Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus
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Susanne Becker

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

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ePub-ISBN 978-3-8233-0127-1

Inhalt

  Für meine geliebten Eltern,

  Danksagung

 1 Einführung1.1 Einleitung1.2 Zielsetzung1.3 Aufbau der Arbeit und methodische Überlegungen

 2 Avantgarde und Theater2.1 Ursprung des Avantgardebegriffs2.2 Aktualität der Avantgarde2.3 Die historische Avantgarde2.4 Die Neo-Avantgarde2.5 Denkfiguren der Avantgarde2.5.1 Avantgarde als Spitze eines Dreiecks2.5.2 Avantgarde als Zuspitzung der Moderne2.5.3 Avantgarde als Bruch mit der Moderne2.5.4 Avantgarde als Rand eines Kreises2.5.5 Avantgarde als Teil eines Balletts2.5.6 Avantgarde als Pfeil aus der Zukunft2.5.7 Avantgarde als ineinander ragende Ecken und Kanten2.5.8 Avantgarde als Bogen in die Vergangenheit2.5.9 Avantgarde als Hohlraum zwischen Vergangenheit und Zukunft2.5.10 Avantgarde als akzelerierte Geschichten innerhalb der Geschichte2.6 Avantgardetheater2.7 Die Avantgarde im 21. Jahrhundert2.8 Zusammenfassung

 3 Das surrealistische Theater3.1 Der Surrealismus3.2 Stellung des Theaters im Surrealismus3.3 Theatralität des Surrealismus3.4 Das surrealistische Theater3.4.1 Poesie3.4.2 Sprache3.4.3 Juxtaposition von Realität und Wunderbarem3.4.4 Traum3.4.5 Mythos Moderne3.4.6 Collage3.4.7 Wirkung auf den Zuschauer3.5 Zusammenfassung

 4 Das poetische Theater4.1 Einleitung4.2 Das poetische Theater René de Obaldias4.2.1 Einleitung4.2.2 Grundzüge seines Theaters4.2.3 René de Obaldias poetisches Theater am Beispiel von Genousie4.2.4 Entwicklung von René de Obaldias Theater4.3 Das poetische Theater Romain Weingartens4.3.1 Einleitung4.3.2 Grundzüge seines Theaters4.3.3 Romain Weingartens poetisches Theater am Beispiel von Akara4.3.4 Entwicklung von Romain Weingartens Theater4.4 Das poetische Theater Georges Schehadés4.4.1 Einleitung4.4.2 Grundzüge seines Theaters4.4.3 Georges Schehadés poetisches Theater am Beispiel von Monsieur Bob‘le4.4.4 Entwicklung von Georges Schehadés Theater

 5 Das poetische Theater und die Avantgarde5.1 Das poetische Theater in der Kritik5.2 Das poetische Theater im Zeichen des Surrealismus5.3 Denkfiguren des Avantgardetheaters5.4 Bedeutung des poetischen Theaters

 AnhangAnhang 1 – Interview mit René de ObaldiaAnhang 2 – Liste der TheaterstückeRené de ObaldiaRomain WeingartenGeorges Schehadé

  Bibliographie

Für meine geliebten Eltern,

Steffi und Patrick.

« Il y a ce qu’on voit et il y a ce qu’on ne voit pas. Sans cela on ne pourrait pas jouer. Voilà. »

Danksagung

Die vorliegende Publikation beruht auf der gleichnamigen Dissertation, die ich im Jahr 2017 an der Universität Osnabrück im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft eingereicht und anschließend verteidigt habe. Für die Veröffentlichung wurden mehrere Kürzungen und Korrekturen vorgenommen.

Mein tief empfundener Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Asholt, für seine fachkundige und feinfühlige Betreuung und für die wichtigen inhaltlichen Wegweisungen bei diesem Vorhaben. Seine Geduld und sein Verständnis waren ermutigend. Auch menschlich war er mir ein großes Vorbild.

