Die normative Kraft des Decorum

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3.2 Die sittlich-ethische Gefasstheit des Menschen (humanitas und decorum)

Die göttliche Macht spielt in den menschlichen Dingen.

Ovid: Epistulae ex Ponto. IV, 3, 49-50.

Die Welt des Göttlichen stellt zwar ein nicht erreichbares platonisches Ideal der menschlichen Existenz dar, dem nachzustreben die Menschen aber dennoch von Natur aus die Macht und die Mittel haben. Als mit Protagoras und den Sophisten die Griechen sich als Menschen bewusst wurden, wurde auch deutlich, was sie als Menschen auszeichnete, nämlich ihre Denkkraft in der Form von Verstand und Vernunft. Sie zeigt sich in der Sprache, wie Cicero oft hervorhebt, und ist das Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier. Während diese ihren tierischen Trieben ausgeliefert sind, kann der Mensch seine Triebe und Begier­den durch die Vernunft steuern. Dieses rationale Instrument wird zu einer conditio sine qua non der menschlichen Sozietät. Nach Ovid kreierte der pater omnipotens den Menschen als „mundi melioris origo“ und wies ihm damit als einem heiligeren und zum Denken fähigeren Wesen eine dominierende Stellung im Kosmos zu.1 Die menschliche Vernunft als Waffe im Kampf der Begierden sichert die moralische Überlegenheit des Menschen über das Tier und konstituiert seine Würde als Mensch in der Sozietät. Dieser homo potens als Krönung der göttlichen Schöpfung ist in seinen Naturanlagen zur humanitas angelegt. Gemäß diesen menschlichen Naturanlagen zu leben, diese zur besten Nutzung in der Gesellschaft zu verwenden, macht idealiter die conditio humana des Menschen aus.

Ciceros Begriffsprägung der humanitas benennt eine sozial-ethische Per­spektive menschlichen Lebens, die schon ansatzweise angelegt war im griechischen Adelsideal der καλοκἀγαθία Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. Sie zeigt sich in der Kriegführung Scipios, in seiner durch Polybios überlieferten Ritterlichkeit bei der Einnahme von Carthago Nova (209 v.Chr.) und auch in den Reformbestrebungen der Gracchen 133 v. Chr.2 Definiert als eine Mischung aus φιλανθρωπία, παιδεία3 und urbanitas erfährt der Begriff der humanitas bei Cicero eine Ausweitung4 in das öffentliche politische Leben in der Gesellschaft. Die humanitas wird bei Cicero zur zentralen sozialen Maxime. Cicero versteht unter humanitas die menschliche Rücksicht5 gegenüber dem Mitmenschen, ungeachtet der Tatsache, ob dieser nun Römer oder Besiegter ist.6 Gerade in den Kriegswirren scheint humanitas auch eine politische Pflicht zu sein, die sich gegen Willkür auf dem Schlachtfeld der Politik, der Justiz oder des Krieges rüstet. So prangert Cicero in seiner Rede gegen Verres dessen Mangel an Tüchtigkeit, Unschuld, Sittsamkeit, Bildung, Anstand, Fleiß und urbanitas an und desavouiert den Statthalter Siziliens damit wirkungsmächtig als homo inhumanus.7 Ein Oberbefehlshaber, der seine Provinz ausnimmt und Kulturschätze in hemmungsloser Weise an sich bringt, war – wie Fuhrmann anmerkt8 – kein Einzelfall in der römischen Aristokratie, doch Ciceros Urteil über diesen politischen Missbrauch und sein Umgang mit Verres im Senat ist grundsätzlicher und orientiert sich an der humanitas als zentraler Handlungsnorm eines Politikers. Cicero, der homo novus, rückt im antiken Rom die humanitas als Komplement zur potestas in den Fokus der Politik. Römische Politiker sind Diener der res publica, müssen sich laut Cicero am öffentlichen Nutzen für die Mitmenschen orientieren. Dementsprechend mahnt Cicero seinen Bruder Quintus:

