Der Mensch und seine Grammatik

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Es sind also solche Äußerungen, die bezüglich ihrer syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen mehrdeutigmehrdeutig sind, die ich in den alt- und mittelenglischen, alt- bis neuhochdeutschen, hochalemannischen und nordniederdeutschen Bibelübertragungen identifizieren muss. An ihnen möchte ich überprüfen, wie sie trotz morphologischer und syntaktischer Mehrdeutigkeit verstehbar sind. Daher war es wichtig, Kriterien herauszuarbeiten, an denen wir morphologischMorphologie und syntaktischReihenfolge mehrdeutige Äußerungen von eindeutigeneindeutig unterscheiden können. Ich werde später alle Äußerungen in meiner Textsammlung hinsichtlich ihrer morphologischen Ausprägungen klassifizieren und die relativen Positionen ihrer Elemente erfassen. Auf diese Weise werde ich für die allermeisten Äußerungen in der Lage sein, die eindeutigen von den mehrdeutigen zu unterscheiden. Aber nicht für alle.

2.3.2 Grenzphänomene: die bewegliche Grenze der Eigenstruktur

Ich möchte noch zwei Phänomene ansprechen, die in der späteren Untersuchung häufig auftreten werden und mit denen ich im Rahmen der DeutungsarbeitArbeit umgehen werden muss. Die Herausforderung bei diesen Phänomenen besteht darin, dass es – anders als etwa bei der grammatischen Morphologie – nicht klar ist oder es sich zwischen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en unterscheidet, ob die Interpretation durch die einzelsprachliche Eigenstruktur geregelt ist oder nicht. Die beiden Phänomene hängen eng miteinander zusammen.

Das erste der beiden Phänomene sind Pronomen. Wir haben an Personal- und Reflexivpronomen gesehen, dass sie zur Vorstellung von Gegenständen instruieren, dass eine Interpretin den Vorstellungsinhalt aber aus dem Ko(n)text holen muss. Wir schauen uns wieder einmal unsere Äußerung (4) an, Da nahm der Jünger die Mutter Jesu zu sich, denn wir sind noch immer nicht fertig mit ihr. Ich bin bei seinem syntaktisch mehrdeutigen hochalemannischenHochalemannisch Pendant … hät si de Jünger zue sich gnaa davon ausgegangen, dass der Vorstellungsinhalt von sich vom Jüngergegenstand bezogen wird, wenn de Jünger als Subjekt fungiert, aber vom Muttergegenstand, wenn si als Subjekt fungiert (s. Abbildung 7 und Abbildung 8). Es wäre also zu überlegen, ob der Partnerausdruck von sich etwas mit der Subjektfunktion zu tun hat. Wenn dem allgemein so wäre, könnten wir sagen, dass es eigenstrukturell geregelt ist, worauf sich sich bezieht, denn das Subjekt habe ich nur unter Bezugnahme auf eigenstrukturelle Einheiten charakterisiert. In der Äußerung in (4) sehen wir ebenfalls, dass die Interpretation, nach der unter sich der Jüngergegenstand vorgestellt wird, sehr nahe liegt. Man kann aber auch daran zweifeln, dass eine Interpretin dies so interpretieren muss. In Er nahm sie zu sich mag es noch schwer fallen, sich nicht auf das Subjekt, sondern auf das Objekt sie zu beziehen. Aber stellen wir uns vor, ‚sie‘ sei bewusstlos geworden und ‚er‘ unternehme einiges, um sie wieder zu Bewusstsein zu bringen. Sollen wir dann ausschließen, dass in Er brachte sie wieder zu sich das Reflexivpronomen auf das Objekt beziehen lässt? Ich denke, dass wir es nicht ausschließen sollten und dass dabei Faktoren beteiligt sind, die sich nicht unter der sprachlichen Eigenstruktur subsumieren lassen.1 Den eigenstrukturellen Regelungen lässt sich dagegen aber wohl zurechnen, dass sich der Partnerausdruck von sich nicht an einer beliebigen Stelle im Kotext finden lässt. Bei der Suche nach dem Partnerausdruck sollte die Interpretin außerhalb bestimmter Einheiten eines Textes nicht fündig werden. Im Falle von Reflexivpronomen ist diese Einheit der (Teil-)Satz, in dem es auftritt. Wie die Ausführungen oben gezeigt haben, ist der (Teil-)Satz maßgeblich von den Bestimmungen geprägt, die vom Finitheitsanteil des Verbs ausgehen. Jenseits dessen, was vom finiten Verb bestimmt wird, ist der Partnerausdruck von sich nicht zu finden.

