Die normative Kraft des Decorum

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Die normative Kraft des Decorum
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Sophia Vallbracht

Die normative Kraft des Decorum

Angemessenheit bei Cicero, Ambrosius und Augustinus

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8671-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0166-6 (ePub)

Inhalt

  Für meine unvergessene Oma ...

 1 Einleitung1.1 Problemaufriss1.2 Intention der Arbeit1.3 Quod decet? – Das Schöne und das Erhabene1.4 Das Prinzip der Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik

 2 Zur Etymologie von Decorum2.1 Griechische Etymologie: πρέπον, εἰκός und ἐπιεικής2.2 Römische Etymologie: decorum, aptum, proprium, accommodatus und convenit

 3 Das römische Decorum in Ciceros De Officiis3.0 Forschungsüberblick3.1 Die Schmuckfunktion des Decorum (ornatus)3.2 Die sittlich-ethische Gefasstheit des Menschen (humanitas und decorum)3.3 Der Pflichtbegriff (decorum und officium)3.4 Das moralische Substrat der res publica (decorum und honestum)3.5 Die Innerlichkeit des Decorum3.6 Zusammenfassung

  4 Das christliche Decorum bei Ambrosius in De Officiis ministrorum 4.1 Sittlichkeit in christlichem Kontext (decorum und verecundia) 4.2 Das Schweigen (decorum und lex silentii) 4.3 Die Gebotsorientierung des Decorum (officium als praeceptum) 4.4 Christliche Zielvorstellung (decorum und vita aeterna) 4.5 Ambrosius’ Auffassung von Rhetorik

 5 Synthese: Wirkungs- und Gebotsorientierung5.1 Der inhaltliche und biographische Konnex5.2 Wozu Rhetorik für einen Christen? (Augustinus’ De doctrina Christiana)5.3 Weisheit – Liebe – Selbsterkenntnis5.4 Das Schöne und das Angemessene

 6 Decorum – Proprium einer anti-manipulativen Rhetorik6.1 Drei Beispiele von Missachtung des Decorum6.2 Die normative Kraft der Gefühle und der ethische Kohärentismus6.3 Eine neue Angemessenheit?

  7 Schlussbetrachtungen

  Literatur

Für meine unvergessene Oma Pauline und meine Mutter Angela, zwei unglaublich mutige, starke und kluge Frauen, die mir zum Vorbild wurden. Meinen Eltern danke ich für ihr unerschütterliches Vertrauen in mich und ihre nie enden wollende Unterstützung.

Für meinen Ehemann Sebastian, der mich in Liebe ermutigt, meine Träume zu verwirklichen. Ohne ihn wäre ich nicht mutig gewesen, diesen Schritt zu gehen. Meiner Familie und besonders meiner Schwester Rebecca danke ich für ihren festen Glauben an mich und ihre Unterstützung.

Allen anderen, die mir auf diesem Weg geholfen haben: Prof. Dr. Mike Edwards für seinen Enthusiasmus, einer jungen Kollegin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, Prof. Dr. Dietmar Till für seine Betreuung und Geduld als Doktorvater, Prof. Dr. Johannes Brachtendorf als Wegbegleiter, der für alle Ideen offen war und auf dessen Rat ich mich immer verlassen konnte, Dr. habil. Franz-Hubert Robling, der mich von der ersten Stunde an in diesem Vorhaben unterstützt, beraten und auch korrigiert hat, ihnen allen ein von Herzen kommendes Dankeschön.

1 Einleitung
1.1 Problemaufriss

Hier zeigt sich die Tüchtigkeit des Redners wie die des Feldherrn im Kampf, der seine Streitkräfte teils für den Fall, daß es zum Treffen kommt, bei sich behält, teils sie zur Verteidigung auf die Kastelle oder zur Garnison in die Städte, zur Beschaffung des Nachschubs, zur Sicherung der Marschwege und schließlich auf Wasser und Land verteilt. Quintilian: Institutionis oratoriae. VII, 10, 13.

