Kapitäne!

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Die letzte Überzeugungsarbeit lieferten die Groschenromane von Jerry Cotton, in denen ich Anzeigen für die Hochseefischerei entdeckte: „Die letzten Wikinger fahren in der Hochseefischerei“. Ich meldete mich in Cuxhaven und kam auf den Seitenfänger Minden. Ich war zwar erst 18, doch harte Arbeit kannte ich von meiner Lehrzeit auf dem Fluss.

Viele Jahrzehnte lang war ich auf dem Nordatlantik unterwegs. Grönland, Island, Spitzbergen, zwischendurch fuhr ich für eine Reederei auf den Färöern. Auf diesem Trawler-Purse Seiner (Ringwaden) gab es sogar eine Orgel an Bord, weil die strenggläubigen Inselbewohner auf Kirchenmusik standen. In Alaska und Kamtschatka habe ich auch gefischt, das war mein Abstecher auf den Pazifik.

Was ich von alten Kapitänen lernte und mir abschaute, war ihre Disziplin. Wer später etwas wurde, der ging nach der Wache nicht gleich in die Koje, sondern notierte noch, was er wo in welcher Tiefe fing. Eine persönliche Landkarte, wo man Fisch findet. Diese Aufzeichnungen sind bares Geld wert. Ich habe daheim ein ganzes Regal mit Notizheften und handgefertigten Seekarten.

Informationen auf See zu erhalten, das kann man vergessen. Fischer lügen wie gedruckt, über Funk sowieso. Das ist gar nicht böse gemeint, das ist einfach so. „Mensch, hier ist gar nix los“, kann bedeuten, dass die Hols kaum an Bord zu bekommen sind. Gibt jemand durch, dass er zufrieden ist, werde ich auch misstrauisch. Unter befreundeten Kollegen hilft man sich, keine Frage. Dann hatte man vor einer Reise am Tresen einer Hafenkneipe bestimmte Codes ausgemacht. An einen erinnere ich mich noch: „Fritz schlägt Emil“ bedeutete, dass es ein gutes Revier war.

Im Laufe der Jahre erlebt man auch Dinge, die für Adrenalinschübe sorgen. Auch das gehört zum Beruf. Einmal habe ich einen Helikopter aus der See gefischt, das ist kein Seemanngarn. Das Ding war in der Nordsee abgestürzt, nahe der norwegischen Egersund-Bank und fiel keine 200 Meter entfernt an meiner Backbord-Seite ins Wasser. Alle Passagiere und der Pilot überlebten und wurden von einem norwegischen Fischer, der dicht neben mir fischte, gerettet. Ich habe, nachdem ich den Fang an Deck gehievt hatte, eine Schwimmtrosse um den treibenden Helikopter ausbringen lassen. Mein Gedanke: eventuell eine Bergungsprämie für das Objekt kassieren.

Was sollte ich damit tun? Ich rief den Reeder an.

„Behalte den erstmal“, sagte er.

Nach ein paar Stunden habe ich den Beifang dann an ein norwegisches Küstenwachboot abgegeben. Der mögliche Havarielohn stand in keinem Verhältnis zu den Verlusten, die wir wegen entgangener Fangerlöse zu erwarten hatten.


Über die Gefahren auf See macht man sich als Fischer keine Gedanken. Man schiebt sie weg. Natürlich hat man von den Unglücken im Nordatlantik gehört. Von den gesunkenen Trawlern. Von Unglücken wie auf dem Fischereimotorschiff Teutonia, das im Mai 1968 auf dem Rückweg von einer Fangreise südwestlich von Island von einer großen Welle getroffen wurde. Wie ein Vorschlaghammer schlug ein Kaventsmann die Brücke ein. Drei Fischer starben. Oder der Untergang des Heckfängers München, der im Juni 1963 in schwerer See langsam volllief, weil die Speigatten defekt waren. 27 Fischer ertranken oder erfroren in den Rettungsinseln. Mehr als tausend Fischer, so die Schätzungen, kamen unter Island ums Leben. Ihnen hat man in Vík auf Island ein Denkmal gesetzt.

