Der letzte Monarch

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Der letzte Monarch
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 1.

„Bitte, gehen wir lieber wieder zurück.“

„Unsinn!“, barsch brachte er den spärlich gebauten Jungen, der ihn bei jedem seiner Ausritte begleitete, zum Schweigen.

„Gibt es Probleme, Eure Majestät?“

Lügend schüttelte Louis den Kopf, warf dem Stallburschen noch einen warnenden Blick entgegen und folgte einigen anderen Männern die lange Gasse entlang.

Der Weg von Versailles nach Paris war nicht sonderlich lang. Mit einer schweren Kutsche, vielen Pferden und Gefolgsleute, die einem auf Schritt und Tritt begleiteten, wurde er aber zu einer sich endlos hinziehenden Qual, einem Pfad, der niemals enden wollte. Genau aus diesem Grund sagte Louis beinahe niemandem im Schloss, wohin er wollte. Hatte er Lust auszureiten, aus dem Gefängnis an Festlichkeiten und Regeln zu entkommen, so unterrichtete er nur Dámien davon. Zwar hatte er keine tiefere Bindung zu ihm. Er war arm und stammte seines Wissens nach von einer einfachen Bauersfamilie ab. Doch Dámien war nett, nett unterwürfig und verschwiegen. Der Junge von achtzehn Jahren hatte erst vergangenen Sommer zu ihnen gefunden, dort seine Arbeit verrichtet. Da Louis es liebte, sich sämtlichem Einflusses zu entziehen, hatte er schnell die undankbare Aufgabe übernommen den jungen Prinzen wann immer es nötig war und wann immer er es ihm befahl, zu decken. Niemandem zu sagen, dass er sich sein Pferd ausgeliehen hatte, damit ausritt. Schon wenige Monate später, als die Winterfeierlichkeiten in der pariser Innenstadt ihren Lauf nahmen, hatte Louis es als sehr hilfreich empfunden, Dámien auch persönlich zu seinen Vorhaben mitzunehmen. Damals war Louis dermaßen betrunken gewesen, dass er, wäre er alleine gewesen, den Weg sicherlich nicht hätte nachhause zurückfinden können. Räuber lauerten überall, ein wehrloser, betrunkener Prinz von Frankreich stellte mit Sicherheit eine willkommene Beute dar.

Die Gasse wurde enger, mieser Gestank stieg in seine Nase und Louis musste sich die kräftige und mit goldenen Ringen besetzte Hand davor halten. Jeder der Jungen bemerkte es. Doch sie sagten nichts. Obwohl er sich so gut wie jede Woche mit ihnen traf, ein einfaches Münzspiel spielte, dabei wettete, hatten sie immer noch gebührenden Respekt vor ihm. Etwas, das sich auch gehörte.

Dámien war blass geworden, es schien, als wäre er plötzlich erkrankt, als müsste er sich übergeben, einfach nach vorne beugen und unheilverkündend würgen. Was möglicherweise auch der Fall war. „Ist alles in Ordnung?“

Dámien nickte kurz angebunden, wischte sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und biss sich auf die Lippen. „Louis? Ich würde aber wirklich gerne wieder gehen.“, jammernd beschleunigte er seinen Schritt, um ihm und den anderen hinterherzukommen, durch den Spalt zweier modernder Häuser schlüpfte und eine kleine Treppe, die er stolpernd übersehen hatte, hinuntersprang. „I … ich finde nicht, dass Sie weiterwetten sollten, heute abend ist auch die Feier …“

„Jaja.“, nichtssagend winkte er ab. Die Feier seines Vaters war ihm egal. Ziemlich egal. Er hatte Geburtstag. Na und? Er hatte schließlich jedes Jahr Geburtstag. Warum sich also extra um diesen Tag sorgen? Wo noch so viele weitere kommen würden.