In der Feldherrnmetapher beurteilt Quintilian die Fähigkeit des Orators danach, ob dieser wie ein Feldherr seine Strategie der jeweiligen Situation entsprechend und damit effektiv einsetzt, also teleologisch. Die Frage, ob Angemessenheit eine genuin rhetorische Kategorie darstellt, erübrigt sich hier.1 Erstaunlicherweise ist das Postulat der Angemessenheit aber auch in der Folgezeit kaum Gegenstand moderner Rhetorikforschung geworden.2 Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Zum einen sicherlich dadurch, dass die Angemessenheit in der antiken Rhetorik zwar eine sehr wichtige Stellung als zentrales Regulativ der Rede einnimmt, jedoch nirgends eine konkrete Definition gegeben wird. Das Konzept der Angemessenheit stellt die rhetorische Theorie vor ein Problem, da es erstens mehrere Begriffe dafür gibt (aptum, πρέπον, decorum), die durch Übersetzung vom Altgriechischen ins Lateinische (Cicero übersetzt πρέπον mit decorum) tradiert worden sind, und sich zweitens die Angemessenheit über die Jahrhunderte hinweg als ein interdisziplinäres Thema (Poetik, Philosophie, Kunst, Literatur, Architektur und Musik3) erweist. Zum anderen ist in der modernen Rhetorik eine Leerstelle entstanden, die sich daraus ergibt, dass das antike Verständnis von Angemessenheit als πρέπον/decorum sich nicht mehr passgenau in eine Rhetorik im 21. Jahrhundert4 einfügen lässt.5 Eine neue Bestimmung von Angemessenheit in der modernen Rhetoriktheorie scheint unumgänglich zu sein, ist sie doch „[a]uch für die heutige Darstellungsfähigkeit [...] das wichtigste Verständniskriterium geblieben.“6

Angemessenheit scheint auch der archimedische Punkt zwischen Rhetorik und praktischer Ethik zu sein, wenn man von folgenden Annahmen ausgeht:

1 Angemessenheit ist zentrales Regulativ der Rede (bei Cicero decorum orationis) und der Rhetorik.

2 Angemessenheit stellt eine normative Erwartung an den Redner dar (decorum vitae).

Die normative Verankerung von Angemessenheit muss so mit strategischem, auf Persuasion ausgerichtetem Handeln in einem interdisziplinären ganzheitlichen Rahmen problematisiert, analysiert und möglichst in eine rhetorische Theorie überführt werden.

In der antiken Rhetorik lassen sich mehrere Begriffe finden, die „Angemessenheit“, bzw. die Eigenschaft „angemessen“ beschreiben, wovon noch in Kapitel 2 ausführlich die Rede sein wird. Es ist vor allem der von Cicero geprägte Neologismus „decorum“ als Übersetzung für πρέπον, der die rhetorische Angemessenheit ganzheitlich in Abgrenzung zum aptum fasst. Während aptum sich auf die Sachangemessenheit (inneres aptum) und die Situationsangemessenheit (äußeres aptum)7 einer Rede bezieht, ist das decorum ein von Cicero erweitertes Konzept, das den Redner als ethisch handelnden Akteur in seiner je eigenen Wesensart mit einbezieht.8 In dieser Hinsicht umfasst das decorum als solches das aptum, doch nicht vice versa. Deshalb soll hier die These vertreten werden, dass das decorum die Angemessenheitsnorm in Sprache, Verhalten und Kommunikation darstellt, während das aptum insofern vom decorum zu unterscheiden ist, als es eine redeimmanente Kategorie der Sachangemessenheit und der Situationsangemessenheit darstellt.9