In kritischen Momenten kommt es darauf an, eine gute Mannschaft zu haben. Am 14. Mai 2000 gab es einen solchen Moment. Wir fischten mit einem Fangfabrikschiff, der 68 Meter langen Hannover, schwarzen Heilbutt unter Grönland. Auf der Gauss-Bank, in 1030 Meter Wassertiefe, um genau zu sein. Mein Bestmann stürzt auf die Brücke, außer Atem.

„Feuer! Wir haben ein Feuer an Bord!“

Der Brand war im Maschinenleitstand ausgebrochen. Wenige Momente später heulten die Sirenen. Rauch drang ein. Wir stellten die sogenannte Verschlussrolle her und der Feuerstoßtrupp begann − unter schwerem Atemschutz − mit den Löscharbeiten. Als ich die Reederei informierte, trug ich schon eine Atemschutzmaske. Beißender Qualm und Dämpfe waberten durch die Kabelkanäle, die damals noch nicht vergossen waren, und verteilten sich im gesamten Schiff. Windstärke sieben bis acht Beaufort, ruppige Seen aus Nordost. Zweimal meldete der Stoßtrupp: „Offenes Feuer gelöscht!“ Doch hinter den Verschalungen und Schaltschränken setzte sich ein Schwelbrand fort. Ich entschied sofort, den Stoßtrupp aus dem Maschinenleitstand abzuziehen, und flutete diesen mit CO2, damit sich der Brand nicht weiter ausbreiten konnte. Die Hauptmaschinen wurden abgestellt.

Meine Crew aus 21 Mann musste von Bord, das war klar. Ich setzte ein „Mayday“ ab. Wir hatten Glück. Ein grönländischer Trawler, die Polar Nattoralik, befand sich in der Nähe und erreichte uns nach knapp zwei Stunden. Später kamen uns zwei weitere Trawler zur Hilfe. Meine Männer kletterten über pendelnde Jakobsleitern von Bord und fuhren mit Schlauchbooten rüber zu den Kollegen, was angesichts der schweren See gar nicht so einfach war. Ich blieb an Bord. Das Fanggeschirr, das noch am Meeresgrund war, hielt das Schiff mit dem Heck in Wind und See, quasi wie vor einem Anker. Ich verlasse mein Schiff nicht, solange es Möglichkeiten gibt. Zur Herstellung eines Schleppgeschirrs kamen später sieben Mann der Besatzung zurück auf die Hannover.

Polar Nattoralik nahm unseren Trawler auf den Haken. Wir kappten die Schleppdrähte (Kurrleinen) des Fanggeschirrs und setzten die sieben Seeleute wieder auf Polar Nattoralik ab. Dann liefen wir Richtung Island. Im Schiff und auf der Brücke standen giftige Dämpfe. Dort konnte ich mich nicht aufhalten. Aber der Überlebensanzug, den ich trug, war bequem und sorgte für Wärme. Ich habe in diesen Nächten gut geschlafen, auf einem Haufen Netzen in einer Ecke an Deck. Man brachte mir Essen und Getränke mit dem Rescue Boat und es war gut auszuhalten. Ich wollte nicht, dass der Vorgang als „Bergung“ deklariert wird. Nicht für mich, nicht für die Reederei, auf die enorme Kosten zugekommen wären. Eine Frage der Ehre.

Am zweiten Tag, der Wind nahm mittlerweile auf sechs Beaufort ab, brachte man mir eine Nachricht von der Brücke des grönländischen Trawlers. Ich sollte das Schiff verlassen, Anweisung meines Reeders, was ich zunächst nicht glauben mochte. Erst, als man mir beim nächsten Besuch ein Telex mitbrachte, auf dem die Anweisung des Eigners deutlich formuliert war, willigte ich ein. Zu diesem Zeitpunkt war mein Job erfüllt, denn das Schleppen galt nicht mehr als volle Bergung, sondern nur als Hilfeleistung. Am dritten Tag ließ ich mich, mit ein paar Leuten meiner Crew, wieder auf mein Schiff übersetzen. Nach einem Kontrollgang durch das Schiff konnte man vermuten, dass das Feuer erloschen war. Am 17.05. um 10:50 Uhr Ortszeit erreichten wir Reykjavík.