Herzlich danke ich Frau Prof. Dr. Andrea Grewe, die sich freundlicherweise als Zweitgutachterin zur Verfügung gestellt hat. Ihr, Frau Trudel Meisenburg, Frau Prof. Dr. Susanne Schlünder und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Adam danke ich für ihre Beteiligung an der Prüfungskommission und ihre hilfreichen Anregungen und Vorschläge.

Für die finanzielle Unterstützung danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, die es mir erlaubt hat, mich frei von beruflichen Verpflichtungen auf mein Promotionsvorhaben zu konzentrieren. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang auch meinem Vertrauensdozenten, Herrn Prof. Dr. Oliver Dörr, für seine sachkundige Unterstützung und Anteilnahme.

Danken möchte ich auch Frau Hanna Bäumker und Frau Kerstin Schneiker von der Universität Osnabrück für ihren Beistand bei organisatorischen und administrativen Fragen sowie den Mitarbeitern des IMEC in Caen, die mir den Zutritt zum „Fonds Romain Weingarten“ ermöglicht haben.

Die Gespräche mit René de Obaldia und Isabelle Weingarten haben meine Arbeit bereichert und werden mir für immer in wertvoller Erinnerung bleiben.

Meine tiefe Liebe und Dankbarkeit gelten meinen Eltern Cornelia und Joachim, meiner Schwester Steffi und Patrick, Eva und Uli, Gisi und Struppi, Almut und Thomas, Matthi und Resi, Christian, Franzi und Conni, Emilia und Julius, den Lulus, meinen geliebten Großeltern Trudel und Theo, Anne und Kurt sowie meinen guten Freunden, die mich unverbrüchlich begleitet haben. Danke für alles.

1 Einführung
1.1 Einleitung

„Le nouveau théâtre mérite attention puisque c’est celui qu’on jouera demain.“1 So äußerte sich der Schauspieler Henri Tisot, der in der Uraufführung von Romain Weingartens La Mandore mitspielte. Über vierzig Jahre später stellt sich die Frage, ob das nouveau théâtre tatsächlich zum Repertoire gehört. Ein regelmäßiger Blick in die Wochenzeitschrift L’officiel des spectacles, in der die aktuell in Paris und Umgebung laufenden Theaterstücke aufgelistet sind, belegt das Gegenteil. Es fällt auf, dass das nouveau théâtre, wenn überhaupt, fast ausschließlich in seiner absurden, nicht aber in seiner poetischen Ausprägung vertreten ist. Dies ist vor allem dem wohl bekanntesten Vertreter des absurden Theaters, Eugène Ionesco, zu verdanken. Mit den seit 1957 nicht abreißenden Aufführungen von La cantatrice chauve und La Leçon hat das Pariser „Théâtre de la Huchette“ Ionesco ein Denkmal gesetzt. Seit mehr als sechzig Jahren werden beide Stücke ununterbrochen in ihren Originalinszenierungen von 1950 bzw. 1951 gezeigt. Sie halten damit den Weltrekord der am längsten ohne Unterbrechung an einem Ort gespielten Stücke und haben über zwei Millionen Besucher angelockt, sodass es auf der Website des Theaters zu Recht heißt, das Spectacle Ionesco sei „[u]ne avant-garde devenue un classique“2. Doch auch abseits des ständig im Repertoire vorkommenden Ionescos ist das absurde Theater mit Stücken Arrabals, Becketts, Genets und Pinters immer wieder vertreten.

Einen anderen Eindruck gewinnt man dagegen vom poetischen Zweig des nouveau théâtre, von dem heute fast nur noch Tardieu und Obaldia übrig geblieben sind. Was sagt dies über das poetische Theater aus? Liegt der Grund für die Nichtbeachtung des poetischen Theaters bei den Autoren, deren Texte sich nur schwer auf die Bühne übersetzen lassen und besser gelesen als gespielt werden? Oder bei risikoscheuen Theaterschaffenden, die auf bewährte Erfolge setzen? Oder vielleicht doch beim Publikum, für das Poesie am Theater negativ konnotiert ist, wie eine britische Theaterkritikerin des Guardian3 vermutet? Oder ist das poetische Theater ganz einfach aus der Mode geraten, weil es von anderen Theaterformen überholt wurde?

