Read the book: «Kristin Lavranstochter», page 4

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III

Im Frühjahr nach Kristins langer Reise brachte Ragnfrid eine Tochter zur Welt. Beide Eltern hatten sich wohl einen Sohn gewünscht, aber sie trösteten sich rasch und liebten die kleine Ulvhild bald von ganzem Herzen. Ulvhild war ein sehr schönes Kind, zutraulich, freundlich, fröhlich und still. Ragnhild liebte ihre neue Tochter so sehr, dass sie sie auch im zweiten Jahr noch stillte; deshalb verzichtete sie auf Sira Eiriks Rat hin auf einige ihre strengen Fasten- und Frömmigkeitsübungen, so lange sie das Kind an der Brust hatte. Dadurch und weil sie sich so über Ulvhild freute, blühte sie auf, und Lavrans glaubte, seine Gattin in den vielen Jahren ihrer Ehe niemals so froh und schön und umgänglich erlebt zu haben.

Auch Kristin merkte, dass die zarte kleine Schwester großes Glück mitgebracht hatte. Sie hatte sich nie Gedanken über die Schwermut der Mutter gemacht, sie hatte gedacht, es müsse so sein, dass die Mutter sie züchtigte und zurechtwies, während der Vater mit ihr spielte und scherzte. Jetzt ging die Mutter viel sanfter mit ihr um und ließ ihr größere Freiheit, liebkoste sie auch häufiger, und Kristin fiel es gar nicht auf, dass die Mutter nun weniger Zeit für sie hatte. Auch Kristin liebte Ulvhild und freute sich, wenn sie die Schwester wiegen und tragen durfte, und später, als die Kleine anfing, zu kriechen und zu laufen und zu sprechen, hatte Kristin noch viel mehr Freude an ihr.

Auf diese Weise vergingen drei gute Jahre für die Menschen auf dem Jørundhof. Auch in anderer Hinsicht war das Glück ihnen hold, und Lavrans nahm auf dem Hof allerlei neue Bauten und Verbesserungen vor, denn Wohnhäuser und Ställe waren alt und eng gewesen, als er auf den Hof gekommen war – die Gjeslinge hatten alles über mehrere Generationen hinweg vernachlässigt.

Doch dann kam der Pfingstsonntag des dritten Jahres; Trond Ivarssohn auf Sundbu war mit seiner Frau Gudrid und seinen drei kleinen Söhnen zu Besuch. Am Morgen waren die Erwachsenen auf dem Söller ins Gespräch vertieft, während die Kinder unten auf dem Hofplatz spielten. Dort baute Lavrans ein neues Wohnhaus, und die Kinder krochen zwischen den Gerüstbalken herum. Einer der kleinen Gjeslinge hatte Ulvhild geschlagen, und nun weinte sie. Trond lief nach unten und stellte seinen Sohn zur Rede, dann nahm er Ulvhild auf den Arm. Sie war das schönste und liebste Kind, das man sich überhaupt vorstellen konnte, und ihr Onkel schwärmte geradezu für sie, auch wenn er sonst nicht besonders kinderlieb war.

In diesem Moment kam von den Ställen her ein Mann über den Hofplatz und zog einen großen, schwarzen Stier hinter sich her, der Stier aber war wütend und ungebärdig und riss sich von dem Mann los. Trond sprang auf die Balken, jagte die größeren Kinder vor sich her und hatte Ulvhild auf dem Arm und seinen jüngsten Sohn an der Hand. Ein Balken rutschte unter seinen Füßen weg, Ulvhild fiel zu Boden, der Balken rollte hinterher und blieb über dem Rücken des Kindes liegen.

Lavrans war sofort unten, er stürzte hinüber und wollte den Balken aufheben, aber nun kam der Stier auf ihn zu. Lavrans griff nach dessen Hörnern, wurde jedoch umgeworfen. Er bekam die Nasenlöcher des Tieres zu fassen, kam halbwegs auf die Beine und konnte den Stier abwehren, bis Trond sich aus seiner Verwirrung gelöst hatte und die Hofknechte herbeigeeilt waren und den Stier mit Lederriemen fesseln konnten.

