Der Mensch und seine Grammatik

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Der Mensch und seine Grammatik
Font:Smaller АаLarger Aa

Simon Kasper

Der Mensch und seine Grammatik

Eine historische Korpusstudie in anthropologischer Absicht

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

[bad img format]

Umschlagabbildung: Simon Kasper auf Grundlage einer Grafik von pixabay.com

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8429-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0044-1 (ePub)

Inhalt

  Meinem Vater

  Vorwort

  Abkürzungsverzeichnis

  1 Einleitung: Verstehen als Leistung 1.1 Ein Alltagsphänomen 1.2 (Be-)deuten und Interpretieren 1.3 Mehrdeutigkeit und Ausdeutbarkeit 1.4 Verstehen 1.5 Deutungsautomatismen, Deutungsroutinen und Deutungsarbeit 1.6 Die „W“-Fragen des vorliegenden Buches 1.7 Das Korpus und die verwendeten Bibelübersetzungen

 2 Leistungen und Grenzen der sprachlichen Eigenstruktur2.1 Sprachliche Konventionen und Verstehen2.1.1 Vom Privaten zum Öffentlichen2.1.2 Öffentlichkeit und sprachliche Konventionen2.1.3 Die Zwänge der Öffentlichkeit: Treue und Sparsamkeit2.1.4 Die Zwänge der Öffentlichkeit: symbolische Auslagerungen2.2 Die Leistung der sprachlichen Eigenstruktur2.2.1 Die Überstrukturiertheit sprachlicher Konventionen2.2.2 Vom Öffentlichen zum Privaten: ein erster geschummelter Versuch2.2.3 Das gemeinsame Private2.2.4 Vom Öffentlichen zum gemeinsamen Privaten mit sprachlichen Eigenstrukturen2.2.5 Die Funktion eigenstrukturellen „Know-hows“2.2.6 Die Zeitlichkeit des Interpretierens und wechselseitige Vorhersagbarkeit2.3 Die Leistungsgrenzen der sprachlichen Eigenstruktur: Mehrdeutigkeit2.3.1 Grenzen der Sprachkonventionen: eigenstrukturell vermittelte Mehrdeutigkeiten2.3.2 Grenzphänomene: die bewegliche Grenze der Eigenstruktur2.3.3 Der Einfluss der Schrift auf die sprachliche Eigenstruktur2.3.4 Zu den morphologischen Eigenstrukturen in den Sprach(stuf)en2.4 Dynamische Aspekte eigenstruktureller Hinweise2.4.1 Die Beziehung der eigenstrukturellen Hinweise zueinander2.4.2 Synchronische und diachronische, globale und lokale, Offline- und Online-Betrachtungsweisen2.4.3 Zurückhaltung bezüglich der instruktiven Mittel2.4.4 Die zu untersuchenden Sprach(stuf)en2.4.5 Wo morphologische Differenzen bleiben: morphologisches Minimum2.5 Eigenstrukturen und Übersetzungstechniken2.6 Die vorgestellten generalisierten Leserinnen2.7 Der instruktive Wert der Prosodie beim Lesen-für-sich2.8 Der Analyse erster Teil: eigenstrukturelle Hinweise2.8.1 Vorgehen, Klassifikationskategorien, kontrollierte Bedingungen2.8.2 Morphologische Mehrdeutigkeit2.8.3 Syntaktische Mehrdeutigkeit (Reihenfolge)2.8.4 Zusammenfassung zu den eigenstrukturellen Hinweisen insgesamt2.9 Bedeutung für die Ausgangshypothese

