Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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From the series: edition lendemains #47
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3.5 Zusammenfassung

Das poetische Theater steht in der Tradition des Surrealismus und führt das Theater der Surrealisten fort. Das surrealistische Theater war jedoch ein widersprüchliches Unterfangen. Die Widersprüche zeichnen sich bereits im Surrealismus im Großen ab: die Frage, ob die gesellschaftliche Erneuerung mit der Veränderung des Individuums oder aber der Gesellschaft beginnen musste, wurde zur Zerreißprobe für die Surrealisten. War es möglich, das Leben von der Kunst her zu revolutionieren? Oder musste man dafür in die Politik gehen? Vermochte es die Kunst, aus dem Bereich des Ästhetizismus herauszutreten, um im echten Leben Wirkung zu zeigen? Am Theater, wo die Kunst-Leben-Dichotomie aufgrund der Koexistenz von Bühne und Zuschauerraum besonders offensichtlich ist, tritt das surrealistische Dilemma ganz besonders zutage.

Zwar stand Breton dem Theater skeptisch gegenüber, da es finanziellen und materiellen Zwängen unterlag, als Zeichensystem nicht wahrhaftig war und als künstlerische Institution einen ästhetischen Selbstzweck verfolgte. Dennoch war der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und -stücke offenbarte.

Als Forschungsobjekt stand das surrealistische Theater vor zwei großen Herausforderungen. Aus praktischer Sicht waren viele surrealistische Stücke lange nicht zugänglich. Doch dank der in den späten 1960er Jahren einsetzenden Surrealismusforschung wurden die Theaterstücke endlich veröffentlicht, analysiert, geordnet und kontextualisiert. Aus theoretischer Sicht stellte sich die Frage, ob es ein surrealistisches Theater überhaupt geben konnte, schließlich widersprach die dem Theater inhärente Trennung von Bühne und Zuschauerraum der surrealistischen Intention einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis. Die Surrealisten sahen sich am Theater mit zwei Möglichkeiten konfrontiert:

1 Die Dramatiker des surrealistischen Theaters, Artaud und Vitrac, waren ernsthaft am Theater und seiner Weiterentwicklung von innen interessiert und nahmen Kenntnis von den bühnenspezifischen Gegebenheiten. Sie schlugen den ästhetischen Weg ein und riskierten damit den Verlust der Radikalität und der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Kunst.

2 Die Literaten des surrealistischen Theaters um Breton sahen das Theater als ein Mittel unter vielen, um die Gesellschaft zu revolutionieren. Sie hegten kein theaterspezifisches Interesse, ihre Stücke waren hauptsächlich verbaler Natur. Nachdem sie jedoch erkannt hatten, dass sich die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht aufheben, sondern lediglich verschieben ließ, zogen sie sich von der Institution Theater zurück.

Die Ästhetik des surrealistischen Theaters umfasst viele Aspekte, die später auch für das poetische Theater von Relevanz sein werden.

Die Poesie hat bei den Surrealisten einen hohen Stellenwert. Sie ist kein bloßes Ausdrucksmittel mehr, sondern wird praktisch und zur Aktivität des Geistes. Sie erfährt somit eine Entgrenzung aus der Literatur hinein in andere Bereiche des Lebens, wo sie den Menschen aus seinen gesellschaftlichen und moralischen Ketten befreien soll. Bei den Surrealisten demokratisiert sich die Poesie und wird für alle zugänglich.

In den literarisch geprägten surrealistischen Stücken Bretons, Aragons, Picassos etc., aber auch in den dramatischen Stücken Vitracs, ist die Sprache das zentrale Bühnenelement. Sprache, Denken und Realität waren für die Surrealisten Synonyme: die Sprache musste erneuert werden, um ein neues Denken und damit eine neue Realität hervorzubringen. Die Erforschung der verborgenen Bereiche des menschlichen Daseins geschah über die Sprache. Hierfür bot sich der poetische Dialog ganz besonders an, wo zwei oder mehrere Gesprächspartner einander als Sprungbrett ins Unbewusste dienten. Die surrealistische Technik der écriture automatique ermöglichte es jedem, das Denken von verfremdenden Filtern wie Moral, Vernunft und Konventionen zu befreien und in den bisher im Dunklen liegenden Bereich der Mythen und Träume vorzustoßen. Die Figuren in den surrealistischen Theaterstücken sind rein verbaler Natur, sie sind Subjekte und Objekte zugleich und zapfen eine übergeordnete poetische Sphäre an.