Ragnfrid lag auf den Knien und versuchte, den Balken anzuheben, und nun stemmte Lavrans ihn so weit hoch, dass Ragnfrid das Kind auf ihren Schoß ziehen konnte. Die Kleine jammerte schrecklich, wenn sie berührt wurde, doch die Mutter rief schluchzend: »Sie lebt, Gott sei Dank, sie lebt …«

Es war ein großes Wunder, dass Ulvhild von dem Balken nicht zerschmettert worden war, doch der war mit dem einen Ende auf einen Stein gefallen. Als Lavrans sich wieder aufrichtete, sickerte Blut aus seinen Mundwinkeln, und seine Kleider waren auf seiner Brust von den Stierhörnern zerfetzt worden.

Tordis kam mit einer Felldecke angelaufen. Behutsam hoben sie und Ragnfrid das Kind darauf, aber Ulvhild schien entsetzliche Schmerzen zu leiden, wenn sie sie auch nur vorsichtig berührten. Die beiden Frauen trugen sie in die Winterstube.

Kristin stand weiß und starr oben auf den Balken; die kleinen Jungen klammerten sich weinend an sie. Alle Hofbewohner waren jetzt auf dem Hofplatz zusammengeströmt, die Frauen weinten und jammerten. Lavrans dagegen befahl, Gullsvein und ein weiteres Pferd zu satteln. Als jedoch Arne die Pferde brachte, brach Lavrans bei dem Versuch, in den Sattel zu steigen, zusammen. Deshalb schickte er Arne los, um den Priester zu holen, während Halvdan sich auf den Weg zu einer heilkundigen Frau machte, die bei der Flussmündung wohnte.

Kristin sah, dass ihr Vater grauweiß im Gesicht war und dass er so stark geblutet hatte, dass sein hellblaues Gewand von rotbraunen Flecken geradezu übersät war. Plötzlich richtete er sich auf, entriss einem der Männer eine Axt und lief zu der Stelle, wo noch immer einige Hofleute standen und den Stier festhielten. Er schlug dem Tier die Axt zwischen die Hörner, und der Stier sank in die Knie, aber Lavrans hieb immer weiter auf ihn ein, bis Blut und Gehirnmasse aufstoben. Dann musste er so furchtbar husten, dass er rücklings auf den Boden sank. Trond und ein weiterer Mann trugen ihn ins Haus.

Kristin hielt ihren Vater für tot, sie schrie laut auf und rannte hinterher, und mit bangem Herzen rief sie nach ihm.

Ulvhild war inzwischen in der Winterstube in das Bett der Eltern gelegt worden; sie hatten alle Kissen auf den Boden geworfen, damit das Kind flach liegen konnte. Es sah aus, als liege die Kleine bereits auf dem Leichenstroh, aber sie jammerte laut und ohne Pause, und die Mutter hatte sich tief über sie gebeugt, sie betete und streichelte ihr Kind, außer sich vor Verzweiflung, weil sie Ulvhild nicht helfen konnte.

Lavrans hatte auf dem anderen Bett gelegen; nun erhob er sich und ging mit schwankenden Schritten zu seiner Frau, um sie zu trösten. Sie aber fuhr hoch und schrie:

»Fass mich nicht an, fass mich nicht an! Jesus, Jesus, ich hätte es verdient, von dir erschlagen zu werden – es nimmt doch gar kein Ende, das Unglück, das ich über dich bringe …«

»Das du über mich bringst … aber liebe Frau, das hier hast du doch nicht über uns gebracht«, sagte Lavrans und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ragnhild zitterte bei dieser Berührung, und ihre hellgrauen Augen schimmerten in dem mageren, bräunlichen Gesicht.

»Sie meint sicher, dass ich daran schuld bin«, sagte Trond Ivarssohn düster. Seine Schwester starrte ihn hasserfüllt an und erwiderte:

»Trond weiß, was ich meine.«

Kristin lief zu ihren Eltern, aber die schoben sie weg. Und Tordis, die einen Kessel voller heißem Wasser brachte, fasste sie an der Schulter und sagte: »Geh in unsere Stube, Kristin, hier bist du nur im Weg.«

Tordis wollte sich um Lavrans kümmern, der sich auf den Bettrand gesetzt hatte, doch er sagte, bei ihm eile es nicht so.

»Aber wenn ihr Ulvhilds Qualen ein wenig lindern könnt – Gott helfe uns, sie jammert doch zum Steinerweichen!«

»Wir wagen nicht, sie anzufassen, solange der Priester und Ingegjerd noch nicht gekommen sind«, erwiderte Tordis.

