.

Ohne mir über den Grund meines Empfindens eigentlich Rechenschaft geben zu können, fühlte ich mich durch den Vorgang auf das höchste interessiert. Ich schlich mich hinter einen der dicken Bäume, denn es konnte ja immerhin geschehen, daß er mich da stehen und spionieren sah. Das wollte ich aber unter keinen Umständen. Hilde war wieder hineingegangen. Sie versuchte offenbar gar nicht zu verheimlichen, daß sie diesen Mann hinausbegleitet hatte. Dabei hatte sie so laut mit ihm gesprochen, daß ich, obgleich ich ziemlich weit entfernt im Garten stand, ihre Stimme hören konnte, wenn ich auch nicht die einzelnen Worte zu unterscheiden vermochte. Nun hörte ich die Tür ins Schloß fallen und den Schlüssel im Schloß umdrehen.

Knapp zehn Schritte vor mir blieb der Mann stehen und steckte seine Pfeife an. Sein Angesicht leuchtete im Scheine des Streichholzes auf; er hatte einen rotbraunen Vollbart, seine Züge waren fest und scharf geschnitten. Dann warf er das Streichholz auf die Erde, trat es aus und wandte das Gesicht prüfend nach der Richtung, von der der Wind kam, eine Gewohnheit, die er durch das Leben in Wald und Feld angenommen hatte; offenbar wollte er sehen, wie das Wetter wurde. Ehe er weiterging, drückte er den Hut tiefer in die Augen, dann schritt er davon, indem er den Weg über die öde Heide auf das Hotel zu einschlug. Ich wartete einige Minuten, da ich ihn nicht merken lassen wollte, daß ich spioniert hatte, und ging dann hinter ihm her.

Als ich in die Heide kam, war er bereits hinter dem nächsten Moor verschwunden. Ich hörte seinen Schritt nicht länger und auch vom Hofe her tönte kein Laut herüber. Der Wind hatte sich gelegt, alles rings um mich her war still. Es ist ein wunderliches Gefühl auf einer solchen Flur in einer Sommernacht. Unendlich dehnt sich dann die Landschaft um uns, der Horizont verschwindet und die Erde scheint geradezu in den Himmel überzugehen; man weiß nicht, wo der Himmel beginnt und die Erde aufhört. Die Geröllhaufen, die Felsen und Bäume da und dort nehmen in dem täuschenden Zwielicht wunderliche und rätselhafte Formen an. Als ich bis zu einer Stelle gekommen war, wo die Heide steil zum Meere abfällt, fühlte ich den kühlen Hauch des Wassers und schlug meinen Rockkragen in die Höhe. Ich sah geradeaus und gewahrte das Meer, das zur Nachtzeit stets kalt ist; ich konnte hören, wie die lange Dünung allmählich heranrollte und auf den Strand schlug. Wogen von Flugsand waren durch den Wind aufgetürmt; aus ihnen ragten die armseligen, sturmzerzausten Fichten hervor, die für die Vegetation der norwegischen Schären charakteristisch sind. Ihre Kronen waren flach und streckten sich landeinwärts; sie glichen geknickten Fächern.

Ich wußte, daß die Gegend unsicher war und daß sich oft Zigeunerboote in der Nacht zwischen den Schären verbargen, scharf gebaute Fahrzeuge mit schmutzigen Fetzen als Segel, allerlei überflüssige Stangen im Wasser nachschleppend und die Riemen an den Seiten herausstehend. Wie Ungeziefer hafteten sie an den Klippen; ihre Insassen kamen an Land und immer gerade dort zum Vorschein, wo Menschen vereinzelt wohnten oder wanderten. Ich hatte keine Furcht, sondern erinnerte mich nur daran, als ich über das freie Gelände dahinschritt. In der Hand hatte ich einen dicken Stock mit einer Elfenbeinkugel als Griff. Rasch ging ich über die Flur und tauchte im Schatten der Bäume unter. –