Ähnliche Probleme ergeben sich bei Personalpronomen. Wir nehmen dafür diesmal ein altenglisches Beispiel.


Ich greife nun in den Wortlaut dieser Äußerung ein und tue so, als enthielte der Teilsatz, der durch and eingeleitet wird, noch ein Personalpronomen he (3SG.M.NOM), so dass wir and he hyne gebletsode bekommen. Die korrekte Interpretation bliebe dieselbe. Anders als beim Reflexivpronomen muss die Interpretin den Vorstellungsinhalt eines Personalpronomens oft von außerhalb des (Teil-)Satzes holen.2 In der obigen fingierten Äußerung finden wir nun (das fingierte) he und hyne. Den Vorstellungsinhalt zu beiden Pronomen muss die Interpretin aus dem Kotext holen. In Frage kommen Ausdrücke, die, wie diese Pronomen selbst, das Maskulinum und den Singular aufweisen. Da neben se hælend auch der Ausdruck für Brot, hlaf, im Altenglischen das Maskulinum aufweist, kommen sie beide jeweils als Partnerausdrücke zu he und hyne in Frage. Es wäre also für die fingierte Äußerung möglich, dass die Interpretin ‚und es (das Brot) segnete ihn (den Heiland)‘ interpretiert. Das AltenglischeAltenglisch weist außerdem kein eigenes Reflexivpronomen auf. Das Personalpronomen kann auch reflexiv verwendet und interpretiert werden. Insofern wäre es für die Interpretin auch möglich, and he hyne gebletsode als ‚und er segnete sich‘ beziehungsweise ‚und es segnete sich‘ zu interpretieren. Dass sie hier zugunsten der richtigen Interpretation von hyne den Vorstellungsinhalt von hlaf heranziehen muss, kann also prinzipiell nicht mehr auf die sprachliche Eigenstruktur zurückgeführt werden.

Ich habe die fingierte Äußerung verwendet, um das Pronomeninhaltsproblem einigermaßen getrennt von dem zweiten Phänomen behandeln zu können. Es handelt sich dabei meistens um koordinierte (Teil-)Sätze, in denen bestimmte Vorstellungsinhalte nicht ausgedrückt sind. Ich lasse nun das fingierte he wieder verschwinden und belasse die Äußerung in (10) in ihrer ursprünglichen Form. Was dadurch passiert, ist, dass wir nun tatsächlich wieder darüber diskutieren können, ob die Interpretin hyne auf hlaf nicht nur beziehen kann, sondern sogar muss. Dies hat aber nichts mit dem Gebrauch des Pronomens hyne zu tun, sondern mit der Abwesenheit eines Subjektausdrucks. In den bisher diskutierten Äußerungen konnten wir jeweils Ausdrücke finden, die dem Was?, dem Womit? und dem Welche Beziehung? aus der Vorstellung des Schreibers entsprachen. Die Interpretin konnte sozusagen imaginäre Linien zwischen den Ausdrücken in der Äußerung und ihren W-FragenW-Fragen ziehen. Ihr Know-howKnow-how über die eigenstrukturellen Mittel half ihr dabei – außer im Hochalemannischen – die Linien zu den richtigen Ausdrücken in der Äußerung zu ziehen. Nun haben es Interpretinnen, wenn sie sich nicht mehr nur Einzeläußerungen anschauen, kaum jemals mit Texten zu tun, in denen dies durchgängig möglich wäre, denn sie begegnen Äußerungen, mit denen die Schreiber zwar ein WasWas steht womit in welcher Beziehung? steht womit in welcher Beziehung? gemeint, aber nicht alles davon geäußert haben, so dass es auch nicht öffentlich und wahrnehmbar geworden ist. Dies ist in der Äußerung in (10) der Fall. Die Äußerung geht nach gebletsode wie folgt weiter.


