Fall eines Engels

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Fall eines Engels
Font:Smaller АаLarger Aa

 Prolog

„Schon seit vielen Jahren – nein, Jahrhunderten wissen wir, wie eitel die Menschen sind. Sie denken doch tatsächlich, sie seien die Schöpfer der Erde, nur sie hätten das Recht andere Lebewesen zu quälen und sie zu übertrumpfen. Sie glauben in ihrem Tun das einzig richtige zu vollführen, es gäbe kein falsch, kein Unrecht. In ihrem Übermut nehmen sie doch tatsächlich an, sie wären die Einzigen, selbstverliebt stehen sie mit beiden Beinen auf der Erde, beherrschen sie, führen sich auf als wären sie reine Götter. Doch keiner von ihnen hat in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden, unsere Welt bemerkt.

Natürlich existierten Bücher und Filme von unserer Welt, doch sind diese vielmehr Hirngespinste, Wunschdenken. Dass es hoch über den Wolken wirklich ein Reich – ach was rede ich – ein Königreich gibt, das weiß niemand, keiner von ihnen.

Aber es ist vorhanden, von Wolken begrenzt schwebt es unsichtbar über ihren Köpfen, prächtige Schlösser erheben sich von ihnen und stechen bis zur Himmelsdecke empor. Noch nie hat ein Mensch diese Pracht zu Gesicht bekommen, noch nie haben sie unsere Geschichte erfahren. Ja, unsere Geschichte, geprägt von Neid, Habgier und Missgunst, Tod und Vernichtung.

Wir waren nicht immer so glücklich, wie wir es nun sind. Wir lebten nicht immer derart friedlich und ebenbürtig mit den Teufeln zusammen. Ich erinnere mich noch ganz genau, als es anders war, als mir meine Mutter damals die berühmte Sage erzählte. Ganz nebenbei, als wäre es das Normalste auf Erden, als wäre es nur ein Mythos, ich aber weiß es besser, ich weiß, dass es wahr ist:

Seit Anbeginn der Zeit lebten wir Himmelsmenschen hoch über den Köpfen der anderen, wir blieben versteckt, zeigten uns nie, um Problemen aus dem Weg zu gehen, sie gar nicht erst zu schaffen. Dabei brauchten wir das gar nicht, denn hatten wir selbst Probleme genug.

Es gab viele von uns, mit weißen, wunderschönen Flügeln, sie strahlten mit der Sonne um die Wette, wann immer wir uns glanzvoll in den Himmel erhoben. Dann wiederum gab es Himmelsmenschen, welche mit schwarzen Flügeln geboren wurden, ihr Haar war nicht wie das der anderen blond, sondern dunkel wie die Nacht. Von allen wurden sie „Teufel“ genannt, man unterstellte ihnen sogar, einen Pakt mit ihm abgeschlossen zu haben, sie hätten außergewöhnliche Kräfte und böse Absichten. Obgleich diese Vorurteile existierten und nicht aus unseren Gedächtnissen verschwinden wollten, kamen wir mit ihnen aus, sie waren ein Teil von uns, von unserem Leben.

Vor vielen Tausenden von Jahren wurde, in einer wolkenverhangenen Nacht, ein Geschwisterpaar geboren. Nichts besonderes. Doch während der Knabe mit weißen Federn und blondem Haar gesegnet wurde, schmückten schwarze Haare und eben gleiche Flügel das Mädchen. Der Teufel war ihm auf dem Leib geschnitten und ließ sich nicht mehr aus ihm verbannen.

Noch nie zuvor war es geschehen, dass ein „Engel“ und ein „Teufel“ eines Fleisches und eines Blutes waren, niemals zuvor wurden beide Rassen in einer Familie vereint. Manche behaupteten es wäre das Werk des Leibhaftigen, welcher dazu übergegangen war, mithilfe seiner ausgesandten Teufel Unglück und Verderben der Himmelsmenschen herbeizuführen, andere glaubten aber, es wäre ein Zeichen dafür, dass beide Rassen einzigartig wären, dass es keine Unterschiede gäbe und dass man einem jeden mit Respekt und Achtung gegenübertreten sollte.