Nahe beim Hotel führte der Weg durch einen kleinen Tannenwald. Hier, wo es ziemlich dunkel war, blieb ich stehen, denn ein eigentümlicher Laut schlug an mein Ohr. Was konnte es sein? Der Laut kam aus weiter Ferne, nur abgerissen drang er an mein Ohr. Fast tönte es wie das Rasseln von Fesseln, wie ein meilenweit entferntes Geklirr einer Kette. Ich gehe weiter, gehe noch etwa fünf Minuten lang und bekomme plötzlich einen beweglichen Gegenstand im Dunkeln, wenige Meter von mir, zu Gesicht. Sofort erkenne ich, daß es ein Mensch sein muß, fester packe ich meinen Stock und mache einen großen Bogen … Da steht ein Mann, ein untersetzter Mann mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf. Ich weiß, daß ich nur etwas mehr auszuschreiten brauche, um den Mann bald im Rücken zu haben, aber ich bleibe plötzlich stehen. Und wie ich so dastehe, kommt der Mann langsam auf mich zu. Nun erkenne ich ihn auch. Ich komme mir lächerlich vor, ärgere mich über den Versuch auszuweichen und nehme den Stock gleichgültig unter den Arm. Aber zugleich kann ich auch ein Gefühl der Freude darüber nicht unterdrücken, daß dieser Mann kein Unbekannter ist. Er gehörte zu dem Orte, in dem ich wohne, nur kann ich mich im Augenblick auf seinen Namen nicht besinnen. Ein friedfertiger Fischer ist es, den ich früher oft genug begrüßt habe. Ich sage zu ihm:

»Nun, noch so spät aus?«

Aber statt mir auf diese geistreiche Aeußerung zu antworten, fragt mich der Mann, wobei er gen Himmel lauscht:

»Können Sie es hören?«

»Was?«

»Pst!« sagt der Mann und lauscht wieder.

Und nun ist der Laut wieder da, dieser unendlich entfernte Laut von losen, rasselnden Ketten.

»Was ist das?« frage ich.

»Das ist der eiserne Wagen,« antwortet der Mann ernst. »Es ist lange her, seitdem ich ihn vernommen habe.«

Der eiserne Wagen! In meiner Erinnerung blitzt es auf, daß ich schon einmal davon gehört habe. Es war eine sonderbare Erzählung, die ich aber nicht behalten habe. Ich weiß nicht mehr recht, was es war, aber Nacht und Dunkelheit zusammen erwecken in mir das Gefühl, daß es irgend etwas Schreckhaftes war.

Rasch packe ich den Mann beim Arm und gehe mit ihm ein Stück weiter.

»Der eiserne Wagen?« frage ich. »Wie lange ist es her, seit Sie ihn gehört haben?«

»Fünf Jahre, es war in jener Nacht, als der alte Gjaernaes starb.«

»Wem gehört der Wagen?«

»Ja, wem gehört der Wagen?« antwortete der Mann und schüttelte den Kopf.

Ich frage nicht weiter, denn nun kommen wir aus dem Gehölz und die rotgestreifte Markise vor dem Hotel verjagt die Stimmung der Heide. Nun können wir auch den eisernen Wagen nicht mehr hören, denn der Wald liegt zwischen ihm und uns und läßt den Laut nicht herüberdringen.

Ich steige hinauf in mein Giebelzimmer und öffne beide Fenster. Das erste, was ich sehe, ist ein matter Lichtschimmer, weit, weit entfernt. Also sind die Leute auf Gjaernaes noch immer nicht zur Ruhe gegangen. Es interessiert mich plötzlich, zu erfahren, wann dieses Licht erlöschen wird. Ich setze mich ans Fenster, aber da mich das Warten müde macht, gehe ich bald im Zimmer auf und ab, rauche einige Zigaretten und trete wieder ans Fenster, wobei ich denke: Nun muß aber doch das Licht endlich verlöscht sein. Aber das Licht blinkt dort noch immer. Eine ganze Stunde verstreicht. Ich fühle, daß die Nacht plötzlich warm und schwül wird und halte die Hände aus dem Fenster, ein paar schwere Regentropfen fallen darauf. Die Luft ist still, ein lauer Regen rieselt herab und es wird warm draußen. Ich lausche und schaue; und da höre ich es wieder, dieses ferne Rasseln von Eisen, aber das Geräusch ist nun weiter entfernt als vorher. Lange Zeit höre ich es nicht, dann tönt von da und dort ein schwacher Klang herüber, wieder ist es ruhig und dann höre ich wieder das Rasseln eine Minute lang oder länger.

Der eiserne Wagen! Ich schließe die Fenster. Draußen wird es hell, der Tag steigt allmählich über die Berge herauf. Ich sehe, wie die Bäume taufeucht werden. Ein letzter Blick über die Heide dorthin … noch immer brennt das Licht, ich lasse die Gardine herab.

 

*

So war nun wirklich für lange Zeit die brütende Sommerhitze gekommen. Am Morgen danach war es, als wir fünf Sommergäste im Grase lagen und uns in der heißen Sonne badeten.

In diesem Augenblick kamen die drei Menschen herbeigelaufen, der Knabe, der Fischer und die Dame im weißen Kleide.

Sie hatten uns offenbar alle etwas Besonderes zu sagen, aber der Knabe war – wie gesagt – am raschesten mit dem Mundwerk; er verkündete es uns zuerst, indem er rief:

»Wir haben eine Leiche dort am Wege gefunden!«

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