 3 Der Beitrag außergrammatischer Hinweise3.1 „Belebtheit“ als Chiffre für einen schwer fasslichen Begriff3.1.1 Belebtheit aus der synchronischen Offline-Perspektive3.1.2 Belebtheit aus der diachronischen Offline-Perspektive3.1.3 Belebtheit aus der synchronischen Online-Perspektive3.1.4 Update der Hypothese3.2 Akzessibilität: Gegenstände im Gedächtnis und die Wahl ihrer Ausdrucksform3.2.1 Akzessibilität aus der synchronischen Offline-Perspektive3.2.2 Akzessibilität aus der diachronischen Offline-Perspektive3.2.3 Update der Hypothese3.3 Weitere Kandidaten?3.4 Der Analyse zweiter Teil: außergrammatische Hinweise (I)3.4.1 Differenzierung nach Satzgliedbeziehung (I–VI)3.4.2 Differenzierung nach realisierten und imaginären Satzgliedern (1–10/1–5)3.5 Bedeutung für die Belebtheits- und Akzessibilitätshypothesen3.6 Satzgliedreihenfolge: außergrammatisch betrachtet3.6.1 Ein Ort, sie zu knechten, sie alle zu binden3.6.2 Update der Hypothese3.7 Der Analyse dritter Teil: außergrammatische Hinweise (II)3.8 Bedeutung für die Belebtheits- und Reihenfolgehypothese

 4 Bedeutsamkeit, Sprache und Gewissheit: eine anthropologische Skizze4.1 Grenzen der philologisch-sprachwissenschaftlichen Innenperspektive4.1.1 Ein lokales synchronisches Offline-Filtermodell4.1.2 Manche Äußerung(styp)en sind gleicher als andere4.1.3 Gebrauchsfrequenz als Lösung4.1.4 Gebrauchsfrequenz als Problem4.2 Der Schwenk zur Außenperspektive4.2.1 Die Reihenfolge von Agens- und Patiens-Satzgliedern sprachenübergreifend4.2.2 Die Agens zuerst-Präferenz im inkrementellen Sprachverstehen4.2.3 Der Schluss von humanen Ursachen auf echte Agenten4.2.4 Die Zuverlässigkeit/Verbindlichkeit von Hinweistypen4.2.5 Bedeutsamkeit als Gelenkstelle4.3 Die „-enz“-Faktoren: Bedeutsamkeit im Einsatz4.3.1 Salienz und Pertinenz im Alltag4.3.2 Die sensomotorische Linie Geschlossenheit – Salienz – Verhalten – Automatismus – vitale Funktionen4.3.3 Die ideomotorische Linie Offenheit – Pertinenz – Handlung – Routine – Zwecke4.3.4 Der Leib, Routinisierung und die Aspektvereinseitigung von Vorstellungen4.3.5 Die Fünfte im Bunde: Effizienz4.3.6 Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste: Effizienz online4.3.7 Die Präferenz für verantwortliche Ursachen im inklusiven Handlungskreis4.3.8 Belebtheit auf der Salienzlinie4.4 Der Blick zurück auf die außergrammatischen Hinweise4.4.1 Rekapitulation4.4.2 Außergrammatische Hinweise im inklusiven Handlungskreis4.5 Der Blick zurück auf die sprachliche Eigenstruktur4.5.1 Die Interventionsleistung eigenstruktureller Hinweise4.5.2 Die Stattgabefunktion der eigenstrukturellen Hinweise4.5.3 Animal symbolis interveniens: mit Symbolen gegen die Suggestionen von innen4.6 Die Antworten des vorliegenden Buches4.6.1 Was steht womit in welcher Beziehung?4.6.2 Was kann ich (jetzt) tun?

  5 Literaturverzeichnis 5.1 Quellentexte 5.2 Übersichtswerke zur Syntax und Grammatik von Sprach(stuf)en 5.3 Forschungsliteratur

  Anhang: Paradigmen A.1 Altenglisch A.2 Mittelenglisch A.3 Althochdeutsch A.4 Mittelhochdeutsch A.5 Frühneuhochdeutsch A.6 Neuhochdeutsch A.7 Hochalemannisch A.8 Nordniederdeutsch