Die Jahre verstrichen und die Meinungen festigten sich. Stämme wurden durch sie getrennt, Familien auseinandergerissen, der Hass überschattete beinahe jedes Haus. Wie eine Krankheit wurde er schlimmer und unheilbarer, wie ein gefräßiges Tier nährte er sich von immer stärker werdender Wut der Menschen, von Streit und Gräueltaten. Bruder tötete Schwester, Mutter tötete Vater, Ehemann tötete Ehefrau.

So geschah es auch, dass sich das ungleiche Geschwisterpaar verfeindete, blind vor Zorn ließ es sich von den anderen entfremden, einnehmen als wären es leblose Hüllen. Das Mädchen zog sich immer mehr in den Bann der Teufel, der Knabe aber, blieb den Engeln treu.

In dem Glauben in ihnen nun endlich ihre Anführer gefunden zu haben, entbrannte bald darauf eine erbitterte Schlacht der Völker. Vierzig Tage und vierzig Nächte lang kämpften sie gegeneinander. Nachbar gegen Nachbar, Freund gegen Freund, Bekannte gegen Bekannten, wer es war, war ihnen gleich, es waren schließlich Teufel, die es galt zu besiegen.

Die Himmelswelt glich der Hölle selbst, es gab kein Glück, keine Freude, keine Liebe mehr dort oben. So kam es in der letzten Nacht, dass sich Bruder und Schwester gegenübertraten, bereit zum letzten Schlag auszuholen, als der Vater selbst vor sie trat. Gütig schloss er sie in seine Arme, zog sie zu sich und richtete sie vor aller Augen.

Alles hatte ein Ende, ohne Führer, sahen Engel wie auch Teufel keinen Ausweg mehr, sie versöhnten sich und schlossen Frieden. Bis heute. Doch noch immer hofft man, mit der lang herbeigesehnten Geburt eines neuen ungleichen Geschwisterpaares, die Prophezeiung würde sich mit ihnen erfüllen und der Kampf von damals endlich fortgeführt und gewonnen werden …“

Aufgeregt wie er war, lehnte er an der kalten Mauer. Seine Flügel wurden an ihr eingedrückt und lagen flach an seinem Körper, doch es kümmerte ihn nicht. Immerhin war es das was er wollte, sich verstecken.

„Und Raphal, wie geht es dir?“, sanft ruhte eine Hand auf seinem Kopf, wuschelte ihm kurz durch die blonden Haare und begann ihn leicht von der Wand fortzuziehen, von seinem einzigen Schutz, der ihn umgab.

Offen verzog er das Gesicht. „Es würde mir besser gehen, wenn das alles vorbei wäre.“ Zum ersten Mal umklammerte er die Hand seiner Mutter.

Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere. Ruhig hatte er geschlafen, war in der Früh aufgestanden, dennoch war etwas anders: es war sein erster Schultag. Seine Eltern hatten alles daran gesetzt ihn in die Schule bringen zu können.

Raphal schauderte. Überhaupt war es schon schwer genug gewesen IHM einen Platz dort zu verschaffen, wie wäre es dann erst bei Adral, seinem Bruder? Warnend sah er zu ihm hinauf. Der kleine Junge saß auf dem Arm seines Vaters. Seine Flügelchen waren noch zu schwach um ihn zu tragen. Schaffen ihn in die Lüfte zu heben, sodass seine Beine den Boden nicht mehr berührten, würden sie es erst in ein paar Monaten. Sein erster Flug würde damit beginnen und damit enden, dass seine Beine den Boden sofort wieder berührten – unsanft.