Die Feuerwehr von Reykjavík öffnete den Verschlusszustand und bestätigte: „Feuer gelöscht“. Keine sechs Wochen später waren wir wieder draußen auf dem Fangplatz. Das zuvor gekappte Fanggeschirr konnten wir mit einem Suchanker wieder auffischen, gleich beim ersten Versuch. Somit hatten wir rund 200.000 D-Mark „gerettet“. Die Seeämter in Reykjavík und später auch in Emden, die den Unfall untersuchten, sprachen uns korrektes Verhalten und gute Seemannschaft aus.

In Reykjavík gab es noch eine Überraschung. Die Cuxhavener Bundestagsabgeordnete Annette Faße (SPD) überreichte mir einen persönlichen Brief. Von Bundeskanzler Gerhard Schröder, persönlich. „Ich bin erleichtert über die Rettung aller Besatzungsmitglieder“, schrieb er. Offenbar hatte er sich erinnert: Als er noch Ministerpräsident von Niedersachsen war, hatte Schröder unseren Trawler einmal besucht. Der Name der Landeshauptstadt hatte uns Glück gebracht.

Zuletzt wurde am 23. November 2015 Tasiilaq, ein Ort an der Ostküste Grönlands, von einem Piteraq „überfallen“. Zwischen 7 und 8 Uhr (MEZ) erreichte der Mittelwind 32 m/s (115 km/h) mit Böen bis zu 53 m/s (191 km/h). An einer Wetterstation sollen sogar 70 m/s (252 km/h) gemessen worden sein. Die Schäden waren umfangreich.


KAPITÄN KARL FRIEDHELM VON STAA


Jahrgang 1949, kam in Oberhausen auf die Welt. Von 1975 bis 1977 machte er sein BG-Patent in Cuxhaven. In seiner Freizeit segelt er gerne. Sein Sohn Sascha ist ebenfalls Kapitän. Von Staa lebt in Cuxhaven.

1 Growler sind große Stücke, die von einem Eisberg abgebrochen sind.

2 Vergleichbar mit dem „Bootsmann“ in der Handelsfahrt, also der Boss an Deck.


MISSISSIPPI

NAME KAPITÄN DIETMAR FROBÖSE SCHIFF FRACHTER CHRISTINA BISCHOFF FAHRTGEBIET MÜNDUNGSDELTA DES MISSISSIPPI DATUM SOMMER 1958


Der Heuerstall befand sich oberhalb der Landungsbrücken auf Sankt Pauli. Ein Warteraum, eingenebelt vom Rauch ungezählter Zigaretten. Auf den Pritschen hockten Seeleute und warteten darauf, dass sich eine Klappe zur nächsten Reise öffnete. „Max“, der Heuerbaas, den jeder Seemann in der Stadt kannte, nahm mein Seefahrtsbuch entgegen.

 

„Tramper, weltweite Fahrt“, sagte ich.

„Ja, ja“, brummte er.

Dann knallte die Holzklappe zu.

Ich setzte mich zu den anderen auf die Pritsche. Den Warteraum kannte ich bereits, und ich wusste, dass es diesmal lange dauern würde, bis ich an der Reihe war. Ich wollte unbedingt auf „Große Fahrt“, nach verschiedenen Reisen auf Küstenmotorschiffen, die einfacher zu bekommen waren. Es war Januar 1958 in Hamburg, ich war 17 Jahre alt, Jungmann und pleite. Meine Mutter zahlte mir zwar noch jeden Tag fünf D-Mark als Taschengeld, doch das Geld ging schnell in den Kneipen der Reeperbahn drauf.

Ich wartete, und kam mit anderen Seeleuten ins Gespräch. Auch deshalb, weil ich ihnen im benachbarten Restaurant ein Bier ausgab. Matrose Peter sah aus wie ein Bodybuilder. Matrose Bajo, der aus einer alten Seefahrerfamilie in Altona stammte, war ein Hüne, 1,90 Meter groß. Wir stellten fest, dass wir die gleiche Heuer suchten. Tag um Tag verging, es war zäh. Wir hockten auf den Pritschen und rauchten. Gelegentlich gab es durch eine liegen gelassene Zeitung etwas Abwechslung, ansonsten herrschte Langeweile. Die Seeleute dösten durch die Tage.

Dann endlich, nach etwas mehr als einer Woche, kam Bewegung in den Warteraum.

„Bark und Bajoralis: Große Fahrt!“, rief Heuerbaas durch die Luke. Beide sprangen auf und nahmen sofort an.

Was war mit mir?

