Karibische Sehnsucht

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Karibische Sehnsucht
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Suzanne Orbieux

Karibische Sehnsucht

Kompaktroman

Carpathia Verlag

© 2013 Carpathia Verlag GmbH, Berlin

Umschlagfoto: Michael Keller

ISBN 978-3-943709-61-2 (EPUB)

ISBN 978-3-943709-63-6 (PDF)

Mehr Kompaktromane unter www.kompaktroman.de.

www.carpathia-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 1

Ein tropischer Regenguss empfing ihn, als er aus dem Flughafen Le Lamentin hinaus ins Freie trat. Es war ein warmer, satter Regen, der ebenso schnell wieder endete, wie er begonnen hatte. Julius atmete tief ein. Die Luft schmeckte schwer, erdig, tropisch – allerdings mit einem Hauch Kerosin, der vom nahen Flugfeld herüberwehte. Im Norden stiegen die Berge steil an, dicht bewachsen mit Regenwald, nach Süden hin wurden die Hügel niedriger und liefen am Ende der großen Insel sanft aus.

Die Tropen hatten Julius schon immer fasziniert. Aber das war nicht der Grund, warum es ihn hierher verschlagen hatte. Von hier aus sollte er zur Fahrt in sein neues Leben aufbrechen. Die französische Insel Martinique schien dazu nicht der schlechteste Ort zu sein. Er hatte noch drei Tage Zeit, ehe die Reise begann und noch zwei, ehe er sich auf dem 182 Meter langen Kreuzfahrtschiff Caribbean Dream einfinden musste. Er wollte die Zeit nutzen, um die Insel ein wenig zu erforschen – und vor allem hoffte er, endlich seinen Kopf freizubekommen. Die Schuld und die Reue nagten noch immer an ihm.

Julius ging zu den Parkplätzen mit den Mietwagen und holte sich einen kleinen Peugeot, den er gerade angemietet hatte. Mit ihm wollte er in den Norden der Insel, zu dem sagenumwobenen Vulkan Mont Pelé und dem Städtchen Saint-Pierre, das einst als die Blüte der Karibik gegolten hatte, bis eben jener Vulkan 1902 erwacht war und an einem Tag rund 30.000 Menschen in den Tod gerissen hatte. 90 Kilometer waren es bis dorthin. Er ließ sich von dem Mitarbeiter der Mietwagenfirma den Wagen und noch einmal den Weg erklären, grüßte freundlich, schlug die Tür zu und startete den Wagen.

Auf der Autoroute 1 ging es Richtung Fort-de-France, der Hauptstadt von Martinique. Nach wenigen Kilometern wurde der Verkehr immer dichter. Die A1 hieß jetzt D41, und obwohl die Straße weiterhin wie eine Autobahn ausgebaut war, schien sie Julius eng und verwinkelt. Fast wie in einer Achterbahn wechselten Anstieg und Gefälle oft abrupt. Die Straße führte durch Häuserschluchten und wechselte oft die Richtung bis sie schließlich in die N2 überging. Allmählich ging wieder ein wenig bergab, und die Häuser gaben den Blick auf das Meer frei. Da sah er sie liegen, die Caribbean Dream, die bis auf weiteres so etwas wie sein Zuhause werden sollte. Ein schönes, weißes Schiff, schon etwas älter, aber dafür nicht so klobig wie die modernen Kreuzfahrer. Hier aus der Ferne sah es gut aus, doch er musste zugeben, dass sie schon ziemlich weit draußen auf Reede lag und der Eindruck durchaus täuschen konnte.