Sie beide, seine Mutter und er gingen vorneweg, sein Vater und Adral folgten ihnen. Schon von weitem um ihn herum konnte er gleichaltrige Engel erkennen. Gleichaltrige Engel, mit Engeln als Eltern. Betroffen blickte er zu Boden, wollte den Blick gar nicht heben, den anderen damit begegnen und sie wissen lassen, dass er ein Mischling war, dass er Eltern hatte, die Teufel waren. Sein Schulleben wäre somit vorbei, seine Tage auf der Schule gezählt, es würde fortan nur noch aus Schikane bestehen. Kennen konnte er noch keinen, denn er hatte noch niemals mit einem anderen Engel gespielt. Immer nur mit seinen Eltern und als Adral geboren worden war, mit ihm. Als er noch lebte manchmal auch mit Adriel, seinem Großvater. Mit wem sollte er auch spielen? Schon von klein auf wusste er, dass es schlecht war mit Teufeln gesehen zu werden, dass es verpönt war sich mit ihnen abzugeben, das als Engel! Zu ihnen gehörte er, sie hatten ebenso weiße Flügel. Aber was sollte Raphal denn tun? Andere Kinder zu sich nachhause einladen? Dort mit ihnen spielen und alle wissen lassen, dass seine restliche Familie aus eben diesen Teufeln bestand? Das konnte er doch nicht.

„Wir müssen dort hinüber.“, sagte seine Mutter, zog ihn an den Flügeln mit sich mit in eine kleine Halle hinein. Hier war alles viel heller als sonst irgendwo. Die Wolkenwand war hier weniger dicht als sonst. Sofort als seine Eltern den Raum betraten, hafteten alle Augenpaare auf ihnen, nicht auf Raphal. Denn er war normal.

Jetzt ist es schon wieder soweit. Dachte er sich im Stillen und verdrehte die Augen. Schon oft waren sie aus allem ausgeschlossen worden. So wie damals, als er zum Sport hatte gehen wollen. Es wurde ein schwerer Ball in die Luft geworfen, einen, den man nur schwer halten konnte. Tausende Engel folgten ihm, stoben ihm hinterher bis der erste ihn erreichte, ihn fest umklammerte ihn bis unten verteidigte und dann als er landete als Sieger empfangen wurde. Seine Eltern hatten ihn anmelden müssen, denn Raphal durfte es als kleines Kind noch nicht. Völlig unbedarft war er gewesen, hatte geglaubt seine Eltern seien seine Eltern, andere und bessere Himmelsmenschen gäbe es nicht. Ihn an sich hätten sie gerne aufgenommen, als sie jedoch seine Teufelseltern gesehen hatten, hatten sie höflich abgewinkt. „Es scheint uns als wärst du nicht geeignet. “, hatte der schon etwas ältere Engel gesagt, noch einmal genickt, hatte zu seinen Eltern geblickt und war dann davongeflogen. Das Gelächter der Jungen, die schon eine Mannschaft gebildet hatten, im Sport schon geübt waren, würde er niemals vergessen. Ihre hellen Stimmen hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt.

Gedanklich schon darauf eingestellt wieder gehen zu müssen und gar nicht erst aufgenommen zu werden, folgte er seinen Eltern zu kleinen Bänken auf denen andere Engel saßen. Brav setzte er sich dort zwischen sie, die Eltern standen hinter ihnen.

Sofort rückten einige taktvoll von ihm fort. Nicht zu weit sodass es lächerlich wirkte, jedoch nicht zu nah, dass sie sich berühren hätten können.

Seine Eltern trugen es mit Fassung, Adral war noch zu klein um es begreifen zu können, Raphal aber verstand. Peinlich berührt senkte er den Kopf. Soweit wie es ihm sein Rücken erlaubte.

Ein weiterer Engel betrat den Raum. Es war eine Frau. Sie lächelte als sie federleicht zu ihnen schwebte, sie war groß, überragte andere um einige Köpfe. Immernoch lächelnd landete sie vor einem Pult, stützte sich darauf ab und hob kurz darauf die Hände, feierlich. Gab es wirklich etwas zu feiern? Wohl kaum.

 

„Ich möchte euch alle, liebe Engel.“

Da war es! Sie sagte Engel, nicht Teufel. Ein Raunen ging durch den Saal, alle dachten dasselbe.