Sodann folgen in den nächsten Jahrhunderten weitere Übersetzungen von πρέπον und decorum ins Englische als propriety, fittingness, appropriateness oder ins Französische als bienséance oder convenance, um nur die Wichtigsten zu nennen.10 Doch jeder Übersetzung wohnt auch eine Interpretation inne, womit begriffliche und inhaltliche Veränderungen und Akzentverschiebungen im Laufe der Jahrhunderte in den jeweiligen Sprachen zwangsweise einhergegangen sind. Auch im Deutschen macht sich dies bemerkbar, wenn decorum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik als „Angemessenes“, „Schickliches“, „Konvenienz“ angegeben wird oder auch als „Wohlanständigkeit“ bei Christian Thomasius zu finden ist. Und selbst wenn das lateinische decorum als „Angemessenheit“ übersetzt wird, ist der Inhalt dieses Begriffs nicht automatisch klar und fassbar, sodass folgende Fragen offenbleiben: angemessen in Bezug worauf? Und wo liegt die Grenze zwischen Angemessenheit und Unangemessenheit? Wie lässt sich diese Grenze rhetorisch bestimmen?

 

Es bedarf einer Beschreibung und Einordnung von Angemessenheit in der Rhetorik, die in systematischer Theorie auf die meisten Fälle und Situationen anwendbar ist und ihren Platz sowohl in der Kasualrhetorik, wie auch in der Fundamentalrhetorik11 einnimmt. Wenn die Initiation von Rhetorik im Moment einer Entscheidung(sfindung) (κρίσις) als rhetorischem Fall12 ausgelöst wird, dann scheint Angemessenheit die rhetorische und ethische Absicherung von Persuasion jeglicher Art zu sein und so sollte ihr in der Theorie der modernen Rhetorik ein genuiner Raum zugestanden werden. Fasst man darüber hinaus Angemessenheit mit Erving Goffman soziologisch als Benehmen (demeanor)13, so wird deutlich, inwiefern Kommunikation und Benehmen als gesellschaftliche Prozesse interagieren: „Es bezeichnet ein symbolisches Handeln, mit dem durch Haltung, Kleidung und Verhalten zum Ausdruck gebracht wird, dass man als Akteur über bestimmte Eigenschaften verfügt, die der sozialen Situation angemessen sind, wie etwa Sprachkompetenz, Körperbeherrschung, Ehrlichkeit oder Gelassenheit.“14 Die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und welche Selbstdarstellung (face/image) sie bewusst und auch unbewusst kommunizieren, interessiert die Forschung um Erving Goffman, der in der Soziologie als Disziplin mit seinem Interesse an „symbolic interaction“ ein neues Feld der Analyse eröffnet hat, deren Forschungsansätze (auch für die Rhetorik) anschlussfähig sind.

Analog zu den verschiedenen Begriffsprägungen von Angemessenheit in den jeweiligen Sprachen hat sich Angemessenheit im Laufe der Geschichte zu einem interdisziplinären Thema entwickelt. So taucht es zum Beispiel in der Geschichte der Kunst mit der Diskussion um Caravaggios Gemälde Madonna di Loreto (1604-06) auf, das in der Kunstkritik der Zeit als Verstoß gegen das kirchliche decorum gewertet wurde: Die Darstellung von Armut und physischer Unzulänglichkeit in den schmutzigen Füßen und in der zerlumpten Bekleidung der beiden vor der Madonna knienden Pilger, wie auch die Darstellung einer barfüßigen Madonna, die in lässiger Manier an einer Säule lehnt und ein schon älteres Jesuskind auf dem Arm trägt, wurde als Bruch des decorum im sakralen Bild kritisiert.15 Viele seiner Altarbilder wurden wegen unzulänglicher Angemessenheit in der Ausdruckssprache von Klerikern zurückgewiesen.16 Die Grenzen des künstlerisch Darstellbaren und kirchlich Akzeptablen in der Altarmalerei auszuloten, machte das Problem des kirchlichen decorum aus, das eigentlich schon mit dem Dekret über die Verehrung der Heiligen im Jahre 1563 auf dem Konzil von Trient gelöst werden sollte, dessen Einhaltung jedoch den Bischöfen vor Ort oblag und somit weiterhin für Diskussionen sorgte.17