„Lass die Finger von dem Kahn“, raunte mir Max zu.

„Ist das ein Tramper?“, fragte ich.

„Ja.“

„Dann nehme ich das Schiff!“

Er zögerte einen Augenblick, dann händigte er mit die Heuerpapiere aus, mit den Worten: „Junge, wenn du meinst.“

Die Matrosen hatten die Reaktion des Heuerbaases mitbekommen und fragten, was denn diese Bemerkung sollte. Ich schüttelte nur den Kopf, denn Zeit nachzudenken hatten wir keine. Unser Schiff, die Christina Bischoff, lag am Baumwall, also nicht weit entfernt, und als wir dort ankamen, erfuhren wir, dass wir noch am Abend auslaufen sollten.

Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, holte meinen Seesack und einen kleinen Pappkoffer, den ich bereits gepackt hatte, und verabschiedete mich von meiner Mutter.

„Was ist das für ein Schiff?“, fragte sie besorgt.

„Weiß ich auch nicht genau – aber ein Tramper.“

„Was ist denn das?“

Da war ich schon zur Tür hinaus.

Dunkelheit lag über dem Hafen und es regnete, als ich an Bord der Christina Bischoff ankam. Das alte Dampfschiff machte einen verwahrlosten Eindruck: Die Luken waren noch nicht dicht und an Deck standen Fässer und andere Deckslast, alles ungelascht. Seeklar war dieses Schiff nicht. Und auch sonst in einem miesen Zustand. Die Schwingdavits waren durch den Rost regelrecht mit dem Deck verschmolzen und ließen sich nicht bewegen. Schanzkleid und Deck zeigten überall dunkle Rostflecken auf. Dieses Schiff war ein „Seelenverkäufer“.

„Sieh to (zu), dass du an Deck kommst“, schimpften die Matrosen. Ich lief runter in die Mannschaftsunterkunft, zog mir rasch die Arbeitskleidung über und eilte an Deck. In diesem Moment wurden schon die Leinen losgeworfen. Wir liefen aus. Einer von uns musste steuern. Wir fünf Deckkräfte versuchten, das Chaos in Ordnung zu bringen. Wir wuchteten die schweren Lukendeckel, die jeweils einen Zentner wogen, auf die Scherbretter, wie man quer zur Luke eingehängte Stahlträger nannte. Vorsicht war geboten, denn wegen des Regens war das Deck rutschig. Aus der Brückennock grölte der Erste Offizier Anweisungen, die Lukendeckel provisorisch mit einer Persennig abzudecken. Als wir die Kugelbake von Cuxhaven passierten mit Kurs Englischer Kanal, hatten wir dies geschafft und auch die Fässer behelfsmäßig gelascht.

Wir spürten Erschöpfung und Hunger, wir brauchten dringend eine Pause. Der Koch hatte tatsächlich belegte Brote vorbereitet. Der Chief beorderte die 00-04-Wache, zu der ich gehörte, in die Kojen, obgleich das Schiff noch immer nicht wirklich seeklar war. Total verschmiert ging ich in den kleinen Waschraum. Auf einem Dampfschiff gab es immerhin ausreichend heißes Wasser und Dampf. Es gab verzinkte Waschbecken und zwei mit Ventilen versehene Dampfrohre, die quer durch den Raum liefen. Als das Schiff zu rollen begann, verlor ich den Halt und fiel auf eines der heißen Rohre. Der rote Streifen am nackten Po sollte mich noch einige Zeit begleiten. Fluchend legte ich mich in die Koje, um ein wenig zu dösen, bevor um Mitternacht meine Wache begann.

Die ganze Nacht hindurch wurde an Deck gearbeitet, um die ungesicherte Deckslast in den Griff zu bekommen. Angesichts der See, die immer schwerer wurde, kein leichtes Vorhaben. Zum Glück waren nur erfahrene Seeleute an Bord: drei Matrosen, ein Leichtmatrose und zwei Jungmänner, die wussten, was zu tun war und die vor allem seefest waren. Nordseewasser schoss durch die Speigatten nach oben, wir mussten aufpassen, dass es uns nicht von den Füßen riss. Immer wieder rollte ein großes Fass über das Deck und stellte uns vor Schwierigkeiten. Mit einigen Broken3 und langen Leinen, die wir mit „Spanischen Winden“ (kurze Holzknüppel zum Eindrehen) strafften, gelang es uns schließlich, die Dinger stramm am Schanzkleid zu befestigen.