Was steht in der gesamten Äußerung (10) womit in welcher Beziehung? Eine Interpretin versteht, dass Jesus Brot nahm, Jesus dann das Brot segnete, Jesus dann das Brot brach, Jesus dann das Brot den Jüngern gab und Jesus dann (zu den Jüngern) sagte, sie sollen (vom Brot) nehmen und sie sollen (vom Brot) essen. Die Vorstellung, die die Interpretin auf Basis der Äußerung konstruiert, ist also vorstellungsmäßig weitaus reicher, als sie sein könnte, wenn sie nur auf Basis des wahrnehmbar Ausgedrückten konstruiert wäre. Die Äußerung in (10) enthält nur ein Mal den Ausdruck se hælend, der entsprechende Gegenstand fungiert aber fünf Mal als AgensAgens, das heißt in jedem der fünf Konjunkte, die jeweils durch and verbunden sind. Die Vorstellung des Brotgegenstands wird einmal durch hlaf, einmal durch hyne und zwei Mal durch gar keinen Gegenstandausdruck evoziert, fungiert aber in den letzten beiden Fällen dennoch als PatiensPatiens, also als Gebrochenes und Gegebenes. Woher weiß die Interpretin das? Gehört dieses Know-howKnow-how zur sprachlichen Eigenstruktur? Wir können dies als Inhalt-ohne-Ausdruck-Problem bezeichnen.

Sicher nicht zur sprachlichen Eigenstruktur gehört, dass die Interpretin sich bei niman ‚nehmen‘ einen Nehmer und ein Genommenes vorstellen muss, bei gebletsian ‚segnen‘ Segner und Gesegnetes, bei brecan ‚brechen‘ Brecher und Gebrochenes, bei sellan ‚geben‘ Geber, Gegebenes und RezipientRezipient (semantische Rolle) sowie bei cweđan ‚sagen, sprechen‘ Sprecher und Gesprochenes. Schon eher zur Eigenstruktur der Sprache gehört, dass bei etan ‚essen‘ im Nebensatz, der durch þa eingeleitet ist, das Gegessene auch ohne Ko(n)textinformation unausgedrückt bleiben kann, während bei den anderen Verben das Patiens (und der Rezipient) bei fehlender Ko(n)textinformation ausgedrückt werden müssen. Nicht ausgedrückte, aber in der Interpretation enthaltene Elemente sind dann deshalb in der Interpretation als Vorstellung enthalten, weil sie aus dem Ko(n)text geholt werden können (und müssen), um die ergänzungsbedürftige Vorstellung zu ergänzen. Darin, dass sie aus dem Ko(n)text geholt werden müssen, sind diese Non-Ausdrücke Pronomen ganz ähnlich. Ich werde die unausgedrückten Informationen behelfsweise mit Nullstellen sichtbar machen. Die Position der Nullstelle ist dabei zunächst nicht von Belang. Wichtig ist, dass erkennbar ist, welches Verb sie jeweils ergänzt.

 