Die Surrealisten lebten nicht in einer Parallelwelt, für sie blieb die Realität immer der Ausgangspunkt, um das Wunderbare zu erforschen. Realität und Irrealität, Wirklichkeit und Traum, Luzidität und Delirium etc. waren für sie keine voneinander getrennten Sphären, sondern standen im Austausch miteinander. Die Surrealisten waren tief in der Wirklichkeit verwurzelt, knüpften aber neue Beziehungen zu ihr. Das „merveilleux“, das in den surrealistischen Theaterstücken in Form von überraschenden, ungewöhnlichen, wunderbaren Momenten stark präsent ist, war ihre Richtschnur. Es entstand aus einer Umwertung der Beziehung zur Realität und war für jeden zugänglich.

Die Surrealisten wollten binäre Kategorien zum Einsturz bringen, so auch die Dichotomie Traum-Wachzustand. Diese Bereiche standen sich nicht gegenüber, sondern kommunizierten miteinander. Zu einem besseren Verständnis des Menschen musste der Traum weiter erforscht werden, der, wie auch der Wachbereich, einer Ordnung gehorchte. Die Surrealisten nutzten Techniken, wie z.B. das Schreiben im Halbschlaf, Traumprotokolle und Trancephasen, um der Logik des Traums auf den Grund zu kommen. Der Traum spielt auch in den surrealistischen Theaterstücken eine große Rolle, wo er zur Pforte in die verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz wird und den Figuren alternative Lebensentwürfe aufzeigt. Außerdem findet sich der Traum als Konstruktionsprinzip in manchen Stücken wieder.

Die Surrealisten wollten neue Mythen erschaffen. Mythen bieten einen alternativen Zugang zur Realität, da sie sich den wichtigen Fragen des Lebens nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf affektiver Ebene nähern. Paris war das Zentrum dieser modernen Mythologie, die eng mit der Suche nach dem Wunderbaren verknüpft war. Die französische Hauptstadt mit ihren Reklamen, Luxusgegenständen und Flaneuren wird in den surrealistischen Theaterstücken zur Protagonistin.

Die Collage, also die Übernahme von kunstfremdem Material in die Kunst auf solche Weise, dass sein Verwendungszweck und sein Wesensunterschied zu dem vom Künstler selbst angefertigten Material erkennbar bleiben, war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reaktion auf eine nicht mehr zu bewältigende Wirklichkeit. Die moderne Welt war zu komplex geworden, sie konnte nicht mehr als Ganzes erfasst werden, und das, was bisher als selbstverständlich gegolten hatte, wurde nun in Frage gestellt: Realität und Identität lösten sich langsam auf. Dasselbe geschieht in der Collage, wo traditionelle Dichotomien aufweichen. Das collagierte Material wird zu Kunst aufgewertet, die Kunst wird zu Nicht-Kunst abgewertet. Der Künstler ist nicht mehr das inspirierte Genie, sondern Organisator von Material, genau wie der Theaterregisseur. Die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischt in der Collage, wo das Alltägliche in die Kunst einbricht. Die Collage entspricht der surrealistischen Bildtheorie, nach der das Aufeinandertreffen zwei disparater Realitäten zu neuen, überraschenden Bildern führt, die eine transformative Kraft auf den Betrachter ausüben. Demnach geht es in der surrealistischen Poetik weniger um die Erfindung etwas gänzlich Neuen, sondern um die freie Kombinatorik bereits bestehender Elemente. Collage und Theater sind sich hier sehr ähnlich, denn hier wie dort geht es darum, Fragmente aus unterschiedlichen Bereichen der Realität auf einer geistigen oder konkreten Bühne zusammenzuführen. In den surrealistischen Theaterstücken wurde die Collage als Konstruktionsprinzip angewendet, und Elemente aus Kino, Zeitung und Literatur wurden in den Theatertext hineincollagiert.