1.2 Zielsetzung

Die mangelnde Beachtung der Theaterpoeten durch die Institution Theater geht Hand in Hand mit einer Vernachlässigung dieser Episode des Theaters durch die Forschung. Während das absurde Theater der 1950er und 1960er Jahre in Öffentlichkeit und Forschung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland breit rezipiert wurde, bleibt das zeitgleich stattfindende poetische Theater noch weitgehend unbeachtet – generell, aber auch und vor allem in seinem Bezug zur Avantgarde.

 

Die vorliegende Arbeit möchte zu einer größeren Ausgewogenheit der Forschung über das französische nouveau théâtre in Form einer Valorisierung des poetischen Theaters beitragen. Am Beispiel von René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé soll die Originalität des poetischen Theaters demonstriert werden, das bisher in seiner ästhetischen Eigenexistenz von der Forschung unterschätzt worden ist. Das poetische Theater soll als theater­historische Epoche definiert und analysiert werden.

Der gemeinsame Nenner der Theaterpoeten ist die Verwandtschaft mit dem surrealistischen Theater. Zahlreiche Elemente der surrealistischen Theaterästhetik finden sich später bei den Theaterpoeten wieder. Die Theaterpoeten nehmen – bewusst oder unbewusst – die zwei Filiationen (die literarische und die dramatische) des surrealistischen Theaters auf. Diese Arbeit soll die Verbindungslinien zwischen beiden Theaterepochen aufzeigen.

Die Verwandtschaft mit dem Surrealismus rückt das poetische Theater in eine avantgardistische Tradition. Die Avantgardeforschung hat viele verschiedene Erklärungsansätze hervorgebracht, um das Phänomen „Avantgarde“ zu erhellen. Dabei hat sie das Theater ausgespart, was angesichts des theatralischen Charakters der Avantgarde überraschen mag. Für die unterschiedlichen Epochen des Avantgardetheaters sollen Denkfiguren vorgeschlagen werden, außerdem soll das poetische Theater im Kontext des Avantgardetheaters verortet werden.

1.3 Aufbau der Arbeit und methodische Überlegungen

Die Arbeit ist in drei große Abschnitte untergliedert, die sich mit 1. der Avantgarde, ihrer Theorie und ihrem Theater, 2. dem Surrealismus und seinem Theater und 3. dem poetischen Theater befassen. Diese drei Themenkomplexe sind wie folgt miteinander verbunden.

Im folgenden Kapitel wird die Avantgardetheorie beleuchtet. Sie liefert ein wichtiges Bezugssystem, um die Avantgarde mit ihren künstlerischen Hervorbringungen – darunter auch das Theater – zu begreifen. Außerdem erlaubt sie es, die Aktualität und Relevanz der Avantgarde für das 20. und 21. Jahrhundert zu bestimmen, besonders auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft. Die wichtigsten Denkfiguren der Avantgarde sollen veranschaulicht werden. Es wird sich zeigen, dass die Merkmale, Widersprüche und Aporien der Avantgarde bereits im Kleinen, nämlich im Theater, vorhanden sind, da hier die „Beziehung Kunst-Leben schon institutionell in besonderer Weise präsent ist“1.

Das poetische Theater, das Gegenstand dieser Arbeit ist, stand in der Kontinuität des surrealistischen Theaters. Im dritten Kapitel erfolgt daher ein kurzer Überblick über die wichtigsten Aspekte des Surrealismus sowie des surrealistischen Theaters. Es kann hier nicht um eine umfassende Untersuchung gehen, da der Surrealismus und sein Theater von der Forschung bereits ausgiebig analysiert wurden. Hervorgehoben werden sollen lediglich die Aspekte, die auch im poetischen Theater anzutreffen sind. Hierfür wird auf theoretische Schlüsseltexte der Surrealisten und Personen im Umkreis der Surrealisten (z.B. Lautréamont, Reverdy, Apollinaire, Goll etc.) Bezug genommen sowie auf das von Henri Béhar in seiner wichtigen Studie Le théâtre dada et surréaliste formulierte Korpus surrealistischer Stücke und Sketche. Das surrealistische Theater lässt sich in zwei Kategorien unterteilen: die literarischen Stücke, in denen das Wort im Vordergrund steht, und die dramatischen Stücke, in denen alle Bühnenmittel gleichberechtigt sind. Mithilfe der Avantgardetheorie lässt sich nachvollziehen, wieso das surrealistische Theater wenig erfolgreich war und warum die meisten Surrealisten bald das Interesse am Theater verloren.