  Register

Meinem Vater

Vorwort

Ich habe versucht, ein Buch zu schreiben, das jede Leserin mit linguistischen Grundkenntnissen mit Gewinn lesen kann, das aber auch der interessierten Forschungscommunity noch Impulse geben kann. Ohne Kompromisse ließ sich das nicht bewerkstelligen. So habe ich speziell in den sprachtheoretischen Kapiteln und Abschnitten mit Literaturverweisen gespart. Dass ich William James, Karl Bühler, Ernst Cassirer, Arnold Gehlen, Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Peter Janich, den generativen, kognitiv-funktionalen, Inhalts- und Ausdrucks-, Dependenz- und Valenzgrammatiken viele Anlässe für An- und Abgrenzungen verdanke, werden Eingeweihte dennoch bemerken – und auch so sind die Verweise nicht wenige. Meine Bemühungen gingen dahin, eine empirisch gestützte, kohärente und lebensweltnahe Skizze über den Zusammenhang von grammatischen Signalisierungsmitteln, ihrer Interpretation und der leiblich-psychischen Verfasstheit des Menschen zu entwerfen. Dem Ziel, diesen Entwurf geschlossen, kontinuierlich und nachvollziehbar darzustellen, habe ich bereitwillig den Anspruch untergeordnet, jeden möglichen Bezug zur Forschung explizit zu machen. Das betrifft auch den weitgehenden Verzicht auf eine Terminologie, die an Einzeltheorien gebunden ist, aber fürs Ganze versagt. Der Geschlossenheit ist es geschuldet, dass ich im Einleitungskapitel bereits Voraussetzungen mache, die ich erst spät vollends einlösen kann. Der Lebensweltnähe soll es geschuldet sein, dass diese Voraussetzungen nicht zu sehr auffallen und das Buch dennoch von Beginn an nachvollziehbar ist.

 

Was meinen Genusgebrauch bei Personenbezeichnungen angeht, der manchen Leser zum Nachfragen veranlasst hat, bin ich folgendermaßen verfahren: Auf bestimmte literarische oder historische Figuren(gruppen) beziehe ich mich mit dem entsprechenden Genus. Beispielsweise verwende ich für die historisch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit männliche Gruppe von Bibelschreibern und -übersetzern das Maskulinum. Für Personenbezeichnungen, die niemand Bestimmtes, aber potentiell Sie, mich und andere meinen könnten, habe ich kurzerhand Rollen verteilt. So rechne ich beispielsweise mit Leserinnen und Interpretinnen für die besprochenen Texte. Die entsprechenden Aussagen gelten selbstverständlich auch für jeweils andersgeschlechtige Personen, die ich für diese Rollen nicht besetzt habe.

Die Zahlenaffinen unter Ihnen, die sich nur für die Daten der Korpusstudie interessieren, denen der Vorlauf mit der Entwicklung der Hypothese aber zu basal oder zu lang ist und die sich nicht für die anthropologischen Implikationen interessieren, mögen folgende Abschnitte lesen: 1.6, 1.7, 2.8, 2.9, 3.4–3.8. Wem auch das noch zu viel ist und wer lediglich die Ergebnisse erfahren möchte, lese die Abschnitte 2.9, 3.7 und 3.8. Die Zahlenaversen unter Ihnen mögen das Buch von vorn nach hinten lesen und das lange Auswertungskapitel 2.8 bis auf Abschnitt 2.8.4 weglassen und auch auf Kapitel 3.4 verzichten. Wer meinen Erklärungsversuch für die Ergebnisse in den Kapiteln 2.9, 3.7 und 3.8 kennenlernen möchte, mit Grammatik aber sonst nicht so viel am Hut hat, nehme sich Kapitel 4 vor.