[...] Deine Menschenfreundlichkeit würde Dich trotzdem verpflichten, für ihren Vorteil zu sorgen und ihren Interessen, ihrem Wohlergehen zu dienen. Nun sind wir aber über eine Bevölkerung gesetzt, die nicht nur selbst Kultur besitzt, sondern die sie auch, wie allgemein anerkannt, andern vermittelt hat; da müssen wir gewiß vor allem denen gegenüber Kultur beweisen, von denen wir sie empfangen haben.9

Die humanitas wird folglich als eine reziproke Beziehung zwischen Menschen als gesellschaftlichen Wesen verstanden. Nur ein ausbalanciertes soziales Achten und „Geachtetwerden“ von Mensch zu Mensch garantiert ein glückliches Miteinander in Gesellschaft und Staat. So ist es dem einzelnen Bürger nicht untersagt, den eigenen Nutzen zu verfolgen, jedoch ohne dem Anderen Unrecht zu tun. Für Cicero ist der Nutzen für den Einzelnen identisch mit dem Nutzen für die Allgemeinheit.10 Cicero ist überzeugt, dass „nichts [...] im menschlichen Leben herrlicher und großartiger [ist], als sich um den Staat verdient zu machen.“11 Neben den römischen Tugenden wie clementia oder fides und der Vaterlandsliebe gehört zur idealen vita activa eines römischen Bürgers maßgeblich die humanitas12, die Menschlichkeit als conditio sine qua non des Menschseins. Alle Menschen sind zur Fähigkeit der humanitas von der Natur gleichermaßen ausgestattet. Als sozialer Norm unterliegt ihr somit jeder Einzelne gleichermaßen, und ihre Beachtung kann deshalb auch von jedem Einzelnen gefordert werden. Das Größere ist die Sozietät, die res publica als Lebensgemeinschaft.13 Damit klassifiziert sich die humanitas nach Cicero als eine Form von Gerechtigkeit, die sich darin zeigt, dass sich die Menschen freiwillig in den Dienst des Größeren stellen, indem sie ihre Fähigkeiten und Mittel in die Sozietät einbringen.14 Die humanitas ist die Grundlage, damit menschlich erfülltes Leben in einem gesunden Staat möglich ist. Inwieweit sich die Menschen dieser Fähigkeit bedienen und von welchen Faktoren dies abhängig ist, wird nur peripher angesprochen. So weist Cicero lediglich auf die Schwierigkeiten des einzelnen Menschen hin, sich um die Anliegen anderer zu sorgen, „weil wir eher die günstigen oder ungünstigen Ereignisse wahrnehmen und empfinden, die uns selbst betreffen, als diejenigen, die den anderen Menschen zustoßen und die wir sozusagen aus großer Entfernung sehen, urteilen wir über jene auch anders als über uns.“15 Das reale Problem einer je situativen Realisierung von humanitas wird hier auf die subjektive Perspektive des Einzelnen und die beschränkten menschlichen Möglichkeiten zurückgeführt, wodurch Emotionen, Neigungen und Interessen Anderer nicht immer gebührend gewürdigt werden können. Die humanitas als Pflicht gegenüber der Sozietät und die Gerechtigkeit als freiwillige Teilnahme in dieser Gemeinschaft müssen als Richtlinien und Hilfestellung für die Ausübung dieser Pflicht ausreichen.

Die sozial-ethische Gefasstheit von humanitas führt zur Frage, inwieweit diese natürlich gegebene Verfasstheit auch ausgebildet werden muss. Kann ihre Ausbildung durch Bildung gefördert werden? Und um welche Art von Bildung handelt es sich dann?