„Begrüßen. Ein neues Jahr beginnt. Für viele beginnt nun die Ausbildung. Die Ausbildung zu einem gewissenhaften Engel ...“

Raphal hörte nicht mehr zu, wollte davonfliegen, zum Tor. An seinen Lieblingsort. Dorthin wo sie Adriel als er alt und gebrechlich war begleitet hatten.

Jedesmal wenn Raphal dort war hoffte er ihm begegnen zu können. Hoffte er würde einfach wieder in den Himmel aufsteigen, mit ihm reden und ihm zuhören. Nie mehr war es ihm aber möglich.

„Ich werde nun eure Namen aufrufen. Ihr kommt, von euren Eltern begleitet nach vorne, stellt euch vor und werdet dann in eure Gruppen eingeteilt.“

Jedes Jahr gab es verschiedene Gruppen. Besonders kleine Engel wurden zusammengestellt. Besonders kluge, besonders schnelle oder besonders starke. Bevor man sich überhaupt anmelden konnte, musste man sich einem Test unterziehen. Raphal hatte sich davor gedrückt, erhielt aber trotzdem eine Bestätigung. Warum? Mitleid, das war die Antwort. Der Engel der ihn testete, hatte es gehabt. Praktisch und demütigend zugleich.

Mit der Gewissheit nichts zu sagen, wenn er da vorne stand, hätte Raphal heulen können. Die Frau nahm eine Liste an sich, studierte sie einige Male und begann dann zu lesen.

Raphal war genau in der Mitte.

„Raphal“, hieß es schließlich nach einer Hand voll andere Namen. Mit Schrecken erkannte er, dass er gemeint war. Alle blickten zu ihm.

„Komm.“, hauchte sie in einem gewohnt säuselnden Ton, den sie bereits bei 5 anderen Engeln angewandt hatte.

Mit wackligen Beinen stand er auf. Wollte nicht fliegen, denn keiner hatte es getan, fühlte sich aber zu Fuß unsicher und ausgeliefert.

Langsam ging er vorwärts. Ein Luftzug umhüllte ihn. Er merkte, dass ihm seine Eltern folgten.

Bitte nicht!

Die Frau, das konnte er sehen, verzog das Gesicht. Wollte es sich allerdings vor ihm nicht anmerken lassen, grinste und schloss ihn kurz in die Arme.

Alle warteten. Schüchtern blickte er nach unten auf die erstaunten Schüler. „Ich ... heiße Raphal.“, stotterte er, niemand beachtete ihn mehr, alle Aufmerksamkeit ruhte auf seiner restlichen Familie.

„D ... d ...d ...“ , wilde Gedanken stoben ihm durch den Kopf, ihm wurde schwindelig, konnte sie nicht ordnen. „Das ... sind ... sind ... Freunde meiner Eltern.“, platzte es aus ihm heraus. Schnell fing er sich einen düsteren Blick seiner Mutter ein. Sie sagten nichts, weshalb er ihnen sehr dankbar war.

„Sie mussten Arbeiten“, erklärte Raphal kurz. Seine Eltern schwiegen, Adral gluckste kurz, er mied ihren Blick.

„Wir konnten ihn nicht alleine gehen lassen und hielten es für besser ihn zu begleiten, bis seine Eltern wieder Zeit haben.“, lockerte seine Mutter schnell das eiserne Schweigen und legte einen Arm um Raphals Schulter, unterließ es aber nicht ihre Nägel spitz in seine Haut zu bohren. Raphal spürte den Schmerz. Es war nicht der Schmerz ihrer Nägel, sondern der seiner Lüge. Doch was sollte er tun? Sollte er ihnen wirklich sagen, dass seine Eltern Teufel waren? Das konnte er nicht. Durch diese Worte wäre ein so junger Engel wie er es war vernichtet worden.

So hatte er damals gedacht und so dachte er auch heute.