Doch nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur wird das Ideal von Angemessenheit thematisiert, so bei Jane Austen in ihrem Roman Pride and Prejudice, wo sie in unterhaltsamer, doch gesellschaftskritischer Manier das decorum selbst zum treibenden Thema einer Handlung macht und damit auch noch als weibliche Schriftstellerin im 18. Jahrhundert erfolgreich war.18

Und auch in der Moralphilosophie ist Angemessenheit als propriety ein Aspekt, so in Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759). Dieses Werk kann aufgrund seines deskriptiven Charakters als eine „Phänomenologie der Moral“19 gelten, das zeigt, inwiefern propriety (Schicklichkeit/Anstand/Angemessenheit) aus sympathy (Anteilnahme/Verständnis) hervorgeht. Adam Smith sieht den Menschen als soziales Wesen, das über die Fähigkeit verfügt, ein „fellow-feeling“20 (Zugehörigkeitsgefühl) für seine Mitmenschen zu entwickeln: Sympathy setzt ihn instand, die Gefühle (emotions), die der Andere zeigt, selbst zu entwickeln und sich in den Anderen hineinzuversetzen. Doch sympathy wird nicht durch die dargestellten passions (Erregung) hervorgerufen, sondern durch die Situation selbst, die sie ausgelöst hat.21 Ist nun die von einem Mitmenschen gezeigte Erregung (passions) im Einklang mit den „sympathetic emotions of the spectator“22 (mitschwingende Gemütsbewegung des Beobachters), dann erscheinen diese passions dem Zuschauer just und proper zu sein. Teilt der Beobachter eine Meinung oder ein Gefühl, das der Mitmensch vertritt oder zeigt, dann werden diese als proper eingestuft und gutgeheißen. Propriety bezeichnet nach Adam Smith die suitableness23 (Angemessenheit) einer Emotion, eines Gefühls oder einer Reaktion im Hinblick auf den Anlass in der jeweiligen Situation. Adam Smith weitet das Konzept von propriety aus, indem er sie als Bedingung für tugendhaftes Handeln allgemein und als grundlegendes Ordnungsprinzip für eine liberale Gesellschaftsstruktur bestimmt.24 Insofern ist Smiths Ansatz, sympathy als „rhetorical consensus between moral agents“25 zu fassen, der jegliche intersubjektive Kommunikation in einem persuasiven Interesse in den Blick nimmt, nah an der in dieser Arbeit vorgestellten rhetorischen Auffassung von Angemessenheit. Angemessenheit als propriety oder πρέπον/decorum soll im Fokus stehen: Sie sprengt die restriktiven Bestimmungen als Stilqualität und bezieht die normativen Erwartungen an den Orator und die sympathy als emphatisches Einfühlungsvermögen mit ein.

Von Adam Smith ausgehend, stellt sich die Frage, ob Eigeninteresse (self-interest) notwendigerweise dem Altruismus als dem „Sehen des Anderen“ gegenüberstehen muss26, oder ob nicht gerade im rhetorischen Prinzip des decorum diese Dichotomie durch die Fähigkeit des Redners zur sympathy (Empathie) im Rahmen des Adressatenkalküls überwunden werden muss, um persuasiv erfolgreich zu sein. Es stellt sich heute wohl weniger die Frage nach dem moralischen Charakter eines Redners, als nach seiner sozialen Fähigkeit, den Rezipienten wahrzunehmen27, um auf dessen Gefasstheit dann rhetorisch einwirken zu können.28

Die Bedeutung von Angemessenheit in seiner interdisziplinären Gefasstheit reicht folglich von „sakraler Würde“ (Caravaggio) und „elegantem Anstand“ (Austen) bis zum „sozialen Moralprinzip“ (Smith), das einerseits ephemeren Charakter hat, dessen Wesenhaftigkeit in der Theorie der Rhetorik dennoch präzise einzufangen ist und einer systematischen Eingrenzung und Ausdifferenzierung bedarf.