Das poetische Theater der Nachkriegszeit knüpft an die beiden Ausprägungen des surrealistischen Theaters an. Es wird hier exemplarisch am Beispiel der drei Theaterpoeten René de Obaldia, Romain Weingarten und Georges Schehadé untersucht. Es wird dabei nicht von einem fertigen Theaterpoesiebegriff ausgegangen, vielmehr soll die Definition von Theaterpoesie im Laufe der Untersuchung erst herausgearbeitet werden. Die Auswahl der drei Theaterpoeten sowie der hier untersuchten Stücke lässt sich wie folgt begründen.

Als wohl kommerziell erfolgreichster unter den Theaterpoeten der Nachkriegszeit steht René de Obaldia, dessen Stücke bis heute regelmäßig gespielt werden (im Dictionnaire de la Littérature française XXe siècle heißt es sogar, Obaldia sei „l’un des auteurs de théâtre les plus joués dans le monde entier“2), für die Popularisierung des Surrealismus am Theater. Obaldia interessiert sich nicht für Theorien oder die Revolutionierung der Institution Theater. Er will das Theater durch einen surrealistischen Sprachgebrauch wieder auf seine Essenz zurückführen: das Wort. Damit fügt er sich in die literarische Tradition des surrealistischen Theaters ein, auch wenn sein Sprachtheater dank seiner fast schon intuitiven Einhaltung dramatischer Grundregeln weit von der undramatischen Bühnenpoesie der Surrealisten entfernt ist. Bei Obaldia vollzieht sich eine Dramatisierung der surrealistischen Sprache und Inhalte sowie eine Rationalisierung surrealistischer Ideen.

Obaldias Theater wird am Beispiel von Genousie untersucht. Dieses im Jahr 1960 uraufgeführte Stück gilt als Obaldias erstes wichtiges Theaterwerk und wurde von der Kritik – zusammen mit den Impromptus à loisir – noch zum Avantgardetheater gezählt. Nach dem großen Erfolg von Du vent dans les branches de sassafras wurde Obaldia eher als Boulevardautor wahrgenommen. Genousie ist ein wichtiges Beispiel für ein surrealistisch inspiriertes poetisches Theater der Nachkriegszeit. Auch wenn Obaldia eine direkte Beeinflussung seines Werks durch den Surrealismus leugnet, zeichnen sich Verbindungslinien ab: Einbruch des Wunderbaren ins Alltägliche, Verhöhnung der intellektuellen Bourgeoisie, Spiel-im-Spiel-Elemente, Performativität der Sprache und eine heimliche Korrespondenz zwischen Realität und Traumwirklichkeit.

Romain Weingarten ist in dieser Diskussion deshalb wichtig, weil er zeigt, dass sich die Theateravantgarde nach dem Krieg kritisch mit dem Surrealismus auseinandersetzte und zwischen verschiedenen „Surrealismen“ unterschied. So interessiert sich Weingarten weniger für die Literarizität und Wissenschaftlichkeit des Bretonschen Surrealismus, sondern für die Körperlichkeit und Viszeralität Artauds und Vitracs, womit er an die dramatische Tradition des surrealistischen Theaters anknüpft. Während Obaldia und Schehadé keine Anstalten machten, das Theater zu erneuern, zeugt Weingartens Beschäftigung mit Artauds Schriften von einem echten theoretischen Interesse, dem Wunsch nach einer grundlegenden Erneuerung des Theaters und der Suche nach einer neuen Theatersprache. Dass er, ähnlich wie Artaud, in der Praxis nie erreichte, was er in der Theorie anstrebte, ist dabei zweitrangig: sein Theater hat Experimentcharakter und antizipiert bereits das postdramatische Theater, in dem der Text zugunsten nicht-verbaler Bühnenmittel in den Hintergrund tritt.