Ciceros Konzept der humanitas ist nicht nur formale Bildung, sondern sie wird vor allem als praktische Bildung in der Gesellschaft verstanden. Dort, wo die humanitas ihren Wirkungsbereich hat, dort wird sie auch ausgebildet und geübt: im menschlichen Zusammenleben in der Gemeinschaft. Trotz der Tatsache, dass alle Menschen die gleichen Naturanlagen haben, muss die humanitas als Menschenbildung geübt werden. Zwar subsumiert Cicero unter humanitas auch die formale Bildung in Wissenschaften, aber er definiert die humanitas allgemein als eine geistige Fähigkeit im Menschen. So beschreibt er den Dichter Archias mit folgenden Worten: „[Q]uod alia quaedam in hoc facultas sit ingeni neque haec dicendi ratio aut disciplina“16. Der durch die Konjunktion quod ausgelöste Konjunktiv und die Bedeutung von „facultas“ als Fähigkeit machen schon auf sprachlicher Ebene die in der menschlichen Natur angelegte Möglichkeit des Einzelnen deutlich, die humanitas zu verwirklichen. Ob ein Individuum sich seiner Naturanlagen bedient und diese ausbildet, hängt vom Charakter, den situativen Umständen und dem Willen ab. Der Mensch unterliegt nach Cicero nicht dem Zwang des Fatums, sondern er kann durch seinen Willen und sein Streben nach Bildung sein Leben selbst bestimmen.17 Nach Cicero werden die Menschen zwar mit ihren natürlichen Anlagen geboren, doch unterliegen diese dem freien Willen des Menschen, der qua doctrina seine Talente fördern und seine Fehler unterdrücken kann.

Für Cicero zeigt sich die humanitas als menschliche Bildung und Fähigkeit zum einen im Geist, zum anderen als Mitleid, Güte und Empathie dem Mitmenschen gegenüber im Herzen des Menschen. Dieser komplementäre Aspekt zeigt die wahre Natur von humanitas: Sie ist im Ganzen kein Wert, der, einmal erworben, immer gegenwärtig ist, sondern muss vor allem als Empfinden stets aufs Neue trainiert, geschützt und im menschlichen Verhalten erprobt werden. Cicero ist sich bewusst, dass wir uns die Einmaligkeit des Menschen immer wieder neu vor Augen führen müssen, um nicht abzu­stumpfen, wenn er sagt: „[W]enn wir zu jeder Stunde sehen und hören, daß etwas Grausiges geschieht, dann mögen wir die mildeste Sinnesart haben: unser Herz verliert, wenn die bedrückenden Ereignisse sich ständig wiederholen, jegliches Empfinden für Menschlichkeit.“18

Cicero plädiert an dieser Stelle dafür, dass die vorsitzenden Richter gegenüber ihrer eigenen Bürgerschaft duldsamer sein sollen, wenn die Republik Not leidet. Das Übel der Republik ist die Ausrottung ihrer Bürger infolge der Bürgerkriege. Eine andauernde Verletzung der sozialen Maxime der humanitas kann insofern einen negativen Effekt auf die als Zeugen vorgeladenen Bürger haben, wenn diese sich daran gewöhnen, den Verlust der humanitas in ihrer Sozietät als einen normalen Gesellschaftszustand zu sehen. Die Menschlichkeit als Empfinden zu pflegen und dadurch zu verhindern, dass durch geduldete Gräueltaten das Mitgefühl in den Herzen der Menschen gedämpft und am Ende sogar verloren wird, muss Aufgabe des Staates sein. Pflicht der Richter ist es, die Pflege der humanitas zu garantieren und zu schützen, indem sie „dem Staate zuallererst bei den Angelegenheiten [...] helfen, durch die er am schwersten Not leidet.“19 Das Fluidum der humanitas in der Bürgerschaft zu bewahren, ist somit nicht nur Aufgabe der Politiker, sondern auch der Richter.