Es fällt auf, dass der Begriff decorum in Deutschland irgendwann verschwunden ist29 und als Angemessenheit wiedergegeben wurde, ohne dass das Prinzip an sich vergessen worden wäre. Dagegen findet der Begriff decorum im englischen Sprachraum bis heute in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise ganz dezidiert im parlamentarischen Bereich in Großbritannien, Verwendung.30 Die These dafür könnte sein, dass sich im Kampf zwischen König und grundbesitzendem Adel eine bestimmte soziale Struktur in England herausgebildet hat, die auf dem Prinzip des gentry decorum basiert. Ihren Anfang findet sie in der Magna Charta (1215), welche dem Adel politische Freiheiten gegenüber dem König gewährt und auch mit dem Freiheitsartikel 39 ein wichtiges Grundrecht für alle freien Bürger einführt. Später diente diese als Fundament für die Petition of Rights, die vom Parlament an König Karl I. 1628 gerichtet wurde, für die Bill of Rights (1689) und schließlich auch für den Rule of Law31 und damit für den englischen Parlamentarismus.

All diesen politischen Bestrebungen um Unabhängigkeit und Freiheit wohnt ein „gesellschaftlicher Sinn“32 von Ordnung und ständisch bedingtem Anstand inne, der je neu im politischen Raum verhandelt worden ist. Damit ließe sich auch von einer systembildenden Funktion des decorum innerhalb einer Gesellschaft sprechen33, wenn man das decorum als „Ordnungsmuster“34, „Ordnungsreflex“35 oder „Hyperreferenz“36 teleologisch deutet: Es ermöglicht soziale Differenzierung über Relationierung, Polarisierung und Transmedialität.37

Das decorum ist also als rhetorisches Prinzip auch kulturell prägend, indem es gesellschaftliche Grenzen praktisch bestimmt und reguliert. Es scheint, als ob kaum ein anderer Begriff der antiken Rhetorik derart auf einen gesellschaftlichen Verhaltenskodex38 verweist und in seiner Ausformulierung bis dato dennoch vage bleiben musste und kaum eine habhafte – eher eine fühlbare oder mit Goethe eine gefühlte39 – Referenz bot.

Das Problem von Diversität, Komplexität und Flüchtigkeit spiegelt sich in den verschiedenen theoretischen Zugängen zur Frage nach der Angemessenheit. Diese reichen von Angemessenheit als Bestandteil hermeneutischer Betrachtungen und Theorien in der Literaturwissenschaft (Limpinsel40), als Stilqualität (Kienpointer41) bis zur Angemessenheit als sozialem Wert (Beetz42). Einen interessanten Zugang bietet Ulla Fix, die Angemessenheit als „Adäquatheit“43 wiedergibt; sie versteht diesen Begriff allerdings dezidiert normativ. Die Normen siedelt sie auf vier verschiedenen Ebenen an, nämlich auf der instrumentalen Ebene (Richtigkeit, Stimmigkeit), der situativen (Empfänger, Sender, Medium, Kanal, Gegenstand, Strategie, Intention und Erwartung), der ästhetischen (Klarheit, Folgerichtigkeit, Gewähltheit und Elaboriertheit) und der parasprachlichen Ebene (Kodes, kulturelle Bedingungen)44. Für Fix ist „Adäquatheit“ ein pragmatisches Kriterium eines Textes und ein Kriterium für Redekompetenz45 per se. Zwar gelingt es Ulla Fix, die Angemessenheit eines Textes in sprachlich-kommunikativen Normen auszudifferenzieren und darauf hinzuweisen, dass „kommunikative Adäquatheit“ als Kriterium je situativ neu verhandelt werden muss, doch wird der rhetorisch-ethische Aspekt des decorum nach Cicero vernachlässigt. Während für Cicero das decorum ein inhärent ethisches Kriterium ist, bestimmt Fix die Adäquatheit als eine Art Brücke „zur Erkenntnis und Anerkennung der sozialen und ethischen Funktion sprachlichen Handelns“46.