 Raphal

Ohne noch zu wissen, wovon er soeben geträumt hatte, drehte er sich auf den Rücken. Wie immer gelang es ihm nur schwer dort Halt zu finden, seine langen Flügel, welche ihm aus dem Rücken stachen, machten es ihm schwer, sich überhaupt ordentlich drehen zu können. Zum Glück waren die Knochen elastisch, sodass er sich wunderbar verbiegen konnte und schon bald an die geräumige und durchsichtige Decke blickte.

Adriel war ihm ein guter Freund gewesen. Oft dachte er noch daran, wie ihm der alte Mann vorgelesen hatte oder ihm Geschichten erzählt hatte. Die allseits bekannte Sage über ihr Volk mochte er am liebsten.

"Doch noch immer hofft man, mit der lang herbeigesehnten Geburt eines neuen ungleichen Geschwisterpaares, die Prophezeiung würde sich mit ihnen erfüllen und der Kampf von damals endlich fortgeführt und gewonnen werden."

Nur der eine Satz, mehr war es nicht. Es waren wenige Worte, jeder kannte sie, vielmehr ein Gedicht, welches die Kinder schon zu Beginn ihrer Ausbildung lernen mussten. Für Raphal aber waren es mehr als nur Worte.

Langsam rollte er sich nach oben, blieb dort erstmal wie versteinert sitzen und rieb sich die, vom Schlaf tränenden Augen.

Seit der Geburt seines Bruders erschien ihm dieser Satz wohl eher als eine Art Bestimmung, Schicksal.

„Raphal! Kommst du? Es ist spät!“

Ruckartig lies er sich mit einem kräftigen Schlag seiner Flügel auf die Beine stellen, bückte sich murrend und sammelte einen Stoß hinunter gewehter Blätter vom Boden auf und legte sie wieder sorgsam auf den Schreibtisch. Er war noch jung und konnte die Kraft seiner Federn noch nicht einschätzen, oft genug war ihm der Wind, den sie verursachten in die Quere gekommen.

„Ja, ich komme gleich!“, brüllte er zu seiner Mutter hinunter, straffte seine Schultern und schritt vor den Spiegel, wie jeden Morgen.

„Was denkst du unterscheidet uns von den Menschen dort unten?“

„Ich … weiß es nicht Adriel. Sag‘ es mir.“

Kühl war Adriel zu ihm gekommen, hatte ihn mit seinen alten Händen umarmt, ihn gedrückt und lange nicht mehr losgelassen. „Nichts mein Junge, wir sind gleich. Lediglich die Flügel unterscheiden uns von ihnen.“

„Aber es muss doch mehr geben?“

„Mein Lieber ich wüsste beim besten Willen nicht was. Selbst unsere Sprache ist dieselbe. Wir haben Häuser, Schulen, alles.“, dann war er stehengeblieben, hatte sich die kurzen grauen Haare aus dem faltigen Gesicht gestrichen und freundlich nach einem Glas Wasser verlangt. „Doch halt, eine Sache wäre es. Unten, auf der Erde, würde man mich nicht „Adriel“ nennen.“, er hatte gelacht und getrunken. Raphal ärgerte sich selbst Jahre nach diesem Gespräch über sein Unwissen. Wie dumm war er gewesen?

„Wie nennt man dich sonst, Adriel?“

„Großvater, mein Junge.“

„Großvater“ war ein schauriges Wort, hart und … seltsam lag es ihm auf der Zunge. Insgeheim hatte er nichts gegen die Menschen, zwar hatte er noch nie welche gesehen, doch taten sie ihnen nichts, sie ließen sie in Frieden. Mehr wollte er nicht. Sollten sie doch ruhig existieren, aber ohne ihrem Volk in den Weg zu geraten.

Skeptisch hob er die Arme, nur so konnte er einen freien Blick auf seine schneeweißen Flügel haben. Weich fielen sie von seiner Schulter nach unten, waren bis zu seinem Becken eng an seinen Körper gelegt und flatterten erst von dort aus frei um seine Beine. Der Spiegel vibrierte leicht, als sein Bruder direkt neben seinem Zimmer die Treppen hinunterstob. Raphal atmete durch, wartete geduldig, bis sich das wacklige Gestell beruhigt hatte und er wieder ungehindert hineinblicken konnte.