Nachdem die Probleme befestigt waren, wurde es ruhiger. Die Reise ging durch die Biskaya, durch das Mittelmeer, das Schwarze Meer nach Italien, wo wir große Mengen Martini, Wein und andere Getränke in Kartons luden. Damit setzten wir die Reise fort, mit Ziel New York. Es wurde eine ruhige Transatlantik-Passage, und an Bord herrschte eine gute Stimmung. Wir verstanden uns. In New York angekommen, lagen wir in Brooklyn neben einem Kreuzfahrtschiff. Wir beeindruckten die weiblichen Passagiere, indem wir aus der Saling, also hoch oben am Mast, ins Hafenbecken sprangen. Immer haarscharf am Schanzkleid vorbei, was mindestens eine böse Verletzung zur Folge gehabt hätte. Nach New York steuerten wir Miami an, wo wir nachts im Pool eines Hotels schwammen, bis wir von Sicherheitsleuten verjagt wurden. Es war eine Abwechslung zum tristen Alltag an Bord. Der Smutje machte Geschäfte mit unserem Proviant, und wir vermuteten, dass auch die Schiffsleitung darin verwickelt war. Man drehte uns Margarine in Butterbrotpapier an. Das Essen war oft schlicht ungenießbar. Freitags gab es Fisch, der so übel stank, dass wir ihn gleich über Bord kippten. Alles an diesem Schiff war schlecht. Der Alte, ein betagter Herr, war selten zu sehen, und wenn, dann war seine Laune unerträglich. Je länger die Reise dauerte, desto feindseliger wurde das Verhältnis zwischen Schiffsleitung und der Crew. Mir ist bis heute ein Rätsel, wie dieses Schiff eine Fahrterlaubnis bekam.

Mit dieser angespannten Situation an Bord steuerte die Christina Bischoff das Mündungsdelta des Mississippi an. Wir fuhren den großen Fluss hinauf bis nach New Orleans. Hier begann ein Drama, dessen tragisches Ende mich bis zum heutigen Tage, viele Jahrzehnte später, verfolgt.

New Orleans, „The Big Easy“, die Stadt des Jazz und der harten Partys, gefiel uns jungen Seeleuten ausgesprochen gut. Jede Nacht stromerten wir durch die Clubs entlang der Canal Street. Jung, braungebrannt und voller Testosteron. Es gab nur ein Problem: unseren ständigen Geldmangel. US-Dollar waren kostbar und mit unserer bescheidenen Heuer, ausbezahlt in D-Mark, kamen wir nicht weit. Glücklicherweise ging beim Löschen der Ladung immer wieder ein Karton mit italienischen Spirituosen zu Bruch. Einzelne Flaschen, die wir aufsammeln durften, verkauften wir dann an Land.

Es dauerte nicht lange, bis wir drei hübsche Mädchen kennenlernten. Peters Bekanntschaft war die Tochter eines Zahnarztehepaars und mit einem kleinen, offenen Sportwagen der Marke Triumph unterwegs. Ihre Eltern besaßen ein Wochenendhaus direkt am Golf von Mexiko. Sie lud uns alle ein, das Haus zu besuchen. Der Alte hätte uns einen Landurlaub niemals genehmigt. Doch die Gelegenheit war einfach zu gut. Wir willigten ein. Über die Konsequenzen konnten wir uns noch später Gedanken machen.

Im offenen Wagen brausten wir über die Straßen Richtung Meer, lachend, fröhlich, wir spürten den warmen Fahrtwind im Gesicht. Das Ferienhaus war sehr großzügig eingerichtet. Es gab eine überdachte Wassergarage, in der ein Motorboot lag. Wir fühlten uns großartig, wir fühlten uns so frei. Es waren unbeschwerte Tage, in denen wir im warmen Wasser schwammen, kaltes Bier tranken und Wasserski fuhren.


Wir fühlten uns wie die Könige der Welt.

„Ich bleibe hier“, sagte Peter in einem Moment, als wir ohne die Mädchen auf der Veranda saßen.