Gérard, ein kleiner, schlaksiger Junge, etwa in seinem Alter, rollte ein kleines Fass, das immer, tag ein tag aus an genau derselben Wand eines Hauses lehnte, an sie heran, setzte sich darauf und schlug die Beinde übereinander. Er hatte sich lange nicht mehr rasiert, wirkte ungepflegt und rüpelhaft. Doch Louis mochte ihn, lediglich sein Name, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Jemand mit derartigem Aussehen, mit derartigem Auftreten wagte es sich Gérard zu schimpfen?

„Kanns‘ losgehen?“, fragte Gérard herausfordernd, rümpfte die Nase und legte seine Finger auf die fettigen blonden Haare, welche schon eher wie braune aussahen.

Bestimmt nickte Louis. Klar konnte es losgehen. Um was wetteten sie überhaupt?

Gérard wies einen anderen, noch viel kleineren Jungen – zufällig wusste Louis, dass es sein zwöfljähriger kleiner Bruder war – an, sich hinzuknien, überreichte ihm eine Münze, die er sorgfälltig auf den dreckigen, gepflasterten Boden legte.

„Zahl?“

„Kopf“, hielt Louis streng dagegen und klatschte in die Hände. Wie sehr er dieses Spiel nur liebte. Es machte ihm Spaß, andere verlieren zu sehen, machte ihm allerdings nichts aus, etwas an die viel ärmeren Männer geben zu müssen. Immerhin hatte er von allem genug.

„Bist du dir sicher?“

Ab und an durfte Dámien ihn duzen. Er war ihm ein richtiger Freund geworden, auch wenn Louis mit dem Wort „Freund“ mehr als vorsichtig umging, denn er kannte es nicht, wollte es eigentlich auch nicht kennenlernen. Aber er mochte Dámien. Mochte seine unbekümmerte Art, seine tollpatschige Ausdrucksweise, wenn manchmal Louis‘ Vater ein Pferd verlange und er ihm gegenüberstehen musste. Wann immer das geschah, schaffte er es nur unverständliches Gemurmel von sich zu geben, wurde hibbelig und kreidebleich. Louis genoss diesen Moment, genoss den Einfluss, den er auf Dámien ausüben konnte.

Die schillernde Münze drehte sich, wirbelte zwischen den schmutzigen und schwarz umrandeten Fingernägel umher, schnellte immer wieder um dessen eigene Achse, wurde schneller und verschwommener. Ihr Atem stockte.

„Aus dem Weg …“ Ein betrunkener Mann rumpelte aus einem der engen Hauseingänge heraus, spie ungelenk auf die Straße, wischte sich kurz über den Mund und taumelte an ihnen vorüber. „Weg‘ da.“, schrie er matt und presste Louis eng an die kalte Wand hinter ihm. Sie stank streng nach Urin und ihm wurde übel. Der Mann erkannte ihn nicht, ging einfach weiter und fiel dann gebrechlich in sich zusammen. Hier draußen, wenn er sich nach Paris begab, verzichtete er auf seine königliche Robe, hier brauchte er sie nicht. Hier wäre es Selbstmord, sich zu erkennen zu geben.

Louis‘ Finger zogen sich zusammen, verkrampften sich und ihm wurde hieß. Das angelaufene Metall der Münze begann zu wackeln, sie turdelte, schlug immer weitere Kreise.

Komm‘ schon, fall um … fall um … , seine Gedanken verstummten, sein Flehen blieb ungehört. Alle starrten auf die Erde. Eine laute Kutsche fuhr an der Hauptstraße neben ihnen vorüber, die Straßen vibrierten von den schweren Pferdehufen. Es war ihnen egal. Gérards‘ kleiner Bruder war aufgesprungen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wollte seinem großen Bruder gratulieren. „Zahl. Es ist Zahl.“

Alle lachten. Auch Louis. Er hatte verloren, was machte es ihm? Nichts. Sportlich kam er auf seinen Rivalen zu und reichte ihm die Hand. „Was willst du?“

Kurz überlegte Gérard, begann dann zu lächeln und deutete dann auf das Ende der Gasse, von welchem sie gekommen waren. „Euer Pferd?“

Louis stutzte. Das war gar nicht seine Art, sonst verlangte er nur Geld oder Schmuck von ihm. Etwas Gewinnbringendes.