Die Beziehung der Surrealisten zu ihrem Publikum war vor allem von Antagonismus geprägt. Es ging den meisten von ihnen nicht darum, ihr Publikum auf Augenhöhe zu treffen. Die Surrealisten wollten ihr Publikum vielmehr aus seiner Passivität aufrütteln, es schockieren und zur Reaktion zwingen. Einzig surrealistische Dramatiker wie Artaud wollten das Publikum zu einem gleichberechtigten Partner machen. Bei ihm sollte die Theatervorstellung für den Zuschauer zur Operation werden, aus der er nicht mehr intakt entlassen wurde. Theater sollte zu einem lebensbedrohlichen und -verändernden Ereignis werden.

Das surrealistische Theater war gescheitert, weil die Literaten unter den Surrealisten ihrer hauptsächlich verbalen Poesie nicht die nötige Schwere verleihen konnten, die sie am Theater benötigte. Außerdem hatten die Surrealisten, die in der Mehrzahl kein theaterspezifisches Interesse hegten, das Theater nach einigen Versuchen bald aufgegeben, weil sich gerade hier, in der Konfrontation von Bühne und Zuschauerraum, die Überführung von Kunst in Lebenspraxis nicht verwirklichen ließ. Die surrealistischen Dramatiker Artaud und Vitrac waren die einzigen, die in ihrer Bühnenpoesie auch die theaterspezifischen Umstände berücksichtigten, doch Artauds bahnbrechende Überlegungen zu einer neuen Theatersprache wurden bekanntlich zu seiner Zeit nicht realisiert. Es sind die Theaterpoeten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Fäden der surrealistischen Theatermacher wieder aufgreifen.

4 Das poetische Theater
4.1 Einleitung

Der Begriff des poetischen Theaters mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen, denn ist nicht letztlich der britischen Theaterkritikerin Lyn Gardner vom Guardian zuzustimmen, wenn sie sagt, dass „all theatre is, in one sense at least, poetry performed“1? Für André Rousseaux war das Theater schon immer das Sprachrohr der Poesie: „Le théâtre est, depuis toujours, la porte triomphale par où la poésie se présente à nous face à face.“2 Und in einem Artikel, in dem er Schehadé verteidigte, schrieb Dumur: „Il n’y a de théâtre que poétique. Tout le reste est mensonge.“3

 

In der vorliegenden Arbeit wird unter der Bezeichnung des poetischen Theaters, die sich mittlerweile in der Forschung – auch in Abgrenzung zum absurden Theater – etabliert hat, ein historisch klar umrissenes Theater verstanden. Der Begriff bezeichnet eine lose Gruppe französischsprachiger Dramatiker der unmittelbaren Nachkriegszeit, welche ihre Schriftstellerkarriere als Dichter begonnen hatten. Zeitlich anzusiedeln ist das poetische Theater in der Zeit zwischen den späten 1940er und den 1960er Jahren, zu ihm zählen Dramatiker wie Audiberti, Dubillard, Obaldia, Pichette, Schehadé, Tardieu, Vauthier und Weingarten.

Wie das absurde Theater ist das poetische Theater im Kontext der Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und der Popularisierung der französischen Existenzphilosophie Sartres und Camus‘ zu begreifen: Absurdität der menschlichen Existenz, Sinnlosigkeit und Hostilität des Universums, Entfremdung des Einzelnen von sich selbst und seinen Mitmenschen. Doch die Konsequenzen, die beide aus dieser condition humaine ziehen, sind grundverschieden. Bei den absurden Dramatikern herrscht eine nihilistisch-destruktive Weltanschauung, die sich vor allem in der Erosion der Sprache ausdrückt, welche nicht mehr in der Lage ist, ihre grundlegenden Funktionen (Darstellung der Wirklichkeit, Kommunikations- und Ausdrucksmittel, Vermittlung von Informationen etc.) wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu stehen die Theaterpoeten, die an eine surrealistische Tradition anknüpfen: sie sind mit dem Bereich des Wunderbaren und Traumhaften in Kontakt und rücken die Sprache in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Anstatt die Sprache zu zerstören, haben die Theaterpoeten Vertrauen in das Wort und seine schöpferisch-performative Kraft und zeigen darüber eine alternative Realität auf, die bei den absurden Dramatikern nicht mehr möglich scheint. Man kann also mit Tonnet-Lacroix4 von einem surrealistischen Theater nach 1945 sprechen.