Das Buch führt zusammen, was der Sache nach zusammengehört, was ich aber bisher getrennt behandelt habe: die Sprachtheorie in Form meiner InstruktionsgrammatikInstruktionsgrammatik und die variationslinguistische Empirie. Anlass dieser Zusammenführung bot der LOEWE-Schwerpunkt „Fundierung linguistischer Basiskategorien“, der von 2012 bis 2015 an der Philipps-Universität Marburg beheimatet war und sich auf syntaktisch-semantischer Seite mit der Beziehung von Serialisierung, Morphologie und Belebtheit beschäftigte. Der empirische Teil der vorliegenden Arbeit ist aus diesem Projekt erwachsen. Mit dem theoretischen und anthropologischen Unterbau, der die ganze Sprache und den ganzen Menschen umfasst, befasse ich mich schon zehn Jahre länger. Empirischen Niederschlag hat das bereits im SyHD-Projekt gefunden, derzeit schlägt sich manches davon in der Syntaxerhebung im Projekt „Regionalsprache.de“ (REDE) nieder. Für die im LOEWE-Projekt geleisteten Vorarbeiten, von denen ich zehren konnte, danke ich herzlich Magnus Birkenes, Ina Bornkessel-Schlesewsky, Alexander Dröge, Max Düngen, Sophie Ellsäßer, Felix Esser, Jürg Fleischer, Giulia Grassi, Axel Harlos, Sara Hayden-Billion, Julia Hertel, Mícheál Hoyne, Greta Kaufeld, Paul-André Meÿer-Magis, Erich Poppe, Elisabeth Rabs, Elisabeth Rieken, Jürgen Erich Schmidt, Michael Waltisberg, Stefan Weninger, Alexander Werth und Paul Widmer. Darüber hinaus hat mir die Zusammenarbeit großen Spaß bereitet. Alle Datenbankklassifikationen stammen von mir, Vorarbeiten anderer habe ich vollständig überprüft und überarbeitet. Darum stehe ich selbstverständlich für alles Kritikwürdige gerade.

Für die Programmierung der Datenbank auf der REDE-Oberfläche danke ich Frank Nagel, bei allen weiteren technischen Angelegenheiten haben mir die REDE-Kollegen Dennis Bock, Robert Engsterhold, Slawomir Messner und Raphael Stroh geholfen.

Für Korrekturen am Manuskript danke ich Lars Bieker, Merle Gudjons, Robin Kropf und Lena Stutz.

Ich danke für inhaltliche Ratschläge und Anregungen Magnus Birkenes, Michael Cysouw, Jürg Fleischer, Damaris Nübling, Wolfgang Klein, Oliver Schallert, Jürgen Erich Schmidt, Augustin Speyer und Alexander Werth.

Für die fruchtbaren Diskussionen und ausführliches Feedback danke ich Vilmos Ágel, Christoph Purschke, Jürgen Erich Schmidt, Hanni Schnell und Alexander Werth.

Ich danke Valeska Lembke vom Narr Verlag für die professionelle und angenehme Zusammenarbeit.

Ich danke Jürgen Erich Schmidt für seine seit 2008 ununterbrochene Unterstützung und sein fortgesetztes Vertrauen in das, was ich tue.

Mein besonderer Dank gilt meiner Familie und meinen Freund_innen für alles, was dazugehört.

Simon Kasper

Marburg (Lahn), August 2020

Abkürzungsverzeichnis

Bei gleichen Abkürzungen erscheint diejenige in Großbuchstaben in Glossierungen, die jeweils andere außerhalb von Glossierungen.


1 1. Person
2 2. Person
3 3. Person
AKK / Akk Akkusativ
D Diathese
DAT / Dat Dativ
Def Definitheit
DET Determinierer
DO direktes Objekt
F / f Femininum
Finit Finitheit
G Genus
GEN / Gen Genitiv
IND / Ind Indikativ
INDEF Indefinitpronomen
IMP Imperativ
IO indirektes Objekt
K Kasus
KONJ Konjunktion
KONJ Konjunktiv
M / m Maskulinum
MD Modus
N [im Strukturschema] Numerus
N / n Neutrum
N Nomen
NOM / Nom Nominativ
O Objekt
P Person
PL / Pl Plural
POSS Possessivrelator
PPP Partizip Perfekt Passiv
PRÄS Präsens
PRÄT Präteritum
PRO Pronomen
PTZII Partizip II
REL Relativierer
TP Tempus
S Subjekt
SG / Sg Singular
SUBJ / Subj Subjunktiv
V (finites) Verb
X Satzglied