„Na gut. Mein Pferd?“

„Hm.“, leise räuspernd rückte Dámien näher an ihn heran, wagte es aber noch nicht ihn zu berühren.

„Was ist denn?“ Aus seinen bisherigen Erfahrungen wusste Louis, dass es durchaus ratsam war, auf seinen Stallburschen zu hören, auch wenn er das nicht gerne zugeben wollte.

Verlegen kratzte Dámien sich am rabenschwarzen Hinterkopf. „Das ist eines der Kutschenpferde Ihres Vaters, des Königs. Ich würde … es nicht raten, genau dieses weiterzugeben.“

Überlegend verschränkte er die Arme. „Rede weiter.“

„ … ich würde eher vorschlagen, ein anderes, „normales“ zu nehmen.“

„Kein Anderes.“, brach Gérard unsanft zwischen ihr Gespräch, betrachtete abschätzend seine fauligen Nägel und rutschte ungalangt vom modrigen Fass. „Dieses, kein anderes. Ihr wollt doch Eure Wette einhalten, nicht wahr?“

Gérard besaß ein großes Mundwerk, für die Art und Weise wie er mit ihm sprach, konnte Louis ihn mit Leichtigkeit verhaften lassen, doch er verzichtete darauf. Er war ein Ehrenmann, hielt sein Versprechen. Sich des Zorns seines Vaters sicher, nickte er in Dámiens Richtung. „Hole das Pferd.“

 2.

„Denkst du nicht, dass wir Ärger bekommen?“

Vom ständgen Gejammer Dámiens genervt kaute Louis lässig auf einem Strohhalm. Unschicklich, aber es war ihm egal. Hier, mitten in den Stallungen des Schlosses konnte ihn so gut wie niemand dabei sehen. Selbst wenn würde es keiner von ihnen wagen, seinem Vater davon Bericht zu erstatten. Wenn, dann bekommst nur du Ärger. Schon etwas freundlicher, nahm er den Halm aus dem Mund, betrachtete ihn mürrisch zwischen seinen Fingern und warf ihn dann in eine der Boxen. „Warum sollten wir Ärger bekommen? Papan hat mehrere Pferde.“

Mit Papan meinte er seinen Vater, den König von Frankreich, den mächtigsten Mann des Landes. Eigentlich ziemte es sich nicht, in der Öffentlichkeit, zu keinem Familienmitglied den Namen Papan auszusprechen. Aber Louis tat es. Was kümmerte ihn das Ansehen seines Vaters?

Dámien schien es anders zu sehen. Die Nervosität stand ihm ins Gesicht geschrieben, die Bürste, mit welcher er das Pferd, auf welchem er geritten war, striegelte, zitterte in seiner klammen Hand und er musste sie desöfteren absetzen. Erst nach längeren Pausen, in denen er Louis gebannt musterte, konnte er seine Arbeit wieder aufnehmen. „Ich fühle mich trotzdem nicht wohl, könnt Ihr das nicht verstehen?“

„Nein“, gestand er knapp und ging ein Stück weit aus den Stallungen. Es dämmerte, es war ein schöner Sonnenuntergang. In violetten Strahlen durchzog sie den dunkelblauen Nachthimmel, stahl sich zwischen düstere Wolken und verschaffte ihnen somit ein freundlicheres Gesicht. Von Weitem erkannte Louis große Kutschen, die auf das Eingangstor zu – und durch es hindurchrollten. Das Fest seines Vaters begann. Geschäftig zupfte er sein kratzendes Hemd zurecht und wandte sich an Dámien. „Ich muss mich jetzt ankleiden. Wir sehen uns morgen.“, sagte er kurz und machte sich auf den Weg ins Schloss.