Wir sahen ihn erstaunt an. Abhauen? Ohne Erlaubnis und ohne Papiere? Das roch nach einer Menge Ärger. Andererseits: War dies nicht das Paradies? War das Leben in New Orleans nicht alles, von dem wir immer geträumt hatten? Nun war es so nah. Zwei unbeschwerte Tage vergingen, in denen wir immer wieder über diesen Gedanken sprachen.

Am Morgen des dritten Tages, wir saßen bei geöffneten Fenstern und frühstückten, klopfte jemand energisch an die Tür. Mir war sofort klar, was für eine Art Klopfen das war und ich kletterte auf einen Stuhl, um im Ernstfall über den Tisch durchs Fenster zu springen. Peters Mädchen öffnete. Zwei breitschultrige Polizisten standen im Türrahmen. Einer klopfte auf sein Halfter, in dem ein schwerer Colt steckte. Meine Fluchtpläne lösten sich in diesem Moment in der Morgenluft auf. So grimmig, wie er aussah, bestand kein Zweifel, dass er von der Schusswaffe Gebrauch machen würde.

„Mitkommen!“

Auf Handschellen verzichtete man, als man uns in einem Polizeiauto in den Hafen von New Orleans fuhr. Wie nur hatten uns die Cops so schnell finden können? Zurück an Bord der Christina Bischoff wurde das Rätsel gelöst. Peter hatte eine Karte seines Mädchens, auf das sie ihre Anschrift gekritzelt hatte, auf dem Tisch seiner Kammer vergessen.

Das Schiff war mit unserer Ankunft reisefertig, wir legten ab. Für unseren unangemeldeten Ausflug mussten wir uns noch rechtfertigen, das war klar. Zu jener Zeit galt in Deutschland noch der Strafbestand der Desertion; wir hatten mit einem Prozess, womöglich auch mit einer harten Strafe zu rechnen. In Peters Kammer berieten wir, was nun zu tun war.

„Ich fahre nicht nach Deutschland zurück“, sagte Peter. „Ich bleibe hier in Amerika.“

Sein Plan war simpel: Solange wir noch auf dem Fluss waren, sollten wir in den Mississippi springen. Nach Sonnenuntergang, aber noch bevor das Schiff das Delta erreichte, wollten wir uns an einer Leine, die mit einem leeren Fass verbunden war, über das Heck ins Wasser gleiten lassen. Einer von uns würde die auf dem Schanzkleid befestigte Leine losschmeißen und wir würden mit dem Fass sicher an Land schwimmen. Wir tranken Bier, während wir unseren Fluchtplan schmiedeten. Als wir damit fertig waren, war der Kasten leer.

Leider hatten wir die geplante Position, an der wir springen wollten, längst passiert. Wir befanden uns nun im breit aufgespreizten Mündungsgebiet des großen Flusses. War der Plan gescheitert? Im Fluss schwammen eine Menge Kaimane, das wussten wir. Wie sollten wir aus den Mangroven herausfinden. Wie eine Straße finden? Gedanken schossen mir in den Kopf, und ich mochte nicht in den Fluss. Doch andererseits war ich der Jüngste, der nicht gefragt wurde, was er von den Dingen hielt, sondern nur mitmachen durfte. Als „kleiner Schisser“ wollte ich nicht gelten.

„Also, was ist?“, herrschte Bajo mich an.

Ich nickte. Mein Verstand sagte mir, dass es keine gute Idee war, doch der Alkoholnebel und vielleicht auch das Gefühl des Gruppenzwangs waren stärker.

Die Nacht war stockfinster, als wir ans Heck der Christina Bischoff schlichen. Peter knotete das Fass an einem dünnen Seil fest. Es fiel mit einem ganz leisen Platschen über Bord. Bajo kletterte schnell über die Verschanzung und hangelte sich am Seil abwärts. Das gleichmäßige Drehen der Schraube war zu hören. Nun war ich an der Reihe! Ich handelte wie ferngesteuert, wie in einem Automatik-Modus. Ich sprang auf den Schanzdeckel und hing im nächsten Moment mit Händen und Beinen am Seil.