1 Einleitung: Verstehenverstehen als Leistung

Man könnte (und, wie ich denke, mit gutem Recht) behaupten, die Unfähigkeit, sich bei der Suche nach einer Sicherheit, wie sie Menschen möglich ist, auf das Handeln zu konzentrieren, sei ein Überbleibsel der Unfähigkeit der Menschen auf jenen Stufen der Zivilisation, auf denen sie erst wenige Mittel besaßen, um die Bedingungen zu regulieren und nutzbar zu machen, von denen das Eintreten der Folgen abhängt. Solange der Mensch unfähig war, mit Hilfe der Künste der Praxis den Lauf der Ereignisse zu lenken, war es für ihn natürlich, einen emotionalen Ersatz zu suchen; mangels wirklicher Gewißheit inmitten einer prekären und vom Zufall bestimmten Welt kultivierten die Menschen alle Arten von Dingen, die ihnen das Gefühl der Sicherheit gaben. Und es ist möglich, daß die Kultivierung des Gefühls, wenn sie nicht bis zu einem illusorischen Punkt getrieben wurde, dem Menschen Mut und Vertrauen gab und ihn befähigte, die Last des Lebens leichter zu ertragen.

(Dewey, Die Suche nach Gewißheit, S. 37)

1.1 Ein Alltagsphänomenmehrdeutigalltägliches Phänomen

Kurz nachdem Jesus von den römischen Soldaten ans Kreuz geschlagen worden war, traten seine Mutter Maria und der Lieblingsjünger Jesu vor das Kreuz. Im Bewusstsein, dass mit seinem Tod sowohl der Jünger als auch Maria den wichtigsten Menschen in ihrer beider Leben verlieren würden, erklärte Jesus, vom Kreuz herabsprechend, Maria und seinen Lieblingsjünger zu Mutter und Sohn. In Emil Webers hochalemannischerHochalemannisch BibelübertragungS Nöi Teschtamänt berichtet uns der Evangelist Johannes im anschließenden 27. Vers des 19. Kapitels Folgendes:


Eine Leserin, die die Bibel in ihrer eigenen Muttersprache lesen möchte und die Geschichte noch nicht in allen Details kennt, liest vielleicht einfach über diese Stelle hinweg und geht nun davon aus, dass Maria, Jesu Wunsch entsprechend, den Jünger bei sich aufgenommen hat. Möglicherweise wird sie überrascht sein, wenn diese Stelle in einem Gespräch mit einem Zürcher Zeitgenossen zur Sprache kommt und dieser den Glauben äußert, nicht Maria habe den Jünger, sondern umgekehrt der Jünger Maria zu sich genommen. Der Zeitgenosse mag seinerseits überrascht von der Annahme sein, dass es anders sein könnte. Wenn sie gemeinsam die entsprechende Stelle nachschlagen, um zu überprüfen, wie es nun tatsächlich erzählt wird, werden sie feststellen, dass es nicht entscheidbar ist: Das Pronomen si, mit dem hier auf Maria referiert wird, und die Form de Jünger können beide sowohl den Nominativ als auch den Akkusativ darstellen und beide kongruierenKongruenz in Person und Numerus mit dem Auxiliar hät. Da Satzsubjekte im zürichdeutschen HochalemannischenHochalemannisch im Nominativ stehen und mit dem finiten Verb kongruieren und da (direkte) Objekte von nèè ‚nehmen‘ im Akkusativ stehen, können hier beide Ausdrücke, morphologischMorphologie gesehen, sowohl als Subjekt als auch als Objekt fungieren. Auch sind die Funktionen der beiden Ausdrücke nicht über ihre Position im Satz unterscheidbar. Die Form der Äußerung gibt Leserinnen also keinen Aufschluss darüber, wer hier wen zu sich nahm. Plausibilitätserwägungen, also inhaltliche Erwägungen auf Basis durchschnittlichen Weltwissens, könnten ergeben, dass Maria durch ihre Mutterrolle legitimiert gewesen wäre, den Jünger, und der Jünger qua Gender, die Frau zu sich zu nehmen. Für hochalemannische Leserinnen ist dieser Satz also grammatisch mehrdeutigmehrdeutiggrammatisch und sie werden weder in diesem Satz noch in einem vorangehenden oder nachfolgenden Satz einen zuverlässigenzuverlässigzuverlässig HinweisHinweis darauf finden, wie er denn nun richtig zu interpretieren ist.