 

Feigling. Die Art und Weise wie er über Dámien sprach, der ihn in so manchen Situationen die Haut gerettet hatte, regte in ihm beinahe etwas, was er bisher nicht kannte. Ein schlechtes Gewissen.

Mittsmutig schlenderte er über den weiten Innenhof des Schlosses. Umgeben von den goldenen Zäunen, die das Anwesen umgaben, wurden seine Schritte immer schneller. Auch wenn er sich sicher war, keinerlei Strafen zu erwarten zu haben, ollte er wenigstens zum Fest seines Vaters pünktlich erscheinen. Damit hätte er schon einmal einen wichtigen Schritt unternommen, ihn milde zu stimmen. Jeder auf seinem Weg zückte den Hut, knickste oder verbeugte sich, sobald Louis ihn passierte. Doch in seiner Hecktik stob er einfach an jedem vorüber. So wie jeden Tag. Warum sollte er mit seinen Dienstboten reden? Sie zurückgrüßen oder überhaupt von ihnen Kenntnis nehmen?

„Sire?“

„Jaja.“, schnaufend preschte er in seine Gemächer, vorbei an Lounos, seinem persönlichem Kammerdiener, der ihm hilfsbereit die Aufwartung machen wollte und ihm bei dieser Gelegenheit, beim Ankleiden behilflich sein wollte.

In Windeseile stülpte er sich sein altes Hemd sowie seine Ledernen Hosen vom Körper, warf sie Lounos in die Arme und schnipste anweisend in seine Richtung.

„Gerne Sire.“, gab dieser unterwürfig zurück, legte sie Sachen ordentlich über einen Stuhl und reichte ihm sein Festgewand.

Weich lag der Stoff auf seiner Haut, zog ihn mit seinem Gewicht an den Schulter nach unten und Louis hatte seine Probleme damit, sich aufrecht hinzustellen. Wie sehr er doch das Gewand liebte. Es war rot, aus wunderbarer roter Seide, jeweils an den Rändern mit weißem Fell geschmückt und glitt hochheitsvoll an seinem Rücken hinunter, reichte bis zum Boden und schleifte sachte über ihn. Keiner, außer sein Vater trug ein noch Schöneres. Noch Edleres und noch Längeres.

„Louis.“

Verschwinde! Innerlich brodelnd ließ er sich demonstrativ seine kleine Prinzenkrone reichen, setzte sie hochmütig auf seine struppigen schwarzen Haare und rückte sie prüfend zurecht. Im Spiegel, von denen es in seinem Zimmer, sowie im gesamten Schloss genügend gab, da sein Vater und auch sein Großvater es liebten, geliebt hatten, sich bei jeder Bewegung betrachten zu können, blickte er schelmisch hinter sich. Ein großer Mann war neben ihn getreten, fixierte ihn aus seinen finsteren, unnahbaren Augen, abfallend kam er näher, biss in einen Apfel und lehnte sich gegen den Stuhl der Garderobe. „Mein Bruder scheint mir den Rang ablaufen zu wollen?“

Kühl wandte er sich zu ihm, zeigte ihm sogleich wieder den Rücken und machte Anstallten, den Raum verlassen zu wollen. Aus dem Festsaal drangen schon die ersten Töne der Instrumente zu ihnen. „Das möchte ich nicht, denn ich kann nicht so gemein sein wie du.“

Sein Bruder lachte, warf den Apfel abfallend auf den Boden und begleitete ihn. Verkrampft ließ Louis seine Anwesenheit über sich ergehen. Sein vier Jahre älterer Bruder, ebenfalls Louis, hatte sich nie etwas aus ihm gemacht, wollte ihn immer ärgern, wann und wie sich die Gelegenheit dazu ergab. Immer wenn er ihn „Bruder“ nannte, konnte er es kaum ertragen es zu hören. Eben diese Worte erinnerten ihn tagtäglich daran, wie nahe verwandt sie doch waren. Dabei wäre es selbst nicht genug, wären sie entfernte Cousins.