Weingartens Theater wird am Beispiel des 1948 aufgeführten Akara näher untersucht. Akara gilt als erstes Avantgardestück der Nachkriegszeit, der Autor selbst hat es als das letzte surrealistische Stück überhaupt bezeichnet. Einflüsse des Artaudschen und Vitracschen Theaters – Weingarten stand zu dieser Zeit vor allem unter dem Eindruck von Victor ou les enfants au pouvoir – sind in Akara besonders präsent. Die Aufführung machte Furore, Audiberti bezeichnete das Stück als „Hernani 48“. Mit seiner viszeralen Qualität, der Quasi-Absenz dramatischer Kategorien wie Handlung und Figurenentwicklung, der Gleichberechtigung verbaler und nicht-verbaler Bühnenmittel, dem Einsatz von Masken und dem Bestreben, nicht die objektiv wahrnehmbare Realität abzubilden, sondern die universalen Kräfte zwischen Menschen und Dingen, steht Akara in einer avantgardistischen Tradition. Im Gegensatz zu Obaldia, der sein Publikum auch auf intellektueller Ebene erreichen will, zielt Weingartens Theater vor allem auf die affektive Welt des Zuschauers, weshalb es oft schwer lesbar, unverständlich und rätselhaft wirkt. Auch deshalb hat sein Theater – abgesehen von dem großen Erfolg L’Eté – nie die öffentliche Anerkennung erlangt, die ihm eigentlich gebührt.

Georges Schehadé stand nach dem Krieg mit den Pariser Surrealisten in Kontakt, und Breton bezeichnete dessen erstes offizielles Stück Monsieur Bob’le in den Entretiens als „intégralement surréalist[e]“3. Diese Absegnung von Schehadés Theater als surrealistisch durch den Papst des Surrealismus persönlich ist schon Grund genug, dem libanesischen Theaterpoeten in einer Diskussion über das surrealistische Theater der Nachkriegszeit besondere Aufmerksamkeit einzuräumen. Schehadés Theater steht, wie das Obaldias, in der literarischen Tradition des surrealistischen Theaters, denn hier nimmt die poetische Sprache das Primat ein. Seine Stücke haben in der französischen Presse passionierte Debatten rund um die Vereinbarkeit von Poesie und Bühne entfacht. Die Symbiose der beiden Bereiche war bei einem Großteil der surrealistischen Theaterarbeiten ausgeblieben und wurde zum Teil auch Schehadés Theater abgesprochen. Welche minimalen Kriterien muss ein poetisches Theaterstück erfüllen, damit es auch als Theater – und nicht einfach als ein vor Publikum vorgetragenes Gedicht – wahrgenommen wird? An Schehadés Theater zeigt sich zudem eine Entwicklung, die für die gesamte Theateravantgarde der Nachkriegszeit von Bedeutung wurde: die Beziehung der Theaterschaffenden zur Öffentlichkeit, d.h. zu Publikum und Kritikern. Dieser Aspekt war für die historische Avantgarde, die innerhalb eines Netzwerks aus eigenen Zeitschriften und Verlagen operierte und die ihre Stücke zum Teil in Eigenregie auf die Bühne brachte und deshalb ein höheres Maß an künstlerischer Freiheit genoss, noch weitgehend irrelevant gewesen. Für die professionalisierte Theateravantgarde nach 1945 war das dramatische Schaffen nun auch an finanzielle Zwänge gebunden. Gerade Schehadé, der den Großteil seiner wichtigsten Schaffensperiode außerhalb der französischen Hauptstadt verbracht hatte, war auf seine Pariser Freunde angewiesen, die gleichzeitig als Kritiker, Berater und Mittelsmänner fungierten. Die Frage nach der Verantwortung der Kritik gegenüber einem aus kommerzieller Sicht fragilen poetischen Theater und gegenüber Autoren, die autonom arbeiteten und nicht mehr vom Rückhalt einer geschlossenen Gruppe profitierten, drängt sich hier auf.