Die Theaterpoeten führten die surrealistischen Theaterversuche jedoch nicht einfach fort. Die Surrealisten, das wurde im dritten Kapitel gezeigt, waren hauptsächlich Literaten und ignorierten die Unterschiede zwischen Poesie und Bühne. Sie hegten – bis auf einige Ausnahmen – kein ernsthaftes Interesse für die Bühne. Die Kunst war für sie ein Mittel zum Zweck, womit eine Gattungstrennung, die unterschiedlichen Genres unterschiedliche Regeln auferlegt, obsolet geworden war. Die Surrealisten hatten verkannt, dass Poesie auf der Bühne die Regeln des Theaters respektieren muss. Ionesco hat den literarischen Charakter des surrealistischen Theaters zu Recht kritisiert:

J’avais connu, bien sûr, plus ou moins, quelques tentatives Dadaïstes ou Surréalistes de théâtre, et Roussel et Vitrac. Cependant, à part Vitrac, aucune de ces tentatives antérieures n’avait le dynamisme, le mouvement, les ruptures, la vie, le côté 'événements surprenants' qui font qu’une œuvre soit dramatique, car les pièces Surreálistes n’étaient que de la littérature, mais pas du théâtre. […] Le théâtre n’est pas le dialogue, le théâtre ne fait qu’utiliser le dialogue. Combien d’auteurs n’ont pas compris cette vérité théâtrale fondamentale: le théâtre n’est pas dialogue, si subtil celui-ci puisse être.5

Im Gegensatz dazu waren die Theaterpoeten ernsthaft am Theater und an den bühnenspezifischen Mitteln interessiert. Sie haben erkannt, dass Poesie nicht direkt auf die Bühne übertragen werden konnte und strebten – intuitiv oder bewusst – an, was die Surrealisten nicht geschafft hatten: die Zusammenkunft von Poesie und Bühne, Immaterialität und Materialität, Unmittelbarkeit und Konkretizität, Literarizität und Dramatizität. Kurz: sie wollten das erreichen, was Cocteau im Vorwort zu Les mariés de la Tour Eiffel als „poésie de théâtre“ (anstelle einer „poésie au théâtre“6) bezeichnet hat. Wie und inwiefern den Theaterpoeten dies gelungen ist, soll im Folgenden betrachtet werden.

4.2 Das poetische Theater René de Obaldias
4.2.1 Einleitung

René de Obaldia kam am 22. Oktober 1918 in Hong Kong als Kind der Französin Madeleine Peuvrel und des Panamaers José Clemente de Obaldia, dem Konsul von Panama, zur Welt. Er war das jüngste von drei Kindern. Die Ehe scheiterte, und die Mutter kehrte mit den Kindern zurück nach Frankreich, wo Obaldia zuerst bei einer Pflegefamilie und dann bei seiner Großmutter aufwuchs. Am Lycée Condorcet, einem Pariser Elitegymnasium, erhielt er eine klassische Ausbildung. 1940 wurde er für den Krieg mobilisiert und verbrachte vier Jahre in Kriegsgefangenschaft in Schlesien. Diese Zeit zeichnete ihn und hinterließ in ihm „à la fois le sens tragique de la vie, une vision sarcastique de la comédie humaine et le désir de chercher dans les valeurs spirituelles la raison d‘être de nos existences“1. Im Jahr 1945 wurde er für sein Engagement mit der Croix de Guerre ausgezeichnet.