Mit klebringem Mund, über den er sich nicht zu wischen gedachte, trottete er ihm hinterher. Für den Augenblick eilten beide Brüder, eigentlich die bittersten Rivalen, friedlich nebeneinander in den Festsaal. Den langen, von Spiegeln gesäumten Gang entlang, bis hin, zu einer gewaltigen Flügeltür, von zwei Butlern, wurde sie ihnen erst nach einem aussagekräftigen Nicken geöffnet.

„Benimm‘ dich.“

Louis rollte entnervt mit den Augen, merkte, dass die Flügel der Tür nach außen schwangen und nahm sofort Haltung an. „Natürlich tue ich das. Louis.“, sarkastisch lächelnd stärkte er seinen Nacken, da die Krone ihn zu erdrücken drohte. „Immerhin, bist du der Thronerbe, alle sehen auf dich.“

Worüber ich froh bin, denkst du etwa, ich will König werden? Diese Last ist dir zurecht auferlegt worden. Gott wusste anscheined schon bei ihrer Geburt, wem er das Glück zuteil werden ließ und welchem von ihnen beiden, er ein Leben im goldenen Käfig, von Neidern und von Mördern umgeben, überreichte.

Noch ehe sie den Saal betreten hatten, bevor sie auch nur einen einzelnen, der vor ihnen stand, sich tatkvoll zur Musik drehte, erkennen konnten, verstummten die Musikanten. Ein einsamer jämmerlicher Ton flog noch über ihren Köpfen hinweg, dann war es still. Die Umdrehungen erstarrten und alle blickten stumm auf die Prinzen. Davon wenig beeindruckt schlenderten sie durch die sich vor ihnen erstreckende Gasse an Bewunderern, begaben sich zu den an der Spitze des Saales stehenden Stühlen, stiegen das kleine Plateau hinauf und setzten sich würdevoll. Sobald sie die weichen Kissen berührt hatten, wurde der Tanz wieder aufgenommen. Als wäre nichts gewesen, tanzten die Gäste weiter, niemand beachtete sie, niemand hörte sie, denn die Lieder waren zu übermächtig und übertönten sogar Louis‘ innerste Gedanken.

„Guten Abend, Papan“

Ruhig legte er seine schwitzigen Hände auf die kalten Lehnten seines Stuhles, umrundete mit seinen BLIcken den Saal und musste bei den schnellen Umdrehungen der Gäste schwindelnd blinzeln.

Ihr Vater hatte einen weitaus höheren Sitz, konnte locker auf seine beiden Söhne hinunterstarren, behielt sie streng im Auge. Sein Bruder hatte sich schmeichelnd zu ihm gebeugt, redete mit ihm. Nicht lange Sätze, doch es beunruhigte Louis. Er sollte ihn nicht für sich einnehmen. Obwohl er das schon an dem Tag, an dem er das Licht der Welt erblickte, getan hatte. So sehr, dass Louis selbst, keine Gelegenheit dazu erhalten hatte, ihm den Platz streitig zu machen.

Alle Männer trugen sauber polierte Uniformen, die Damen festliche Kleider, welche in langen Scherpen über den Boden wirbelten, mehr noch, wenn sie sich schwungvoll über die Tanzfläche drehten.

Uninteressant.