 

„Schneller, Junge, schneller!“, Bajo rief leise von unten. Ich war bereits auf halbem Weg zwischen Schiff und Fass, als die Leine durchsackte und ich ins Wasser des Mississippi platschte. Ich sah nach oben und erkannte im schwachen Licht der Hecklampe, dass Peter auch am Seil hing. Sofort schoss mir durch den Kopf: „Das Fass ist los! Ich muss weiter das Seil festhalten, sonst fällt Peter ins Schraubenwasser!“

Ich rutschte über das Wasser. Ich hatte so etwas schon einige Male erlebt, als wir Wasserski fuhren. Ich konnte den Kopf über dem Spritzwasser halten, aber nicht sehr lange. Peter hatte die Situation auch schnell erfasst und hangelte nicht, sondern rutsche schnell am Seil nach unten. „Loslassen!“, rief er und klatschte ins Wasser. Ich ließ die Leine los.

Nun schwammen wir nicht weit voneinander entfernt im Fluss. Vom Fass war nichts mehr zu sehen. Auch das Ufer war kaum zu erkennen. Bajo fluchte. Wir schwammen rechtwinklig zum weißen Schraubenwasser der Christina Bischoff. Die Minuten vergingen, wobei ich das nicht genau sagen kann, denn ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ich war ein sehr guter Schwimmer. Als 13 Jähriger hatte ich an den internationalen Wettkämpfen im Hamburger Kaifu-Bad teilgenommen. Nun war schemenhaft ein Uferstreifen zu erkennen. Wir schwammen darauf zu.

Ich hörte neben mir eine Art Schnaufen, ein stoßweises Atmen. Peter schwamm schwer, mit kurzen Zügen. Er atmete nicht rhythmisch. Ich erfasste die Situation sofort und spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich fühlte mich einen Moment lang wie gelähmt, doch dann rief ich mich zur Ordnung. Wir mussten handeln.

Bajo und ich nahmen Peter in die Mitte. Ich tauchte, löste Peters Gürtel, an dem eine Kamera hing, und zog ihm die schwere Jeans aus. Er schwamm immer langsamer und atmete in raschen, hektischen Hüben. Ich schwamm vor Peters Kopf, damit er sich an meinen Schultern festhalten konnte. Ich spürte, wie schwer dieser muskelbepackte Körper war. Es dauerte nicht lange und er drückte mich unter Wasser. Nach einigen nach oben gerichteten Schwimmzügen ließ ich mich absacken. Er ließ los. Bajo übernahm. Wir merkten jedoch, dass wir kaum vorankamen; die Abstände, in denen wir uns abwechselten, wurden kürzer.

Auch mein Atem ging immer schneller. Wir bewegten uns nur noch auf der Stelle. Das Ufer kam keinen Meter näher. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Scheiße – Scheiße!“, fluchte Bajo.

Wir konnten es nicht schaffen.

Wir mussten Peter loslassen.

Ich konnte deutlich sehen, wie er langsame, letzte Schwimmzüge machte. Dann verschwand er ganz langsam in der Dunkelheit. Er sah mich an.

Ich werde dieses Bild niemals vergessen.

„Kommt er wieder hoch?“, fragte Bajo. „Er kommt doch wieder hoch?“ Ein Rauschen in meinem Kopf. Zustand der Betäubung.

Mussten wir nicht wieder zurück? Mussten wir nach ihm suchen?

Wir schwammen weiter auf den Landstreifen zu, in meiner Erinnerung dauerte es nicht lange, bis meine Knie auf Grund stießen.

Hätten wir Peter bis hierhin halten können?

Bajo und ich taumelten durch das flache Wasser ans Ufer. Eine Weile blickten wir zurück auf das schwarze Wasser. Keiner sprach. Motorgeräusche. Suchte die amerikanische Küstenwache schon nach uns? Das Geräusch entfernte sich wieder. Nur das Zirpen von Grillen erfüllte die Nacht. Vor uns das dichte Gestrüpp der Mangroven. Die Erschöpfung machte sich bemerkbar. Wir sahen einen Baumstumpf und wollten uns gerade mit den Köpfen darauflegen, als der Baumstumpf Beine bekam und in der Dunkelheit des Urwalds verschwand. Ein kleiner Kaiman, den wir anscheinend geweckt hatten. Wir fluchten und suchten einen Baumstamm, der sich nicht bewegte. Der Schlaf kam wie eine warme Wolke. Zweimal wurde ich in der Nacht von Schreien wach, vielleicht träumte ich auch nur. Neben mir lag Bajo und schlief tief.