Unausgedrücktes, aber Vorgestelltes kann nun trivialerweise keine eigenstrukturellen Hinweise geben, wie es se hælend, hlaf und hyne tun: weder eine WortkategorieWortart, noch eine morphologischeMorphologie Form, noch (fürs Erste) eine relative Position. Auf Basis irgendwelcher Kriterien muss die Interpretin aber zur richtigen Interpretation gelangen, denn diese Äußerung ist verständlich. Eine Möglichkeit für die Interpretin wäre, anzunehmen, dass jede unausgedrückte Vorstellung, wenn sie ausgedrückt wäre, die eigenstrukturellen Spezifikationen hätte, die ihr Partnerausdruck im Kotext aufweist, von dem sie die Gegenstandsvorstellung bezieht. [] and Ø hyne gebletsode ist das zweite Konjunkt und weist eine Nullstelle auf. Die Interpretin müsste nun den Partnerausdruck der Nullstelle im Kotext suchen, seine eigenstrukturellen Spezifikationen nehmen und die Nullstelle so interpretieren, als stünde dort ein Ausdruck mit denselben Spezifikationen. Wir gehen nun davon aus, die Interpretin habe wenigstens schon das Pronomeninhaltsproblem gelöst und wüsste, dass mit hyne das Brot (hlaf) gemeint ist: ‚… und segnete es‘. Der Ausdruck für Brot, hlaf, ist im vorangegangenen (Teil-)Satz se hælend nam hlaf das Objekt. Das kann die Interpretin nicht aus seinen KasusspezifikationenKasus, sondern nur per Ausschlussverfahren ermitteln, weil se hælend schon den Nominativ trägt, den nam für eins seiner Satzglieder bestimmt. Hyne muss also das Objekt zu gebletsode sein. Die Nullstelle wäre also durch ein Subjekt besetzt, wenn dort eins stünde. Weil hlaf dafür nicht in Frage kommt, wäre se hælend der Kandidat der Wahl. Die Nullstelle und hyne hätten also die gleichen morphologischenMorphologie Spezifikationen wie ihre Partnerausdrücke se hælend und hlaf und damit auch die gleichen syntaktischen Funktionen, Subjekt beziehungsweise (direktes) Objekt. Und so geht es ja offensichtlich auch weiter in der Äußerung: Se hælend kann für die Nullstellen bei bræc, sealde und cwæđ eingesetzt werden und würde als imaginäres Subjekt dieser Verben fungieren. Und hlaf kann für das Gesegnete, Gebrochene und Gegebene eingesetzt werden und in den entsprechenden Teilsätzen als imaginäres Objekt fungieren. Sprachlich ausgedrückt ist das Brot durch hlaf im ersten Konjunkt, durch hyne im zweiten und gar nicht mehr ausgedrückt ist es im dritten und vierten Konjunkt. Dort würde es mit seinen Objektspezifikationen aber hineinpassen. Im fünften Konjunkt mit cwæđ würde es das aber nicht mehr, da es dort keine Nullstelle mehr für ein imaginäres Objekt gibt, sondern ein Objekt in Form einer direkten Rede bereits vorhanden ist. Die InterpretationsroutineRoutine, Routinisierung, den Nullstellen imaginär die gleichen eigenstrukturellen Spezifikationen wie ihren kotextuellen Partnerausdrücken zu verpassen, um ergänzungsbedürftige Vorstellungen zu ergänzen, würde also zum Interpretationserfolg führen.

Im Zusammenhang der Pronomen und der Nullstellen möchte ich nun zwei Aspekte unterscheiden. Der erste, das Pronomeninhaltsproblem, betrifft den konkreten Vorstellungsinhalt, den eine Interpretin aus dem Ko(n)text holen muss, um sie zu interpretieren. Der zweite betrifft die Identifikation der syntaktischen Funktion der imaginär gefüllten Nullstelle.

Pronomen und Nullstellen in koordinierten Teilsätzen sind sich sehr ähnlich darin, dass sie auf fremde Vorstellungsinhalte angewiesen sind. Es scheint aber ein Unterschied in dem Grad zu bestehen, zu dem das fingierte Pronomen he und die Nullstelle die Interpretin darauf verpflichten, einen bestimmten Vorstellungsinhalt und keinen anderen aus dem Kotext zu holen. Wir haben gesehen, dass (mein fingiertes) and he hyne gebletsode auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann: ‚und der Heiland segnete das Brot‘, ‚und der Heiland segnete sich‘, ‚und das Brot segnete den Heiland‘, ‚und das Brot segnete sich‘. Fehlt he dagegen, ist zumindest zweifelhaft, ob and hyne gebletsode anders interpretiert werden kann als mit dem Heiland in der imaginären Subjektfunktion. Die Frage ist also, ob eine Nullstelle in einem koordinierten Teilsatz ihren Vorstellungsinhalt auch von einer anderen syntaktischen Funktion beziehen kann, als sie ihr Partnerausdruck im entsprechenden vollständigen Teilsatz einnimmt – etwas, das mit Pronomen problemlos möglich ist. Nach allem, was ich weiß, geht das, die Fälle scheinen aber auf die älteren Sprachstufen beschränkt zu sein. Ich gebe ein altenglisches und ein frühneuhochdeutsches Beispiel von Luther selbst.