 

Äußerungen, die anders interpretierbar sind, als ein Sprecher oder Schreiber es beabsichtigt hat, sind schnell produziert und die Mehrdeutigkeit bleibt auch leicht unbemerkt, sowohl für den Urheber der Äußerung als auch für die Interpretierende, die sie verstehen möchte. (Wer hat beispielsweise bemerkt, dass der vorangehende Relativsatz der Form nach mehrdeutigmehrdeutig ist?) Dass sprachliche Äußerungen bisweilen mehrdeutig sind, gehört zu den Alltagsbeobachtungen der meisten Menschen. Dabei werden die Mehrdeutigkeiten sehr häufig aber deswegen gar nicht bemerkt, weil sie folgenlos bleiben. Sie können einerseits folgenlos bleiben, weil sie für die Lebenspraxis irrelevante Bedeutungsnuancen betreffen. Dass wir etwas falsch interpretiert haben, bemerken wir nur, wenn in der Folge der Interpretation etwas schiefgeht, was mit der Interpretation zu tun hat. Eine Interpretation aufgrund unsicherer Indizienlage ist eine bloße Annahme, auf deren Basis wir weiter handelnHandlung und die von unserer nichtsprachlichen Praxis oder kommunikativ von anderen Personen als falsch erwiesen werden kann, aber nicht muss. Die Annahme wird dann entweder modifiziert und eventuell als besser gesicherte Annahme beibehalten oder sie bleibt unverändert bestehen. Es ist gut möglich, dass unsere fiktive hochalemannische Leserin den Satz in Johannes 19, 27 falsch interpretiert hat, er aber nie wieder zur Sprache kommt und sie bis an ihr Lebensende davon ausgeht, dass Maria den Jünger zu sich genommen hat. Oder sie vergisst das Ganze.

Unbemerkte Mehrdeutigkeiten können andererseits auch deswegen folgenlos bleiben, weil sie trotz der formalen Mehrdeutigkeit richtig, das heißt im Sinne des Urhebers, interpretiert werden, wie im Falle des Relativsatzes oben.


Ob diese (kolportierte1) Schlagzeile in dem Bewusstsein formuliert wurde, dass sie mehrdeutig ist, und wie viele Leserinnen sie nur auf eine Art interpretiert haben, wissen wir nicht. Aber wer sich den Sportteil einer Zeitung vornimmt, geht mit bestimmten ErwartungenErwartung an die entsprechenden Schlagzeilen und Artikel. Wenn dort dann die Rede von einem Hole in One ist, wird dies sehr wahrscheinlich als sportliches Erfolgserlebnis beim Golf interpretiert – das Einlochen mit einem Schlag auf einem Loch, für das drei Schläge vorgesehen sind –, weil dies bereits im Erwartungshorizont der Leserin gelegen hat. Widmet man sich dagegen dem Gesellschaftsteil einer Zeitung und entdeckt die gleiche Schlagzeile dort, erwartet man eher, dass die Rede von Menschen ist, die andere Menschen zu deren Leidwesen mit Löchern versehen, und interpretiert die Schlagzeile entsprechend. Das Beispiel zeigt, dass Erwartungen, die leitend für die Interpretation einer Äußerung werden können, nicht nur durch die grammatischen Eigenschaften von Sprachen aufgebaut werden können, wie sie sich in konkreten Äußerungen und deren sprachlichem Begleittext zeigen, sondern auch von außerhalb der sprachlichen Struktur kommen können.

Je stärker sprachliche Äußerungen zur Erreichung praktischer (nichtsprachlicher oder sprachlicher) Zwecke eingesetzt werden, desto höher, so scheint es, ist die Wahrscheinlichkeit, dass falsche Interpretationen im Rückblick bemerkt werden. Nichtsprachliche HandlungenHandlung infolge von Kochrezepten, Bauanleitungen oder Wegbeschreibungen, die unmittelbare praktische Relevanz haben, sind gute Beispiele, um zu zeigen, wie Fehlinterpretationen, die aufgrund von Mehrdeutigkeiten entstanden sind, spürbare Folgen haben können und wie diese Folgen auf die Interpretation und die Äußerung zurückverweisen.