Seine Gedanken verstummten, als sein Blick an einer, in ein haufarbenes Kleid gekleideten Frau hängen blieb. Sie hatte hüftlange, zu einem mit Proschen verziehertem Zopf geflochtene Haare, ihr Kleid war mit glitzernden Steinen besetzt, funkelte mit ihren zynischen Augen um die Wette. Sie trug einen Fecher in der Hand, mit welchem sie sich galant Luft zu wedelte. Seine Hände verkrampften, seine Nägel bohrten sich in das Gold des Stuhles. Unsicher sah sie sich um, wurde einmal zum Tanz aufgefordert, welchen sie kalt ablehnte. Ihr Gesicht war von schwachem Puder bedeckt, wirkte blaß, ihre silberne Kette fiel tief in ihr auffallendes Dekoleté, forderte einen jeden dazu auf, unweigerlich hineinzusehen.

Claudette Mescharde. Finster und mit in Falten gelegter Stirn folgte er ihrem Gang zu Bekannten Gesichtern, sah, wie sie sie überschwänglich begrüßte, sich zuwedelte, lachte und sich von einem der Männer die Hand küssen lies. Eine Mätresse seines Vaters. Zugegeben, eine gutaussehende, doch war konnte sie in Louis‘ Augen nicht genug Schönheit besitzen, um den Verrat an seiner vor Jahren gestorbenen Mutter wieder gutmachen zu können. Tatsache war, dass sie seinen Vater in ihre Fänge gelockt hatte. Man musste ihr und auch ihm zugestehen, dass es erst nachdem seine Mutter von ihnen gegangen war, geschah, doch Louis wollte ihr nichts gutheißen. Nicht, dass sie kaum versuchte Einfluss auf seinen Vater auszuüben, dass sie selten kostbare Geschenke von ihm entgegennahm, dass sie bis jetzt kein Kind von ihm erwartete. Wäre das der Fall, hätten sie alle ein Problem. Ganz besonders sein Vater.

Aus den Augenwinkeln und unter wütendem Gezitter merkte er, wie sich einer der Diener zu seinem Vater beugte, ihm etwas zuflüsterte, sich dann verbeugte und ihn wieder verließ.

Verflucht! , seine Gedanken überschlugen sich. Vergessen war sein Hass auf Claudette, auf ihre falsche Schönheit, ihre falsche Reinheit, sie galten nur dem Gesagten des Dieners. In seinem lächerlichen Frack stand er am Rande der Feierlichkeiten, tuschelte mit anderen und führte ein Tablet mit Getränken mit sich. Was hatte er gesagt?

Stürmisch schnellte sein Vater nach vorne. Alles wurde still. So plötzlich hatte niemand mit einer Regung des Königs gerechnet. Alle blieben stehen, sahen ihn an.

Mit einem kurzen Nicken in Richtung des Orchesters wurde die Melodie wieder aufgenommen, barsch ging sein Vater an ihm vorüber, schnipsste anweisend mit dem Finger und verießt den Saal. Nun in die Stellung eines niedernen Bediensteten gerückt, schwang auch Louis sich aus dem Stuhl, diesmal reagierte keiner. Ängstlich aber auch gelangweilt ging er seinem Vater hinterher, nach draußen, in den Gang, von dort in das große und ungemütlich eingerichtete Regierungszimmer seines Vaters. Als die Türen von den Wachmännern geschlossen wurden, war es angenehm still. Zu still.

„Papan?“

Befangen hob er die Hand, seine goldenen Ringe funkelten im fahlen Licht der Kerzen, strahlten in sein Gesicht und ließen Louis jäh verstummen. Schüchtern blickte er zu Boden.

„Sieh‘ mich an.“

Sofort reagierte er. „Sie müssen …“

„Ich sagte, sieh mich an, nicht sprich zu mir.“

„Wie Sie wünschen, Papan.“

Geschäftig ging er auf und ab. Seine schweren Schuhe kratzen dumpf über den Boden. Am Schreibtisch angelangt, legte er seine Hand gedankenverloren auf eines seiner Bücher, schob es hin und her, richtete es auf, biss sich auf die Lippen und ließ es wieder fallen. Ohne ihm ins Gesicht zu sehen, begann er streng zu sprechen. Seine tiefe Stimme bebte, seine weiße Perrücke rutschte und sein leichtes Doppelkinn wackelte unter seinen Worten: „Louis, ich habe genug von deinen Manieren.“

„Papan …“

„Falle mir nicht ins Wort, Louis Gérard!“

Er nannte ihn beim vollständigen Namen. Louis Gérard. Ein dicker Klos stahl sich in seinen Rachen, belegte seine Stimme, ließ sie verstummen. Das verhieß nichts Gutes.