Gleich darauf kam Arne herein und teilte mit, dass Sira Eirik nicht zu Hause gewesen sei. Ragnfrid rang verzweifelt die Hände. Dann sagte sie:

»Schickt jemanden zu Frau Åshild auf Haugen. Jetzt ist alles egal, wenn nur Ulvhild gerettet werden kann …«

Niemand achtete auf Kristin. Die verkroch sich auf der Bank hinter dem Kopfende des Bettes, zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie. Sie fühlte sich, als ob harte Hände ihr Herz zusammenpressten. Frau Åshild sollte geholt werden! Ihre Mutter hatte Frau Åshild nicht holen wollen, als sie selbst bei Ulvhilds Geburt mit dem Tod gerungen hatte, und auch nicht, als Kristin am Fieber erkrankt war. Frau Åshild war als Zauberin verschrien – der Bischof und das Domkapitel in Oslo hatten über sie zu Gericht gesessen, und sie wäre enthauptet oder verbrannt worden, wenn sie nicht von so hoher Geburt und für Königin Ingebjørg fast eine Schwester gewesen wäre – aber es hieß, sie habe ihren ersten Mann vergiftet und den, den sie jetzt hatte, Herrn Bjørn, durch Hexerei gewonnen. Er hätte ihr Sohn sein können, so jung war er. Sie hatte auch Kinder, aber die besuchten ihre Mutter niemals, und diese beiden vornehmen Menschen, Bjørn und Åshild, saßen auf einem Einödhof in Dovre und hatten ihren gesamten Reichtum verloren. Die reichen Bauern im Tal wollten nichts mit ihnen zu tun haben, insgeheim aber suchten viele ihren Rat, ja, die Armen gingen mit ihren Sorgen und Plagen ganz offen zu ihr; sie behaupteten, Frau Åshild sei gütig, doch sie hatten auch Angst vor ihr.

Kristin dachte, dass ihre Mutter, die sonst so viel betete, doch lieber jetzt Gott und die Jungfrau Maria anrufen sollte. Sie versuchte selbst, zu beten – vor allem zu Sankt Olav, denn sie wusste, dass er so gut war und so vielen half, die an Krankheiten und Knochenbrüchen litten. Aber sie konnte ihre Gedanken nicht beieinander halten.

Ihre Eltern waren allein im Zimmer. Lavrans hatte sich wieder auf das Bett gelegt, und Ragnfrid beugte sich über das kranke Kind, wischte ihr ab und zu mit einem nassen Tuch Stirn und Hände ab und feuchtete ihr die Lippen mit Wein an. Viel Zeit verging. Tordis schaute ab und zu herein und wollte gern helfen, aber jedes Mal wurde sie von Ragnfrid weggeschickt. Kristin weinte lautlos und betete in Gedanken, zwischendurch jedoch dachte sie immer wieder an die Zauberin und wartete gespannt auf ihr Kommen.

Plötzlich fragte Ragnhild in die Stille hinein:

»Schläfst du, Lavrans?«

»Nein«, erwiderte der Mann. »Ich lausche auf Ulvhild. Gott wird seinem unschuldigen Lamm helfen, liebe Frau – daran dürfen wir nicht zweifeln. Aber es fällt mir doch schwer, hier zu liegen und zu warten …«

»Gott«, sagte Ragnhild, »hasst mich wegen meiner Sünden. Meinen Kindern geht es gut, dort, wo sie sind, daran wage ich nicht zu zweifeln, und jetzt ist wohl Ulvhilds Stunde gekommen – aber mich hat er verworfen, denn mein Herz ist ein Schlangennest aus Sünde und Trauer.«

Nun wurde die Tür geöffnet – Sira Eirik trat ein, richtete seinen umfangreichen Leib gerade auf und rief mit seiner klaren, tiefen Stimme: »Gott helfe euch allen hier!«

Der Priester stellte seinen Schrein mit den Arzneimitteln vor das Bett, ging zur Feuerstätte und goss sich heißes Wasser über die Hände. Dann holte er unter seinem Gewand ein Kreuz hervor, wies damit auf alle vier Ecken der Stube und murmelte etwas auf Latein. Darauf öffnete er die Rauchluke im Dach, damit das Licht hereinströmen konnte, trat ans Bett und musterte Ulvhild.

Kristin hatte Angst, er könnte sie entdecken und wegjagen – sonst entging nicht viel Sira Eiriks Augen. Aber er schaute sich nicht um. Er nahm eine Flasche aus seinem Schrein, goss daraus ein paar Tropfen auf einen Strang feingekratzter Wolle und legte den über Ulvhilds Mund und Nase.