 

Doch welcher andere Wert beeinflusst die sozial-ethische Maxime der humanitas, steht ihr vor und begrenzt sie? Es ist die rhetorisch-ethische Kategorie decorum, die die Grenzen der humanitas, verstanden als höhere Bildung des Menschen, in der Gemeinschaft bestimmt. Um an der menschlichen Gemeinschaft teilzunehmen und somit in einem gesetzten Kulturraum wirken zu können, bedarf der Mensch der Sprache und der Rhetorik. Diese sind folglich auf sprachlicher Ebene Instrumente der humanitas, so wie es Handlungen auf der realen Ebene sind. Oder anders ausgedrückt: Humanitas ist die soziale Einfühlsamkeit, die sich in der Rede (als iucunditas oder in loquendo lepos) zeigt.20 Durch die Sprache wird das decorum zum Maßstab für die humanitas. Erst wenn das decorum in den sprachlichen Äußerungen beachtet wird, kann eine Realisierung von humanitas erfolgen. Ein Redner muss sein Ethos mit Hilfe des decorum aufbauen, will er von der Sozietät akzeptiert werden, will er überzeugen, für das Gute einstehen und humanitas realisieren. So kann Cicero sagen: „Solche Ausnahmen [Wahrhaftigkeit und Treue nicht zu beachten] muss man nämlich auf die Grundlagen der Gerechtigkeit beziehen, die ich anfangs erwähnt habe, dass niemandem Schaden zugefügt wird und dass man dem allgemeinen Nutzen dient.“21 Solange als Telos menschlichen Handelns also – ob sprachlich oder real – die humanitas gesetzt ist, erlaubt das decorum sogar im Einzelnen, moralisch betrachtet, ungerechte Handlungen. Die humanitas, hier begrenzt auf den öffentlichen Nutzen der Gemeinschaft, muss nach dem Gebot des decorum geschützt werden, dann ist idealiter Gerechtigkeit und Schicklichkeit im Staat möglich. So kann theoretisch auch eine per definitionem ungerechte Handlung, die im Dienste der Gemeinschaft vollzogen wurde, wie beispielsweise der Tyrannenmord, gemäß der humanitas und des decorum geduldet werden.

Doch Ciceros Konzept der humanitas umfasst mehr als den Aspekt der sozialen Bindung und der höheren menschlichen Bildung; sie ist auch das Band aller artes: „Alle Künste nämlich, alle Wissenschaften, die auf Bildung zielen, haben ein gemeinsames Band und sind verwandtschaftlich untereinander verbunden.“22 Dieses vinculum commune ist das gemeinsame Ziel: die humanitas. Ausgehend von der griechischen Vorstellung eines ἐγκυκλιος παιδεία, verstanden als ein Verbund aller Wissenschaften und Künste eines freien Bürgers, propagiert auch Cicero ein solches umfassendes Bildungsideal des Menschen, der nach humanitas strebt. Die Künste des ἐγκυκλιος παιδεία, wie Grammatik, Geometrie, Astronomie, Rhetorik oder Musik haben einen Nexus: Ihre Grundlage ist die menschliche ratio. Es sind Künste, welche die geistigen Anlagen eines Menschen verfeinern, harmonisieren und erweitern können, indem sie seine Empfindungen, basierend auf Logik und ratio, fördern. Philon von Alexandria, ein Zeitgenosse von Jesus und Paulus, definiert dementsprechend die Rhetorik als eine Kunst, die den Geist für Betrachtungen schärft, seine Sprachfähigkeiten trainiert und als eine Kunst, die den Menschen rational macht.23 So kann folglich die Verfeinerung intellektueller Fähigkeiten mit Hilfe der Rhetorik dabei helfen, falsche Schlussfolgerungen aufzuspüren, menschliche Triebe zu erkennen und bezwingen zu lernen, weil durch die Kunst der Rhetorik rationale Gedankengänge geübt und die Auswirkungen sprachlicher Interaktion analysiert werden auf der Grundlage rhetorisch ethischer Maximen. Im Fokus der Rhetorik steht stets der Mensch und sein kommunikativer Lebensraum, ob als sprachlich Agierender oder als Rezipient. Diese Kommunikationshandlungen unterliegen rhetorisch-strategischen Überlegungen und rhetorisch-ethischen Normen, wie dem decorum oder dem Ethos, und müssen jeweils situativ neu gesetzt werden. Um diese sprachlichen Handlungen zu einer erfolgreichen Realisierung innerhalb eines kommunikativen Wirkungsraumes zu führen, muss der Orator sich seiner ratio und seiner Kenntnisse der Rhetorik bedienen.