„Was habe ich falsch gemacht?“, überlegend stützte er sich mit seinem massigen Körper auf dem harten Holz des Tisches ab, sah ihn an und verzog unliebsam das Gesicht. „Du“, seine Stimme wankte vor Zorn. Gefährlich. „… machst dir nichts aus der Etikette, du missachtest meine Regeln,stiehlst dich jeden Tag, wie ein Landstreicher aus dem Palast, verwettest mein Pferd und brüskierst damit unser Haus!“

„Woher wissen Sie das …“

„Hüte deine Zunge!“

Erschrocken fuhr Louis herum. Sogar draußen, hinter der dicken Tür, mussten die Wachen womöglich furchterregt in sich zusammengefahren sein. Anders konnte er es sich bei der forschen Stimme seines Vaters nicht vorstellen. Am ganzen Körper schlotternd setzte er zur Antwort an. Doch der König wollte nichts hören. „Nicht schon wieder, Louis. Verschohne mich mit deinen Worten!“, müde fasste er sich an die Stirn, knetete seine überantstrengten Schläfen. „Louis … ich weiß nicht mehr weiter. Du bist eine Schande für unsere Familie! So viele großen Könige sind aus ihr hervorgetreten … doch du …“, sein strafender Finger deutete direkt auf ihn, trieb ihm feuchte Schweißperlen auf die Stirn. „… du …“, ihm fehlten die Worte, noch schlimmer, als wenn er ihn nur beschimpfen würde. „… du nicht.

„Papan, lassen Sie mich erklären.“

„Schweig‘! Ich habe genug von deinen Erklärungen. Du hast ein edles Geburtsrecht erlangt, durch Gottes Gnade! Doch was wärst du ohne sie? Nichts!“

Beleidigt zuckte er zusammen, wie konnte sein Vater seinen eigenen Sohn nur derart beleidigen. Wie konnte er ihn beleidigen? „Papan, hören Sie doch …“

„Ich habe lange genug gehört. Du wärst ein Niemand.“

„Lassen Sie es mich unter Beweis stellen.“, was sagte er da? Unter Beweis stellen? Das wollte er doch gar nicht. Denn es bedeutete Arbeit und Anstrengung.

„Oh … dazu wirst du Gelegenheit haben!“

„W … wie meinen Sie das?“

„Sieh mich nicht an, wie ein wimmernder Esel!“, keifte sein Vater höhnisch und trat dicht an ihn heran. Louis war größer gewachsen als er, überragte ihn um einiges. Was ihm nur noch mehr Respekt vor seinem Vater verschaffte.

„Geh‘, ab heute kannst du sehen, wo du ohne deine durch Geburt erlangte Stellung wärst!“

„Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden! Noch diese Nacht verweise ich dich aus diesem Haus!“, sein Finger wies zur Tür, Louis‘ Pupillen verengten sich gefährlich, füllten sich mit Wasser.

 

„Papan, das wollen Sie mir antun? Ich bin einer Ihrer Söhne! Ich soll in Armut leben?“

Hysterisch lachend winkte er ab, legte seine Hand auf die Tür, ein Zeichen dafür, dass das Wort gesprochen worden war und er im Begriff war, das Gespräch zu beenden. „Ja, und genau das, Louis Gérard ist es. Du bist einer meiner Söhne …“, flüsternd öffnete er die Tür und trat auf den luftigen Gang. „… der Zweitgeborene, um präzise zu sein.“