In dem altenglischen (westsächsischen) Beispiel bezieht die Nullstelle mit der imaginären Subjektfunktion den Vorstellungsinhalt vom Präpositionalobjekt from eallum und in dem frühneuhochdeutschen Beispiel vom Akkusativobjekt den Herrn. Aus diesen und analogen Beobachtungen können wir schließen, dass zumindest in den älteren Sprachstufen die Frage, woher eine Interpretin den Vorstellungsinhalt für eine Nullstelle bezieht, nicht durch die Eigenstruktur der jeweiligen Sprach(stuf)eSprach(stuf)e geregelt ist. Im NeuhochdeutschenNeuhochdeutsch und den modernenHochalemannisch DialektenNordniederdeutsch könnte dies allerdings anders sein.3 Sie weisen bei Matthäus 18, 27 auch modernere Strukturen auf, die mindestens darauf hinweisen, dass solche Strukturen nicht mehr selbstverständlich waren.ZürichdeutschHochalemannisch4 Das Subjekt des zweiten Teilsatzes fehlt in den jungen Übersetzungen nur dann, wenn die entsprechende Gegenstandsvorstellung im ersten Teilsatz bereits als Subjekt fungiert, und das Subjekt scheint im zweiten Teilsatz realisiert werden zu müssen, wenn die entsprechende Gegenstandsvorstellung im ersten Teilsatz nicht bereits Subjekt gewesen ist.

Wichtig ist auch, dass die Frage, woher der Vorstellungsinhalt für ein Pronomen oder eine Nullstelle bezogen wird, keinen Einfluss auf die Mehrdeutigkeitenmehrdeutig hat, die syntaktische Funktionen oder semantische Rollen betreffen: Die Nullstellen bei gebletsode in der Äußerung in (10) sowie die Nullstellen in (11) und (12) sind jeweils das imaginäre Subjekt, im Aktivsatz das AgensAgens und im Passivsatz das PatiensPatiens, unabhängig davon, welchen Vorstellungsinhalt eine Interpretin dafür heranholt.5

Das ist anders beim zweiten Aspekt des Problems. Er betrifft die imaginäre syntaktische Funktion der Nullstelle. In and hyne gebletsode in der Äußerung in (10) und in den späteren Teilsätzen in den Äußerungen (11) und (12) können wir sagen, dass die Eigenstruktur der Sprache erzwingt, dass die Nullstellen als Subjekte interpretiert werden: Die Vorstellung der Eventualität erfordert eine Gegenstandsvorstellung und das finite Verb bestimmt für den imaginären Gegenstandsausdruck Subjektspezifikationen.

Es gibt aber auch den viel selteneren Fall, dass eine Nullstelle nicht als Subjekt interpretiert werden kann, sondern als Objekt interpretiert werden muss, wie in der folgenden Äußerung.


Viel seltener ist dieser Fall deshalb, weil es – zumindest im Deutschen und Englischen – viel seltener vorkommt, dass das Subjekt ausgedrückt ist und das Objekt nicht, zumal in einem Imperativsatz. Hier unterscheiden sich die Eigenstrukturen der einzelnen Sprach(stuf)en aber erneut, nämlich darin, unter welchen Umständen ein Objekt in koordinierten Sätzen unausgedrückt bleiben kann. In der neuhochdeutschenNeuhochdeutsch Standardsprache und in den modernenHochalemannisch DialektenNordniederdeutsch wäre eine Äußerung, die analog zu der in (13) gebaut ist, kaum zu erwarten. Die entsprechenden Übertragungen ins Neuhochdeutsche und Hochalemannische enthalten denn auch ein Objekt.6



Dagegen hatte der mittelenglischeMittelenglisch Schreiber offenbar die Wahl, das Objekt entweder auszudrücken oder nicht. In den jüngeren Sprach(stuf)en geht das nur, wenn das Subjekt ebenfalls nicht ausgedrückt wird, oder wenn das Objekt im ersten Konjunkt fehlt, aber im zweiten steht – Der Eine mag (Ø) und der Andere hasst Fischsuppe –, oder wenn der Vorstellungsinhalt des Objektes das besonders hervorgehobene Thema in allen Konjunkten ist. Dieser letztere Fall wäre daran erkennbar, dass es am linken Satzrand stünde: Fischsuppe mag der Eine und (Ø) hasst der Andere. Eine Interpretin kann Der Eine und der Andere hier als Subjekte und die Nullstelle entsprechend als imaginäres Objekt interpretieren. Dagegen wirkt Der Eine mag Fischsuppe und der Andere hasst (Ø). unvollständig. Im zweiten Konjunkt fehlt ein Ausdruck für die Fischsuppe. Was hier also im Standarddeutschen nur unter spezifischen Bedingungen möglich ist, die positionell charakterisiert werden müssen, ist in den älteren Sprach(stuf)eSprach(stuf)en nicht eigenstrukturell geregelt.