Mit Hilfe der Künste, der Erziehung und Bildung als Mittel der geistigen Formung eines Menschen nach normativen Maximen wird die humanitas konkret im und am Menschen realisiert. Indem sie das Herz (animus)24 und den Geist des Menschen bilden und prägen, erwirbt der Mensch dignitas, die sich in der Sozietät durch sprachliche und reale Handlungen manifestiert. Die dignitas, als moralisches Attribut durch die menschliche Gesellschaft verliehen, muss sich der einzelne Mensch durch festen Charakter, innere Haltung und tadellose Handlungen erarbeiten. Um dieses Telos zu erreichen, kommt dem Menschen die Rhetorik als intellektuelle Disziplin zu Hilfe.

Rhetorik als Instrument zur Verwirklichung von humanitas beschreibt lediglich einen funktionalen Aspekt der wechselseitigen Beziehung von Rhetorik und humanitas. Die humanitas hat in der Rhetorik jedoch auch einen kategorialen Aspekt: Sie existiert als ein Gebot wahrer Rhetorik nach Cicero.

Für Cicero ist das Ideal der humanitas erfüllt, wenn die Rhetorik als ihre Dienerin zum Nutzen der Menschen verwendet wird: „Denn was ist so unmenschlich wie eine Eloquenz, die man zum Wohl und zum Schutz der Menschen von der Natur verliehen bekam, zum Unheil und zum Verderben anständiger Menschen zu missbrauchen?“25 So ist als Verteidiger und Ankläger besonders darauf zu achten, die Rhetorik zum Schutz der guten Bürger (boni) zu gebrauchen. Doch auch einen Schuldigen zu verteidigen, der nicht gottlos (nefarius) und frevelhaft (impius) ist, ist unbedenklich, solange es die drei sozialen Instanzen – Mehrheit des Volkes (multitudo), Tradition (consuetudo) und humanitas – dulden. Folglich werden die endoxa der Mehrheit, die Sitten einer Gemeinschaft und die humanitas zu sozial-ethischen Richtlinien einer rhetorischen Handlung nach Cicero. Während die vorherrschenden Meinungen und Sitten das jeweilige Setting eines rhetorischen Wirkungsbereiches umfassen, ist die humanitas als universal geltende Maxime allen öffentlichen Handelns in einer Sozietät übergeordnet. Die humanitas, verstanden als Band aller Menschen untereinander, als Schutz für alle Menschen, steht über der rhetorischen Bewertung einer Redesituation und es gilt für den Redner, sie immer gleichermaßen zu beachten; der Orator ist nämlich nicht nur Techniker, sondern Mensch, welcher Sensibilität für die Menschen entwickelt.26 In Ciceros Hymnus auf die Rhetorik wird deshalb auch der Anspruch deutlich, Beredsamkeit von pekuniären Interessen zu trennen:

Die Wohltaten und die erfolgreiche Interessenvertretung vor Gericht, die ein redegewandter und einsatzbereiter Mann erbringt, wenn er traditionsgemäß die Fälle vieler Menschen freudig und ohne Honorar übernimmt, haben demnach eine große Bedeutung.27

Es ist Aufgabe des patronus, für seine Bürger mit Hilfe der Beredsamkeit zu kämpfen und ihnen Wohltaten zukommen zu lassen. An dieser Stelle sozialen Miteinanders konvergieren humanitas und Rhetorik, indem das eine das Ziel und das andere das Mittel zur Erreichung des Zieles ist.