Wenn Rhetorik auf Persuasion abzielt, die durch den Orator strategisch geplant wird und auf rhetorischem Kalkül und plausiblen Schlüssen beruht, dann muss aber in der kommunikativen Interaktion der ethische Aspekt von Angemessenheit eine bedeutende Rolle spielen. Angemessenheit muss mehr sein als kontextuelle Adäquatheit, doch wie in aller begrifflichen Diversität und interdisziplinären Komplexität das ephemere Wesen von decorum eingefangen werden kann, soll hier als Desiderat benannt, analysiert und aufgehoben werden.

1.2 Intention der Arbeit

Auch stimmt damit das gemeinste Urteil der gesunden Menschenvernunft vollkommen zusammen; nämlich dass der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne [...]. Kant: Kritik der Urteilskraft. II, §86.

Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Begriff des decorum in seiner ethischen Prägung bei Cicero und Ambrosius in den gleichnamigen Schriften De officiis herauszuarbeiten. Das Augenmerk der bisherigen Forschung lag, wenn es das decorum betraf, meist auf seinem ästhetisch-poetischen Aspekt. Zwar ist die Rhetorik eine sprachschöpferische Kunst, die sich auch um den ästhetischen Aspekt von Sprache kümmert, doch sprachliche Schönheit ist wirkungslos, wenn sie sich nicht in den sozialen Kontext der Rede einfügt. Rhetorik, Rede, Sprache und damit auch der Mensch existieren nicht in einem Vakuum, sondern in einem sozialen Miteinander, das von ethischen Maximen und Normen geprägt ist. Auch im säkularisierten 21. Jahrhundert handeln, orientieren und urteilen die Menschen nach Prinzipien, die individuell festgesetzt oder ausgesucht worden sind, aber doch von der Gemeinschaft der Menschen als Konvention akzeptiert werden müssen, will das Individuum auch als soziales Wesen leben. Ansonsten würden sich diese Prinzipien ad absurdum führen, wenn sie dem Individuum nicht einen Platz in der Gemeinschaft der Menschen zuweisen würden. Die Verbindung von rhetorischen und ethischen Prinzipien geschieht im Menschen selbst. Dabei ist die Sprache nicht wegzudenken. Von daher ist es einleuchtend, wenn nach Heidegger die Sprache das Sein quasi beherbergt, so dass er sagen kann: „Die Sprache ist das Haus des Seins“1. Über die Sprache bekommt der Mensch ein Mittel der Reflexion an die Hand, das ihm sein Sein vor Augen führt. Heideggers Daseinsanalyse des Menschen weist auf einen ethischen Bezugsrahmen von Rhetorik2 hin. Sein Rhetorikverständnis ist dasjenige einer rhetorischen Praxis als „Kollektivereignis“3.

 

Allerdings darf man nicht verkennen, dass die heideggerschen Termini „Sprache“ und „Rede“ im Rahmen seiner fundamentalontologischen Daseinsanalyse (so in seiner Einleitung zu Sein und Zeit, S. 13) zu verstehen sind. Die Rede ist für ihn eine der Existenzialien, neben der Befindlichkeit und dem Verstehen, die das Dasein erschließen. Sie ist die „Artikulation der Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“.4 Reden heißt „aufweisendes Sehenlassen“ (Sein und Zeit, S. 32) und ist untrennbar mit dem Verstehen verbunden. Rede als Existenzial des Menschen ist bei Heidegger das ontologische Fundament der Sprache, auf dem der Einzelne seine existenziellen Entscheidungen treffen muss. Sprache ist dabei lediglich als die „Hinausgesprochenheit der Rede“ definiert. Sie ist nach dem Paragraphen 34 das weltliche Sein der Rede. Dasein ist „Sichaussprechen“ (S. 162), „redendes In-Sein“ (S. 165).