In den bisher betrachteten Fällen konnte eine Interpretin eine Nullstelle entweder imaginär mit der syntaktischen Funktion ihres Partnerausdrucks oder, wo das durch die Eigenstruktur ausgeschlossen war, mit der imaginären Subjektfunktion füllen. Diese Strategie wird ihr bei dem folgenden Beispiel womöglich Probleme bereiten.


Das Problem besteht für die Interpretin darin, dass bereits im ersten Teilsatz – Do reck een … de Hand ut – die KasusKasus- und KongruenzformenKongruenz nicht zuverlässigHinweiszuverlässig instruieren. Es ist aufgrund der sprachlichen Eigenstruktur nicht klar, ob een … oder de Hand das Subjekt ist. Im zweiten Teilsatz – un trock sin Swert – ist sin Swert ebenfalls morphologisch mehrdeutig. Für mich besteht das Problem darin, dass ich beurteilen muss, ob die Entscheidung der Interpretin, wie sie im ersten Teilsatz die syntaktischen Funktionen identifiziert, Einfluss darauf hat, wie sie sie im zweiten identifizieren kann.

Wenn wir annehmen, een … sei das Subjekt und der Partnerausdruck der Nullstelle, kann oder muss dann die Nullstelle auch als imaginäres Subjekt identifiziert werden? Oder kann die Nullstelle auch als imaginäres Objekt identifiziert werden: ‚Da streckte einer die Hand aus und (ihn) zog sein Schwert‘? Im NeuhochdeutschenNeuhochdeutsch, in dem Einer nicht offen für beide syntaktische Funktionen ist, erscheint die Objektlesart für die Nullstelle unmöglich. Sie erschiene auch dann noch unmöglich, wenn es Einen hieße und dieser Ausdruck das Objekt wäre. Wenn es überhaupt gehen soll, so scheint es, wäre eine Mindestanforderung, dass der Partnerausdruck der Nullstelle morphologisch mehrdeutig zwischen Subjekt- und Objektkasus ist. Es gibt historische Belege, in denen Schreiber den Interpretinnen einen solchen Wechsel der syntaktischen Funktion tatsächlich abfordern.


It ‚es‘ muss hier als Subjekt des ersten Teilsatzes und als imaginäres Objekt des zweiten Teilsatzes identifiziert werden. Die Bedingung dafür scheint zu sein, dass die Form it morphologisch mehrdeutig und damit offen für eine Subjekt- und eine Objektauffassung ist.

Sollen wir daraus schließen, dass die sprachliche Eigenstruktur in den deutschen und englischen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en unter diesen Bedingungen nicht regelt, was als Subjekt oder Objekt zu identifizieren ist, und dass die entsprechenden Äußerungen syntaktisch mehrdeutig sind? Meines Erachtens spricht der verschiedenartige Umgang der Sprach(stuf)en mit imaginären Nullobjekten dagegen, hier alle Sprach(stuf)en gleich zu behandeln. Die Möglichkeit imaginärer Nullobjekte ist aber neben der relativ freien Reihenfolge zwischen Subjekten und Objekten (und Verben) eine Voraussetzung dafür, dass auch Äußerungen wie die in (17) möglich sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Interpretinnen in der neuhochdeutschen Standardsprache und den modernenHochalemannisch DialektenNordniederdeutsch die Nullstelle in (16) als imaginäres Subjekt interpretieren müssen, und zwar unabhängig davon, wie sie die syntaktischen Funktionen im ersten Konjunkt identifizieren. Um die Nullstelle als imaginäres Objekt identifizieren zu können, steht der Partnerausdruck een …, der ebenfalls Objekt sein muss, nicht weit genug am linken Satzrand. Hieße es Een … (OBJ) reck de Hand (S) und trock sin Swert (S), wäre es ihnen vielleicht möglich. Anders in den älteren Sprach(stuf)en. Dort könnte eine Nullstelle wie in der Äußerung in (16) wahrscheinlicher als imaginäres Objekt fungieren, wieder unabhängig davon, wie die syntaktischen Funktionen im morphologisch mehrdeutigen ersten Konjunkt identifiziert werden.7

 