Es stellt sich nun jedoch die Frage, inwiefern Ziel und Mittel konvergieren, was zunächst doch nicht eine unbedingt zwingende Annahme ist, da die Rhetorik eine Wissenschaft und Kommunikationstechnik ist, während humanitas die menschliche Fähigkeit zur Güte und eine soziale Maxime darstellt. Nach Ciceros Auffassung jedoch konvergieren sie idealiter im menschlichen Handeln und Sprechen und bereichern einander. Im Sinne einer Hierarchie spricht sich Mucius in De oratore allerdings für eine klare Priorität der humanitas vor der Beredsamkeit am Beispiel seines Gesprächpartners Crassus aus.28 Diese Hierarchie kann zurückgeführt werden auf die normative Bedingtheit von humanitas und damit auf ihren ethischen Charakter, der verinnerlicht werden muss. Nach Nybakken zeigt sich das ciceronische Konzept der humanitas in den Handlungen, der Sprache, der Haltung, den intellektuellen und moralischen Fähigkeiten, im honestum und im decorum eines Menschen.29 Es ist folglich eine Lebenskonzeption, die sich äußerlich zeigt und innerlich verankert sein muss. Sie verbindet das Beste im Menschen, seine Tugenden und seine ratio, mit dem individuellen Charakter. Ausdruck dieser harmonischen Verbindung ist dann die Sprache und somit die Rhetorik als Form menschlicher Interaktion. Am Beispiel des Crassus zeigt sich, dass die Rhetorik der zuvor erworbenen humanitas entsprechend folgt und so wird diese von Mucius entsprechend ihrer Bedeutung und Auswirkung auf den Menschen als bedeutender bewertet.

Dennoch wird bei Cicero der Charakter einer Rede als „ein gehöriges Stück Arbeit und vielleicht die anspruchsvollste menschliche Aufgabe“30 überhaupt definiert. In ihr und durch sie präsentiert sich der Mensch als Teil einer Gemeinschaft, die ihn ihrerseits akzeptieren oder ablehnen kann. Das rednerische Ziel einer ausgewogenen Rede kann mit Hilfe der humanitas erreicht werden: „Es gibt ja keine ausgewogenere Rede als die, bei der die Härte, mit der ein Redner sich einsetzt, durch seine Menschlichkeit gemildert wird, seine Gelassenheit und Ruhe aber in einem ernsten, energischen Einsatz ihre Stütze findet.“31 Das Telos der Persuasion, das durch das Ethos32 des Redners und die Systase in der Form sozialer Bindung33 des Auditoriums erreicht wird, findet in der humanitas-Konzeption Ciceros als einer rhetorisch-ethischen Tugend und Lebensanschauung eine Orientierung.

Die humanitas als soziale Maxime, als höhere menschliche Bildung und Gebot wahrer Rhetorik nach Cicero ist in Verbindung mit der Kategorie des decorum eine wichtige Säule rhetorischen Handelns. Die humanitas, die als Gesamtkonzept das rhetorische decorum beinhaltet, darf sich jedoch nicht von diesem loslösen, sondern muss das decorum als eine wichtige rhetorische Kategorie stets beachten. Gemäß der humanitas zu handeln, kann nur mit Hilfe des decorum sprachlich verwirklicht werden. Nur wenn die Menschen einer Rede zuhören, wenn sie angesprochen und überzeugt werden, kann die Tugend der humanitas zur Wirkung kommen. Ohne Bezug auf die Menschen als aktuelle Objekte der humanitas wird sich das menschliche Subjekt zwar innerlich geordnet haben können, jedoch kann die humanitas dann als Interaktion in menschlichen Beziehungen nicht gelebt werden. Hierfür benötigt sie die Rhetorik und das decorum als Garantie für erfolgreiche sprachliche Kommunikation und Ausdruck von Humanität. In der Sprache eines Pico della Mirandola nähert sich der wahrhaft „humane“ Mensch dann sogar der göttlichen Sphäre:

Wenn wir das [Begleiter der Engel zu sein] durch die Kunst der Rede oder Dialektik erreicht haben und so schon vom Geist der Cherubim beseelt sind, werden wir in philosophischer Betrachtung über die Stufen der Leiter [...] bald hinaufsteigen [...] bis wir endlich im Schoß des Vaters über der Leiter ruhen [...].34