Er ließ das enge und umtriebige Fort-de-France hinter sich. Soweit es ging, folgte die Straße der Küstenlinie, und wo es nicht ging, da waren wieder wilde Achterbahnfahrten angesagt. Er ließ den Vorort mit dem merkwürdigen Namen Schœlcher hinter sich, passierte Case-Pilote und stellte fest, dass die Bebauung nun doch schon stark nachgelassen hatte. Immer wieder führte die Straße hinein in die Berge und durch den Regenwald, um schließlich wieder auf die tiefdunkelblaue karibische See zuzulaufen. Er durchquerte das Küstendorf Le Carbet und wusste sich nur mehr wenige Kilometer von seinem Ziel entfernt. Über einen Rücken und eine Rechtskurve gelangte er in die Bucht von Saint-Pierre. Mächtig erhob sich der grüne Kegel des Mont Pelé über das Städtchen. Der Gipfel war von dicken Wolken umhüllt. Er kurvte durch die engen Gassen und suchte nach der Pension, in der er sich telefonisch angemeldet hatte. Die Häuser, die Straßen – sie hätten genauso gut zu einem Weindorf im Elsass gepasst. Er bezog sein Zimmer mit Blick auf den Marktplatz. Dann holte er sich ein Sixpack eiskaltes Bier, mit dem er den beinahe endlosen Steg am Marktplatz hinauslief. Er setzte sich ans Ende des Steges und sah der Sonne beim Untergehen zu. Ein großer durchtrainierter Mann von 36 Jahren, gutaussehend, dunkelblond, Arzt, saß auf dem Steg, ließ die Beine baumeln, trank mit gierigen Schlucken das kalte Bier – und verzweifelte an seinem Leben.

Kapitel 2

Julius schüttete gerade die fünfte Flasche Bier in sich hinein. Die Sonne war längst am karibischen Horizont verschwunden. Er saß alleine auf dem langen Steg, der vom Marktplatz von Saint-Pierre hinaus ins Meer ragte. Mit glasigen Augen starrte er ins Wasser und stieß plötzlich mit verschliffener Stimme hervor: »Julius Herhoven, aufgehender Stern am Medizinerhimmel, was bist du nur für ein Hornochse. Leben retten, Leiden lindern, ha – jetzt wirst du für den Rest meines Lebens fußkranken Rentnerinnen auf Kreuzfahrtschiffen ihre Hühneraugen behandeln. Du hast es ja nicht besser verdient.« Mühsam erhob er sich und ging schwankend zurück, fand im zweiten Anlauf auch die Pension wieder, in der er sich eingemietet hatte. Er fiel aufs Bett und schlief sofort ein.

Seinen kleinen Alkoholexzess musste Julius am nächsten Morgen teuer bezahlen. Er trank normalerweise eher wenig und vertrug daher auch nicht besonders viel. Langsam rappelte er sich auf und starrte vor sich hin. Eigentlich war er hierher gekommen, um die Ruinen zu besichtigen, und nun pflegte er einen veritablen Kater. Er versuchte es mit einer kalten Dusche, doch alles, was aus dem Brausekopf kam, war bestenfalls lauwarm und roch stark nach Chlor. Mit einem dicken Kopf verließ er die Pension und machte sich zu Fuß auf den Weg zu den Überresten des ehemaligen Theaters, das im ausgehenden 19. Jahrhundert einen ausgezeichneten Ruf besessen hatte. Dort, in einem Anbau, der als Gefängniszelle diente, war der einzige Überlebende des Vulkanausbruchs von 1902 gefunden worden – ein Säufer, der noch tags zuvor randaliert hatte und zur Ausnüchterung in die Zelle geworfen worden war. Das hatte ihm das Leben gerettet. Julius fand das ziemlich zynisch – zumal in seinem augenblicklichen Zustand. Dann wurde ihm plötzlich klar, dass es zwischen ihm und dem kleinen, verschlafenen Karibik-Städtchen eine erschreckende Analogie gab: Einst war die Stadt eine blühende und pulsierende Metropole mit über 30.000 Einwohnern gewesen. Hier war das kulturelle Zentrum der Karibik gewesen, die einzige Börse der Region hatte hier residiert. Und heute lebten gerade noch 6.000 Menschen in dem vergessenen Ort, in dem man die Häuser zwischen rußgeschwärzten Ruinen vor über 100 Jahren wieder aufgebaut hatte. Niemals mehr sollte Saint-Pierre zu seiner einstigen Größe zurückkehren.

Und Julius? Schon im Studium galt er als herausragender Student, der alle anderen zu übertrumpfen schien. Er startete eine glänzende Karriere in einem nicht allzu bekannten medizinischen Fachbereich, bekam eine überaus gut dotierte Stelle an einer renommierten Privatklinik und stand kurz davor, zum Oberarzt berufen zu werden. Seine Habilitation stand an, er hatte seine Traumfrau gefunden, gemeinsame Pläne, bald heiraten, Familie – und dann: Eruption, Ausbruch, Katastrophe, Untergang – und Flucht. Und nun war er drauf und dran, in den Trümmern seines Lebens eine kümmerliche neue Existenz zu errichten.