In dieser vorliegenden Studie steht aber nicht so sehr Heideggers ontologisch-anthropologische Sicht des rhetorischen Logos im Fokus, als vielmehr die Frage, inwiefern sich Rede als Performanz von Sprache ethisch und rhetorisch angemessen ausprägt. Man könnte dennoch von einem „rhetorischen Sein“ sprechen, das sich in Sprache ausdrückt, als einem Kommunikationsprozess, in dem rhetorische und ethische Kategorien wie Ethos und Glaubwürdigkeit eine Rolle spielen. Das decorum nimmt dabei den primären Rang ein, da es anderen rhetorischen Kategorien (wie beispielsweise der Stillehre) übergeordnet ist, indem es den Bezugsrahmen darstellt, der weitere ethisch fundierte Kategorien beinhaltet.

In der vergleichenden Betrachtung von Ciceros und Ambrosius’ Werk De officiis soll dieser ethisch-rhetorisch weit gesteckte Rahmen deutlich werden. Marcus Tullius Cicero und Aurelius Ambrosius, zwei Autoren, die aus ihrem unbeirrbaren Glauben an ihr Tun ihr Selbstbewusstsein beziehen und auf Grund der ethischen Abstimmung ihrer Überzeugungen mit ihrer Lebensausrichtung herausragende Persönlichkeiten der Antike beziehungsweise der Spätantike darstellen, nehmen sich eines gemeinsamen Themas an, nämlich des Themas der Angemessenheit, zum einen in seiner rhetorisch-politischen, zum anderen in seiner rhetorisch-christlichen Ausprägung. Was veranlasste Ambrosius über 400 Jahre nach Cicero, ein weiteres Offizien-Buch zu schreiben? Ist dies indirekt als Widerlegung Ciceros gedacht? Konvergieren oder differieren die beiden Konzepte? Wie sind sie auf dem Hintergrund des jeweiligen Zeitalters rhetorisch zu bewerten? Auf diese Fragen soll hier Antwort gegeben werden.

Ambrosius bezog sich mit De officiis ministrorum offensichtlich bewusst auf Cicero und machte dessen decorum-Konzept für seine Arbeit fruchtbar. Beide Autoren verwenden weitere Begriffe als flexible Termini, mittels derer der Gehalt des decorum der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft angepasst wird, in der das decorum seine Norm setzende Kraft entfalten konnte und sollte.

Ambrosius nimmt die erste Umfunktionalisierung von decorum vor, indem er verecundia (als Vorbedingung des ambrosianischen decorum), lex silentii (als die verborgene Seite des ambrosianischen decorum) und das officium als praeceptum (als christlicher Gebotskatalog) dem decorum zuordnet und es so als eine Norm göttlicher Provenienz bestimmt. Aus Ciceros rhetorisch-ethischem decorum wird nun durch Ambrosius’ Pflichtenethik ein christliches decorum. Mit Augustinus (Liebesethik) findet dann eine zweite Umfunktionalisierung des ciceronischen decorum statt, wenn er sein Verständnis von decorum eloquium vorstellt, eine Synthese des ciceronischen und ambrosianischen decorum im christlichen Bereich. Neue Gedanken zum Begriff des decorum sind erst durch das Christentum gekommen und so in der heidnischen Antike nicht zu finden.

Die vergleichende Analyse von Ciceros und Ambrosius’ decorum wird dann in einem weiteren Schritt ausgeweitet; das Angemessene wird in der Theorie der Rhetorik und als Diskursprinzip in verschiedenen Spannungsfeldern untersucht, unter Einschluss der ästhetischen, emotionalen5 und pragmatischen Dimension, wobei ihm schließlich als rhetorischem Prinzip sein Platz in einem Kommunikationsmodell zugewiesen wird.