Cicero erweiterte also in sozial-ethischer Perspektive den Begriff der humanitas von φιλανθρωπία, παιδεία und urbanitas. Einerseits ist humanitas als Handlungsnorm für Machthabende35 zu verstehen, da sie komplementär zur potestas gedacht ist, andererseits bedarf sie, um wirksam zu werden, auch der praktischen Ausbildung. Für beides grundlegend ist die Fähigkeit zur Empathie; diese wiederum ist nicht auf die Schicht der Herrschenden bezogen, sondern humanitas zeigt sich als innerlich verankerte Lebenskonzeption für jeden römischen Bürger. Grundlegend aber ist dabei, dass eine Norm vermittelt wird, dass also zu einer Disposition notwendigerweise die Einübung in eine Disziplin gehört, was bedeutet: Bildung ist die erste Bürgerpflicht für alle.

Bildung ist deshalb etwas Doppeltes: einerseits die Förderung der freien Entwicklung des Einzelnen zu einem höheren Ziel, das heißt Verstandes- und Charakterbildung, andererseits aber auch Einübung des einzelnen Menschen in die Struktur eines Gemeinwesens, das nicht nur Rechte gewährt, sondern auch Pflichten dem Ganzen gegenüber einfordert.

 

Dieser antike Ansatz wurde mit dem Bildungsroman im 19. Jahrhundert in Deutschland wieder aufgenommen. Der erste Bildungsroman war Wielands Agathon, der Prototyp allerdings dürfte Goethes Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre sein: Der naive Held voller Ideale trifft zunächst auf eine ihn ablehnende Welt. Seine konkreten Erfahrungen in dieser wirklichen Welt lassen ihn reifen und führen ihn dann zur klaren Erkenntnis seiner selbst und der Welt, in der er dann auch seinen Platz findet.

Diesem neuhumanistischen Bildungsbegriff lag das Ideal einer harmonischen, allseits gebildeten Persönlichkeit zugrunde. Einerseits sollte die höchste individuelle Bildung ein Ziel per se sein, andererseits sollte die individuelle Bildung dann auch zum Nutzen von Staat und Gesellschaft sein.

Herder überschreitet den nationalstaatlichen Rahmen. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit erweitert er die Nationalgeschichte zur Menschheitsgeschichte: Nationen und Epochen tragen ihren Wert als Mächte der Geschichte in sich. Humanität ist allumfassendes Ideal und im einzelnen Menschen leuchtet die Vision eines vergöttlichten Menschen, der nämlich ein „Analogon der alles durchfühlenden Gottheit“ (S. 74) ist. Dieses Lebens- und Bildungsideal kulminiert im Sturm und Drang im umfassend menschlich gebildeten kreativen Genie.

Nach der Revolution von 1848 ist dieser komplexe Bildungsgedanke dann allerdings reduziert worden, indem er auf einen Zweck hin gedacht wurde. Bildung wurde nun instrumentalisiert, zertifiziert in Form eines Diploms und degenerierte damit zum Statussymbol, das berufliche Chancen und Sozialprestige versprach. Nietzsche36 – und mit ihm viele andere – übergoss diesen Bildungsphilister mit Hohn und Spott:

Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber – dessen Typus zu studiren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird – unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung „Philister“ durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; [...] Wenn nun die wahre Kultur jedenfalls Einheit des Stiles vor­aussetzt, und selbst eine schlechte und entartete Kultur nicht ohne die zur Harmonie Eines Stiles zusammenlaufende Mannigfaltigkeit gedacht werden darf, so mag wohl die Verwechselung in jenem Wahne des Bildungsphilisters daher rühren, dass er überall das gleichförmige Gepräge seiner selbst wiederfindet und nun aus diesem gleichförmigen Gepräge aller „Gebildeten” auf eine Stileinheit der deutschen Bildung, kurz auf eine Kultur schliesst.37

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