In der Nachkriegszeit schrieb Obaldia Gedichte und Lieder, seine Texte wurden unter anderem in Le Mercure de France, La Table Ronde, 84, Contemporains und Les Cahiers des Saisons veröffentlicht. Seine Karriere als Dichter hatte er bereits im Jahr 1938 begonnen, als er seine erste Gedichtsammlung, ein dünnes Heft mit dem Titel Humaï (nom que les Indiens donnent à l’oiseau de paradis)2, veröffentlichte. 1949 publizierte er das lange, surrealistisch anmutende Gedicht Midi, 1952 folgten Les Richesses naturelles, kurze poetische Prosatexte, die im Untertitel als „récits-éclairs“ beschrieben werden. 1969 wurden die Innocentines veröffentlicht, die bis heute im französischen Collège gelesen werden und die dem Autor als seine „moments de grâce“3 besonders am Herzen liegen.

Obaldia veröffentlichte auch längere Prosatexte: den Roman Tamerlan des cœurs (1955), auf den Jean Vilar aufmerksam wurde und von dem ein Kritiker sagte, er „présage la ruine du roman traditionnel“4. Es folgten die Erzählungen Fugue à Waterloo und Le Graf Zeppelin ou la Passion d’Émile (1956) und der Roman Le Centenaire (1959). Seine Memoiren mit dem Titel Exobiographie (1993) befinden sich an der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, und Obaldia hat mit ihnen, so Jolas, „un nouveau genre“5 erfunden.

Für sein Werk wurde Obaldia mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Grand Prix du Théâtre de l’Académie française (1985) für sein dramatisches Gesamtwerk, dem Grand Prix de la Société des Auteurs Dramatiques (1989), dem Molière du Meilleur Auteur (1993), dem Prix Marcel Proust (1993), dem Prix Novembre (1993) und dem Grand Prix de la Langue Française (1996). Im Jahr 1999 wurde er als Nachfolger Julien Greens Mitglied der Académie Française, die er angesichts des wachsenden Laxismus in der Gesellschaft augenzwinkernd als „institution d’avant-garde“6 bezeichnet hat. Doch es ist das Theater, für das Obaldia die größte Bekanntheit erlangt hat.

4.2.2 Grundzüge seines Theaters

Obaldias dramatisches Schaffen konzentriert sich vor allem auf die 1960er und 1970er Jahre. In diese Zeit fallen auch seine Kollaborationen mit bedeutenden Häusern. Neben Jean Vilars Théâtre National Populaire, wo Obaldia im Jahr 1960 mit Genousie zum Dramatiker konsekriert wurde, wurde er Anfang der 1970er Jahre mit weiteren „neuen“ Autoren (darunter auch Weingarten) im Rahmen einer Initative des damaligen Intendanten Pierre Dux an der Comédie-Française gespielt (Le général inconnu, Petite suite poétique résolument optimiste). Mit Michel Simon1, Jean Gabin, Gino Cervi und Michel Bouquet interpretierten auch große Schauspieler Obaldias Figuren.

Obaldias Stücke wurden häufig zuerst von Theatern außerhalb von Paris aufgeführt. Dem Theater der französischen Hauptstadt stand Obaldia äußerst kritisch gegenüber: er befand die Pariser Theaterwelt der Nachkriegszeit als besonders risikofeindlich, kleingeistig und uninspiriert.2 Ab den 1980er Jahren, nach Les Bons Bourgeois, pausierte Obaldia vom Theater und meldete sich erst am Ende der 1990er Jahre mit Pour ses beaux yeux, Entre Chienne et Loup und Rappening zurück. Obaldia erklärte diese Pause damit, dass er Opfer seines eigenen Erfolgs geworden war. Erst die Begegnung mit dem Regisseur Thomas Le Douarec habe ihn dazu motiviert, wieder fürs Theater zu schreiben.3