 

Julius versuchte, die bedrückenden Gedanken beiseite zu schieben. Mit festen Schritten machte er sich auf den Weg hinaus zur Zitadelle, um den Ausblick über die kleine Stadt und die große Bucht zu genießen. Tatsächlich atmete es sich dort oben schon ein wenig freier. Er beschloss, sich nun selbst wieder besser an die Kandare zu nehmen. Stets war er stolz auf seine eiserne Selbstdisziplin und seinen starken Willen gewesen. Sich den Frust abends mit fünf Bieren wegzuspülen, wäre für ihn früher nie in Frage gekommen. Er ekelte sich beinahe vor sich selbst und beschloss, die letzte übriggebliebene Flasche bei seiner Rückkehr in die Pension in den Abfluss zu schütten. Er wollte nun aus der Situation das Beste machen. Dazu brauchte er einen klaren Kopf, nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft. Also, so beschloss er für sich, wäre es am sinnvollsten, erst einmal eine Bestandsaufnahme zu machen. Er wollte offen und ehrlich zu sich sein. Dazu musste er sich allerdings noch einmal klar und schonungslos seiner Vergangenheit stellen. Er musste sich zwei Fragen ehrlich beantworten: Was war eigentlich passiert? Und warum?

Kapitel 3

Julius wedelte mit einem Brief in der Luft herum. Aris Augen wurden größer.

»Rat mal, was das ist?«, rief Julius fröhlich und hielt seinem Studienfreund das Schreiben unter die Nase.

Ari riss ihm das Papier aus der Hand, überflog die Zeilen und rief begeistert: »Die Weymeier-Klinik! Wow, die wollen Dich haben!« Doch dann verfinsterte sich Aris Gesicht schlagartig, und er brummte: »Na, dann kann ich wohl meine Bewerbung vergessen.«

Julius dunkelblaue Augen blitzten schelmisch auf. »Sei dir da mal nicht so sicher, mein Alter. Die bauen eine nagelneue, ultramoderne Abteilung für hyperbare Medizin auf, und so viele gibt es nicht, die sich schon im Studium damit beschäftigt haben. Na, lange Rede kurzer Sinn, ich habe bei meinem Bewerbungsgespräch auch deinen Namen genannt, es würde mich schon sehr wundern, wenn Du den Job nicht bekommen würdest.«

Und so kam es. Die beiden jungen Ärzte zogen in die renommierte Weymeier-Klinik. Beide hatten sie sich im Studium bereits mit hyperbarer Medizin beschäftig, einem Zweig der Wissenschaft, der relativ jung war, in dem es aber vielversprechende Perspektiven gab. So promovierte Julius über spezielle Aspekte der Wundheilung bei einer hyperbaren Behandlung. Auch Ari baute seinen Doktor mit dem Thema »Hyberbare Oxygenierung in der Transplantationsmedizin«.

Die beiden jungen Mediziner lagen mit ihrer Wahl voll im Trend. Therapien mit Überdruck und Sauerstoffanreicherung galten als vielversprechend und spannend – überdies als lukrativ. Es gab nur wenige Fälle, in denen Krankenversicherungen solch eine Therapie übernahmen, aber eine ganze Menge betuchter Patienten, die sie forderten und dann auch aus eigener Tasche bezahlten.

Julius blieb seinem Freund Ari stets einen Schritt voraus. Seine Veröffentlichungen waren zahlreicher und fundierter. Bisweilen gelang ihm auch der eine oder andere spektakuläre Coup. Allerdings glich Ari Julius’ offenkundige Brillanz durch ein ungeheures Maß an Fleiß und Arbeitseifer aus. Immer wieder drängte er sich nach Doppelschichten und Überstunden. Die Kollegen wunderten sich, denn an Arbeitsüberlastung gab es für junge Assistenzärzte ohnehin keinen Mangel. Doch Julius, aus Loyalität und Pflichtgefühl, versuchte seinem Freund gerade hier treu zur Seite zu stehen und das übergroße Pensum mit ihm zu teilen.