Mit seinen ein Meter neunzig reichte der Spiegel ihm gerade bis zum Kopf, knapp oberhalb seiner Stirn erstreckte sich schon der bronzefarbene Rahmen, welcher zusätzlich mit Schnitzereien verziert worden war. Seine goldblonden Haare bekam er gar nicht erst zu Gesicht. Doch das brauchte er auch nicht. Er sah sein dünnes und rundes Kinn, seine strahlend blauen Augen, seine spitze Nase und seine vollen Lippen. Er sah seinen robusten Körper und sein starkes Becken. Wie jeden Tag. Nichts Neues.

„Raphal!“, diesmal klang es nach seinem Vater. Eilig sprang er nach oben, mied es jede Stufe einzeln zu nehmen und flog gleich durch das Treppenhaus hinunter in die Küche. Wütend stellte seine Mutter eine Schale mit Milch auf den Tisch, an dem schon sein Vater Linal und sein jüngerer Bruder Adral saßen. Adral war das genaue Gegenteil von ihm, seine Flügel waren rabenschwarz, seine Haare ebenfalls. Das Gesicht und den Körper konnte man sowieso nicht beurteilen, denn jeder wusste, dass sie alle gleich aussahen.

„Entschuldige“, sagte er schnell zu seiner Mutter, setzte sich und verschränkte die Arme, anstatt etwas zu essen. Niemand sagte etwas, sein Vater trank Milch und las eine Zeitung, sein Bruder hatte damit begonnen, wie ein kleines Kind auf den Tisch zu kritzeln. Dass die Gabel dabei tiefe Fahrer in das saubere Holz zog, war ihm egal.

„Was tust du da?“, fragte Raphal amüsiert und freudig darüber, dass diesmal nicht er selbst im Begriff war Ärger zu bekommen.

„Mir ist langweilig, wie jeden Tag.“

Noch ehe Raphal etwas erwidern konnte, fuhr ihnen ihr Vater dazwischen. „Adral fängt das schon wieder an? Wir hatten die Diskussion erst gestern!“ Seine erhobene Stimme brachte ihm nichts. Adral zuckte nicht einmal zusammen, ruhig legte er das Besteck wieder zurück, wedelte aufgebracht mit den Flügeln und lehnte sich dann aber gemütlich in seinem Stuhl zurück. Ihr Vater erhob sich. „Ich werde jetzt gehen. Es wird Zeit, dass eure zweite Ausbildung beginnt. Ihr werdet gelangweilt.“

„Ach wirklich.“

Kurz bevor er die Tür öffnete, strafte er Adral mit einem kurzen Blick, ließ es dann aber sein ihn zurechtzuweisen und stolperte aus dem Haus.

Solange er ihn kannte, war Adral immer aufmüpfig gewesen. Er hatte niemals auf Anhieb das getan, was man ihm befohlen hatte. Vielleicht lag es an seinen Flügeln, das zumindest hatte Raphal geglaubt, doch auch ihre Eltern wurden als „Teufel“ bezeichnet, hingegen zu Adal waren sie aber friedlich und gefügig.

„Ich gehe auch gleich“, sagte ihre Mutter, fuhr sich durch die schwarzen Locken und räumte das von seinem Vater stehengelassene Geschirr in die Spüle. „Räumt bitte auf und kommt nicht zu spät nachhause.“

Sie nickten. Was erwartete ihre Mutter, etwa dass ihnen etwas zustoßen konnte? Immerhin war er schon zwanzig und Adral sechzehn Jahre alt, alt genug um schon für sich allein sprechen zu können.

„Passt auf euch auf“, sagte sie noch einmal, beugte sich zu einem jeden ihrer Söhne und gab ihnen einen kurzen Kuss auf die Wange. „Ich werde bald wieder hier sein.“

Sie nickten wieder, dann war auch ihre Mutter aus der Tür gegangen.