Obaldia ist ein sehr produktiver Dramatiker. Zu seinem Theaterwerk zählen über dreißig Stücke. Neben den sechs großen Komödien in zwei Akten hat er vor allem Einakter mit nur wenigen Personen verfasst. Mehrere davon wurden spezifisch fürs Radio geschrieben. Die Form- und Themenvielfalt von Obaldias Theater ist beachtlich: der Autor lässt sich von populärkulturellen Formaten inspirieren wie dem Western (Du vent dans les branches de sassafras), dem Krimi (Le Satyre de la Villette), der Science-Fiction (Monsieur Klebs et Rozalie) und dem Rap (Rappening); der Boulevard ist besonders in klassischen Dreieckskonstellationen anwesend (Deux Femmes pour un Fantôme, La Baby-Sitter, Pour ses beaux yeux, Le Grand Vizir); manche Radiostücke sind wahre Klang-, Wort- und Geräuschcollagen (Le Damné, Urbi et Orbi, Les larmes de l‘aveugle) und brachten Jolas dazu, Obaldia zum Erfinder einer neuen Theaterform, dem „Théâtre pour l’Oreille“4, zu erklären; mit dem komplett in Alexandrinern verfassten Stück Les Bons Bourgeois hat Obaldia eine Hommage an Molière geschaffen; und auch das Mystische, Göttliche, Heilige (…Et à la fin était le bang, Urbi et Orbi, Le Damné, La Baby-Sitter) sowie sein weltlicher Ersatz, die Psychoanalyse (Le Banquet des Méduses, Entre Chienne et Loup, L’extra-lucide), sind in vielen seiner Stücke präsent. Obaldia bedient sich häufig an bestehenden Formen und füllt diese neu aus, nach eigener Aussage will er „ré-utiliser les 'formes' (vers classiques, références culturelles multiples, situations conventionnelles), formes devenues mortes, afin de les réinsérer dans un contexte vivant.“5 Nicht nur Stile, auch unterschiedliche historische Epochen vermischen sich in seinem Theater: „Je pense […] que toutes les civilisations sont contemporaines.“6 In der Stil- und Epochenvielfalt von Obaldias Theater manifestiert sich das, was Bürger7 als ein Verdienst der historischen Avantgarde definiert hat: die Verfügbarmachung aller künstlerischen Mittel für die Kunstproduktion.

Trotz seines Erfolgs am Theater bezeichnet Obaldia seine Theaterkarriere als Unfall.8 Während seiner Zeit als Generalsekretär am Centre International Culturel von Royaumont (1952-1954) schrieb er die Einakter Le Défunt und Le Sacrifice du bourreau, um sich und den Besuchern die Zeit zwischen Kolloquien zu vertreiben im Glauben, dass „culture per se is really not something deadly; […] it is something very much alive, exciting and productive“9. Damals habe er keineswegs an eine professionelle Theaterkarriere gedacht. Erst mit Genousie, das sich aus seinen Erfahrungen in Royaumont speist und 1960 unter Jean Vilar zur Aufführung kam, erreichte Obaldia als Theaterautor Bekanntheit. Im selben Jahr erklärte Obaldia sogar, er interessiere sich nicht einmal als Zuschauer fürs Theater, das immer eine marginale Rolle in seiner Arbeit als Schriftsteller gespielt habe.10 Es folgten dennoch zahlreiche weitere Stücke, und so ist Obaldia heute vor allem als Theaterautor bekannt. Bis heute ist er – insbesondere bei Amateuren – ein häufig gespielter Autor.

Obaldias Theater wird von Kritikern bereits als „un théâtre classique de l’absurde“11 und sein Gesamtwerk als Klassiker12 betrachtet. Jedoch wurde er aufgrund der boulevardesken Momente in seinen Theatertexten auch häufig als Boulevardautor bezeichnet. Zwar hat Obaldia eine direkte Beeinflussung seines Werks durch den Surrealismus zurückgewiesen, dennoch ist es surrealistisch geprägt. Obaldia wurde bezeichnet als ein „créateur d’un drame au surréalisme bon enfant“13, ein „apprenti-surréaliste“14, ein „enfant des surréalistes“15, ein „heir to the surrealist movement“16 oder gar als „le petit-fils de Jean Giraudoux, mais qui aurait passé ses vacances avec André Breton“17. Obaldia hat den Surrealismus auf der Bühne populär gemacht: „[R]arement le surréalisme“, heißt es im Dictionnaire des Littératures française et étrangères, „en étant aussi théâtral, aura-t-il été aussi populaire.“18 Als „l’un des maîtres du surréalisme populaire“19 hat der Theaterpoet den steifen, sterilen, intellektuellen und oft hermetischen Bühnensurrealismus Bretons für die breite Masse zugänglich gemacht.

 
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