Und dann erschien sie auf der Bildfläche: Romana Senga, eins siebzig groß, pechschwarze lange Haare, Beine, die dank ihrer Highheels ins Unendliche reichten, und eine atemberaubende Figur. Sie begann ihre Arbeit als stellvertretende Verwaltungsleiterin der Weymeier-Klinik mit gerade einmal 31, und der Arbeitseifer der beiden Assistenzärzte ließ nun doch deutlich nach. Nicht, dass sie ihre Arbeit vernachlässigt hätten, doch die Anzahl der Überstunden und Doppelschichten sank rapide. Der rassigen Vizeverwaltungschefin war die Aufmerksamkeit der beiden Ärzte nicht entgangen, und sie genoss die Rivalität, die zwischen den beiden um sie entstand. Als erster hatte Julius die Nase vorne, dem es gelang, sie zu einem romantischen Abendessen einzuladen. Doch leider blieb es dabei auch. Ari war überzeugt davon, mit einem Rockkonzert bessere Karten zu haben. Romana war auch begeistert, doch ihre Tür blieb auch für Ari zu. So wechselten die beiden in der Gunst der Schönen. Irgendwann beschlossen sie, das Spiel zu beenden und sich wieder ganz auf die Medizin zu konzentrieren. Doch nun ließ sich Romana nicht mehr abschütteln, weil sie an dem Spiel Gefallen gefunden hatte. Für Julius und Ari bedeutete dies ein gefährliches Spiel, das ihre Freundschaft auf eine ernste Zerreißprobe stellen konnte. Doch zunächst hielten die beiden allen Verlockungen stand. Freundlich, aber bestimmt wiesen sie alle Avancen ab. Ari begann sogar, demonstrativ mit einer jungen Krankenschwester zu flirten, um bei Romana den Eindruck zu erwecken, er sei nun vergeben.

Dann eines Abends klingelte es an der Tür von Julius’ kleinem Appartement auf dem Klinikgelände. Vor ihm stand Romana mit einer Flasche Champagner, deren Hals sie in ihren tiefen Ausschnitt presste.

Kapitel 4

»Das hast du dir ja schön ausgedacht«, giftete Ari, als ihm klar wurde, dass Julius und Romana nun plötzlich doch ein Paar waren. Er fühlte sich von seinem Studienfreund eiskalt ausgebootet.

Julius begriff nicht, wie tief die Verletzung bei Ari saß und sagte nur lachend: »Du weißt doch, im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.«

Das versetzte Ari nun erst recht einen Schock, den er lange nicht verdaute. Das Verhältnis zwischen den beiden kühlte nun merklich ab. Nur noch selten verbrachten sie ihre sowieso spärliche Freizeit miteinander. Julius hatte nun auch entschieden besseres zu tun.

So standen also die Dinge, als Julius und Ari eines Tages zu Professor Dr. Rolf Eisenhauer einbestellt wurden, der ihnen folgende Eröffnung machte: »Meine Herren, es dürfte für Sie ja wenig überraschend sein, dass Dr. Brenner in zwei Jahren in den Ruhestand geht. Prinzipiell haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder suchen wir einen Nachfolger von außen, oder ein Kollege aus dem Haus wird sein Nachfolger. Wir tendieren zu letzterem. Sie beide sind ausgezeichnete Mediziner. Jeder von Ihnen hat seine spezifischen Stärken. Ich sage Ihnen ganz offen, dass keiner von Ihnen im Verwaltungsrat die Nase vorn hat. Es liegt also an Ihnen, sich in den nächsten Monaten für die Stelle zu qualifizieren. Es gibt Kollegen, die Dr. Herhoven bevorzugen würden, weil sein Name schon durch zahllose Veröffentlichungen bekannt ist und dadurch das Renommee unserer Klinik nach außen deutlich erhöhen würde. Die Kollegen, die sich für Arian Claasen aussprechen, sehen seinen enormen Arbeitseinsatz und sein Engagement für die Klinik.«

Julius und Ari blickt einander an. Jeder ahnte, was diese Eröffnung des Chefarztes bedeutete. Die beiden wurden im Rennen um die Oberarztstelle der Abteilung für Hyperbare Medizin aufeinander gehetzt. Unwillkürlich musste Ari in diesem Moment an Romana denken. Ihm drehte sich beinahe der Magen um. Würde Julius ein weiteres Mal versuchen, ihn mit einem fiesen Trick auszustechen? Zuzutrauen war es ihm, wenngleich er früher nie daran geglaubt hatte, dass sein Freund Julius zu solch hinterlistigen Taten fähig gewesen wäre. Doch die Geschichte mit Romana hatte ihn eines Besseren belehrt. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass ihm Julius den Oberarztposten streitig machen würde, ein Posten, der doch ihm, Ari, zustünde.