Nun ist entscheidbar, wie ich im Rahmen der DeutungsarbeitArbeit an den neutestamentlichen Texten mit diesen beweglichen Grenzen der Eigenstruktur umgehen werde. Die Vorstellungsinhalte, die für die Interpretation von Pronomen gesucht werden müssen, sind nur bezüglich der textlichen Domäne eigenstrukturell geregelt, in der die Interpretinnen sie suchen können. Innerhalb dieser Domänen ist nicht mehr hinreichend eigenstrukturell geregelt, welchen Vorstellungsinhalt sie heranziehen müssen, um zu der richtigen Interpretation zu gelangen. Wenn die pronomenhaltigen (Teil-)Sätze morphologisch oder syntaktisch eindeutigeindeutiggrammatisch sind, spielt der konkrete herangeholte Vorstellunginhalt ohnehin keine Rolle für die Identifikation der syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen.

Bei den Nullstellen in koordinierten Äußerungen gehe ich davon aus, dass die Interpretation der Nullstelle als imaginäres Subjekt des Teilsatzes in allen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en verpflichtend ist, wenn in diesem Teilsatz ein Subjekt nicht bereits ausgedrückt ist, aber vom Verb eines erfordert wird und kein anderes Satzglied als Subjekt in Frage kommt. Diese Bedingungen sind in den Beispielen (10) – im Teilsatz mit gebletsode – und in (11), (12), (14) und (15) erfüllt. Ebenfalls für alle Sprach(stuf)en gilt, dass die Nullstelle als imaginäres Objekt interpretiert werden muss, wenn eines erfordert wird und wenn bereits ein Subjekt vorhanden ist, wie in den Beispielen in (13) und (17), wo ȝe beziehungsweise regintheoƀos schon die Subjekte sein müssen. In den jüngeren Sprach(stuf)en kann eine Nullstelle in einem koordinierten Teilsatz aber nur dann als imaginäres Objekt interpretiert werden, wenn sein ausgedrücktes Pendant im anderen Konjunkt hervorgehoben am linken Satzrand steht oder wenn das Subjekt auch fehlt. Die Konjunkte müssen also hinsichtlich der relativen Positionen der Elemente und hinsichtlich der KasusKasus und der syntaktischen Funktionen parallel strukturiert sein. Damit können Äußerungen, die wie (16) organisiert sind, nur in älteren Sprach(stuf)en mit einem imaginären Nullobjekt interpretiert werden!8 Die Bedingungen, unter denen ein Objekt unausgedrückt bleiben kann, können für die älteren Sprach(stuf)eSprach(stuf)en also nicht ausschließlich mittels eigenstruktureller Kategorien formuliert werden. Zudem fehlt ihnen die eigenstrukturelle Regelung, dass die Konjunkte positionell und morphologisch parallel strukturiert sein müssen. Das bedeutet nun aber, dass im Grunde die morphologischeMorphologie und syntaktischeReihenfolge Organisation des Partnerteilsatzes gar keine Rolle mehr dafür spielt, mit welchen imaginären eigenstrukturellen Spezifikationen die Nullstelle besetzt wird. Der Partnerteilsatz kann morphologisch oder syntaktisch ausgeprägt sein, wie er will; wenn der Teilsatz mit der Nullstelle morphologisch mehrdeutigmehrdeutigmorphologisch ist, genügt das, damit die Objektlesart für die Nullstelle nicht mehr auszuschließen ist. Das folgende Beispiel illustriert dies.


Das erste Konjunkt ist morphologisch und syntaktisch eindeutig, das zweite ist morphologisch mehrdeutig. Allein der letztere Befund reicht dafür aus, dass eine Interpretin die Nullstelle – inti Ø garauuitun ostrun – als Subjekt oder Objekt interpretieren kann.

Das wiederum bedeutet nun aber auch, dass es nicht einmal eine Rolle spielt, ob der (Teil-)Satz mit Nullstelle ein koordinierter ist. Die Konsequenz ist: Immer, wenn eine Äußerung in einer älteren Sprachstufe morphologisch mehrdeutig ist und eine Nullstelle erschlossen werden muss, spricht nichts Eigenstrukturelles gegen eine imaginäre Objektlesart der Nullstelle. Das Subjekt kann insbesondere im AlthochdeutschenAlthochdeutsch unausgedrückt bleiben.10