Schehadés Theater soll am Beispiel des erstmals im Jahr 1951 aufgeführten Stücks Monsieur Bob’le näher untersucht werden, denn hier konnte sich die Poesie des Autors noch ungefiltert niederschlagen. Nicht umsonst schrieb Schehadé an Guy Dumur: „M. Bob’le est un texte de poësie“4. Außerdem wurde Monsieur Bob’le von Georges Vitaly inszeniert, der zuvor bereits Stücke Audibertis und Pichettes auf die Bühne gebracht und „une réconciliation du théâtre et de la poésie, pour servir ce 'théâtre de verbe' qui doit effectivement avoir sa place à côté du 'théâtre d’action'“5 angestrebt hatte. Im Laufe seines dramatischen Schaffens ist Schehadés écriture dramatique zunehmend konventioneller und insgesamt dramatischer geworden. Seine späteren Stücke waren mehr auf Publikumserfolg ausgerichtet und hatten an Poesie verloren zugunsten einer größeren Dramatizität. Monsieur Bob’le weist dagegen noch eine erfrischende Unbekümmertheit bezüglich seiner Publikumswirksamkeit auf. An den unterschiedlichen Reaktionen auf Monsieur Bob’le zeigt sich, ob und unter welchen Bedingungen ein poetisches Theater möglich ist. So hat Alter das Stück beispielsweise als ein gescheitertes Experiment angesehen, das die Grenzen des poetischen Theaters aufgezeigt habe, das aber sehr wichtig für die Entwicklung des Theaters allgemein gewesen sei.6 Surrealistische Elemente in Monsieur Bob’le sind die Absenz von Handlungs- und Figurenkohärenz, Traumwirklichkeit, die Entpsychologisierung der Figuren und vor allem die Poesie. Diese nimmt hier in der Gestalt des Monsieur Bob’le die Hauptrolle ein und transformiert alles und jeden, mit dem sie in Berührung kommt. Es ist eine Sprachpoesie, die sich vor allem in Weisheiten und Redewendungen ausdrückt und in einem Buch, dem „Trémandour“, gesammelt wird. Durch einen poetischen Sprachgebrauch kann die Realität neu erschlossen werden.

 

Im fünften und letzten Kapitel sollen die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und analysiert werden. Warum war das poetische Theater nicht erfolgreich? Wie kann es definiert werden? Welche surrealistischen Elemente sind im poetischen Theater zu finden? In welchen Figuren kann das Avantgardetheater gedacht werden? Welche Bedeutung hat das poetische Theater für die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, und wie ist es innerhalb des Avantgardetheaters zu situieren?

Diese Arbeit ist eine textbasierte und keine aufführungspraktische Untersuchung. Abgesehen von methodischen Schwierigkeiten, die mit einer aufführungsorientierten Herangehensweise verbunden sind, scheint eine textbasierte Untersuchung nur konsequent, schließlich liegt der Fokus beim surrealistischen und poetischen Theater hauptsächlich auf der Sprache. Wo Rezensionen vorhanden sind, wird auch die Rezeption des poetischen Theaters in die Untersuchung miteinbezogen, da die Publikumsreaktionen Aufschluss geben über Akzeptanz und Avantgardecharakter des poetischen Theaters zur damaligen Zeit. Anliegen dieser Arbeit ist es auch, die Autoren – soweit möglich – selbst sprechen zu lassen, was die teilweise sehr ausführlichen Fußnoten erklärt. Zur Wiedergabe französischer Zitate ist anzumerken, dass das im Französischen übliche Leerzeichen vor bestimmten Satzzeichen („espace insécable“) nicht eingehalten wurde. Um die Fußnoten nicht weiter in die Länge zu dehnen, wurden die Seitenzahlen bei Zitaten aus Theaterstücken direkt im Text hinter den jeweiligen Zitaten angegeben.