Julius ahnte nichts von diesen finsteren Gedanken seines Freundes. Er sah die Sache wesentlich gelassener, weil er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass sich zwischen ihnen etwas ändern würde, wenn einer dem anderen vorgesetzt würde. Im Gegenteil, sie würden als gutes, ja unschlagbares Team zusammen weiterarbeiten. So stellte sich Julius vor, dass er Ari in alle seine Entscheidungen miteinbeziehen und von ihm stets seinen Rat einholen würde. Eigentlich, so dachte Julius, wäre Ari dann so eine Art zweiter Oberarzt. Natürlich zweifelte Julius keine Sekunde daran, dass er am Ende die Stelle bekommen würde. Sie kämen an seiner akademischen Brillanz einfach nicht vorbei, und die war für die Klinik unbezahlbar.

Tatsächlich zeigte sich in den nächsten Monaten, dass Ari den Abstand zu Julius nicht aufholen konnte. Er spürte es und stürzte sich nur noch tiefer in die Arbeit. Seine Konzentration ließ nach. Eines Tages zog er ein Medikament aus dem Schrank, das seinen Patienten unweigerlich getötet hätte. Im letzten Moment erkannte er seinen Fehler und korrigierte ihn. Niemand hatte etwas bemerkt. Aris Herz klopfte wie wild. Dieser Fehlgriff hätte um ein Haar ein Menschenleben gekostet – und seine eigene Karriere ruiniert. Bei diesem Gedanken stutzte er plötzlich. Ja, das war es doch. Das Rennen zwischen ihm und Julius würde vielleicht gar nicht durch die überragendere Leistung eines der beiden Ärzte entschieden, sondern vielleicht durch einen simplen, dummen Fehler, einen Fehler, wie er ihn selbst um ein Haar begangen hätte. Vielleicht müsste er bei Julius nur ein wenig nachhelfen, damit er einen Fehler machte. So schwer konnte das doch nicht sein.

Kapitel 5

Die Weymeier-Klinik verfügte inzwischen über einen glänzenden Ruf bei der Behandlung von sogenannten Dekompressionsunfällen. So konnten etwa Taucher, die zu schnell auftauchten, schwere körperliche Schäden bis hin zum Tod erleiden. Irreversible Lähmungen waren möglich, wenn der Patient nicht möglichst schnell in einer Druckkammer behandelt wurde. Für eine erfolgversprechende Behandlung war es jedoch nötig, das Tauchprofil des Opfers sowie das verwendete Atemgas zu kennen. Längst wurde nicht mehr nur mit Druckluft getaucht. Zahlreiche Taucher verwendeten sogenanntes Nitrox, mit Sauerstoff angereicherte Atemluft, oder teure Gasmischungen mit Edelgasen wie Helium oder Neon.

Ein junger Mann wurde in die Notaufnahme gebracht. Es war der Klassiker. Zu tief getaucht, zu lange Zeit vertrödelt, die Luft wurde knapp, er kam zu schnell an die Oberfläche zurück. Ausfallerscheinungen, Schmerzen in den Gelenken und so weiter, die ganze Palette. Ari ging die Sache routiniert wie immer an. Der Tauchcomputer des jungen Mannes wurde ausgelesen. Ari überflog den Ausdruck, runzelte kurz die Stirn und nickte dann den Sanitätern zu, die den verunglückten Taucher in die Dekompressionskammer brachten. Dann wurde hinter ihm die Stahltür geschlossen und langsam der Druck erhöht. Die künstliche Tauchfahrt dauerte mehrere Stunden, bis der junge Mann schließlich wieder aus der Stahlröhre herausgeholt wurde.

Er lächelte Ari an. »Ich fühle mich putzmunter und könnte Bäume ausreißen!«

Doch der Arzt blickte nur streng zurück. »Ich kenne Ihr Tauchprofil, junger Mann! Sie waren auf Tiefenjagd! Wenn sie nicht schnell genug bei uns gewesen wären, dann würden sie jetzt im Rollstuhl sitzen.«

Schuldbewusst senkte der Taucher den Blick. Ertappt. Er hatte Glück gehabt. Häufig waren mehrere Durchgänge in der Kammer nötig, und die Behandlung war sehr teuer. Bei ihm war alles glatt gegangen.

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