»Jetzt wird sie bald weniger leiden«, sagte der Priester. Er ging zu Lavrans und kümmerte sich um dessen Wunden, und dabei ließ er sich das Unglück beschreiben. Lavrans hatte sich zwei Rippen gebrochen, und er hatte Risse in der Lunge, der Priester hielt das alles jedoch nicht für gefährlich.

»Aber Ulvhild?«, fragte der Vater ängstlich.

»Das werde ich dir sagen, wenn ich sie untersucht habe«, erwiderte der Priester. »Aber du solltest dich auf den Dachboden legen, dann hätten die, die sich um Ulvhild kümmern sollen, hier unten mehr Ruhe und Platz.« Er legte sich Lavrans’ Arm um die Schulter, fasste den Mann um die Hüfte und führte ihn hinaus. Kristin wäre am liebsten hinter ihrem Vater hergelaufen, doch sie traute sich nicht aus ihrem Versteck heraus.

Als Sira Eirik zurückkam, sagte er kein Wort zu Ragnfrid, sondern schnitt Ulvhild, die jetzt weniger jammerte und halb zu schlafen schien, die Kleider vom Leib. Behutsam tastete er mit seinen Händen Leib und Glieder des Kindes ab.

»Steht es so schlimm um mein Kind, Eirik, dass du dir keinen Rat weißt, da du nichts sagst?«, fragte Ragnfrid mit gedämpfter Stimme.

Der Priester antworte leise:

»Ihr Rücken scheint schwer verletzt zu sein, Ragnfrid. Ich weiß keinen anderen Rat, als alles Gott und Sankt Olav zu überlassen; ich kann hier nicht viel ausrichten.«

»Dann müssen wir beten«, gab die Mutter heftig zurück. »Du weißt doch sicher, dass Lavrans und ich alles geben würden, worum du bittest, und dass wir nichts unversucht lassen würden, wenn du Gott dazu bringen könntest, Ulvhild am Leben zu erhalten.«

»Es würde mir als Wunder erscheinen«, sagte der Priester, »wenn sie am Leben bliebe und wieder gesund würde.«

»Aber du erzählst uns doch immer wieder von Wundern – glaubst du denn nicht, dass auch an meinem Kind ein Wunder geschehen kann?«, fragte Ragnfrid so heftig wie zuvor.

»Es kommt vor«, erwiderte der Priester, »dass Wunder geschehen, aber Gott erhört nicht alle Gebete – sein Ratschluss ist uns verborgen. Und meinst du nicht, es wäre schlimmer, wenn dieses schöne kleine Mädchen entstellt oder lahm aufwachsen müsste?«

Ragnfrid schüttelte verzweifelt den Kopf und rief:

»Ich habe so viele verloren, Priester, sie darf ich nicht auch noch verlieren!«

»Ich werde tun, was ich kann«, entgegnete der Priester, »und aus aller Kraft beten. Aber du musst versuchen, Ragnfrid, das Schicksal zu tragen, das Gott dir auferlegt.«

»Keins von meinen Kindern habe ich so geliebt wie diese Kleine hier«, jammerte die Mutter. »Wenn sie mir nun auch noch genommen wird, wird glaube ich mein Herz brechen.«

»Gott helfe dir, Ragnfrid Ivarstochter«, sagte Sira Eirik und schüttelte den Kopf. »Du willst Gott durch Fasten und Gebete deinen Willen aufzwingen. Und da fragst du noch, warum das so wenig geholfen hat?«

Ragnfrid sah den Priester trotzig an und erklärte:

»Ich habe einen Boten zu Frau Åshild geschickt.«

»Ja, du kennst sie, ich kenne sie nicht«, gab der Priester zurück.

»Ich kann ohne Ulvhild nicht leben«, sagte Ragnfrid, noch immer trotzig. »Wenn Gott ihr nicht helfen will, dann suche ich Rat bei Frau Åshild oder schließe einen Pakt mit dem Teufel, wenn der helfen will.«

Der Priester schien eine scharfe Antwort geben zu wollen, doch dann riss er sich zusammen. Er bückte sich und befühlte noch einmal die Glieder des kranken kleinen Mädchens.

»Ihre Hände und Füße sind kalt«, sagte er. »Wir müssen Krüge mit heißem Wasser zu ihr legen – und dann dürft ihr sie nicht mehr berühren, bis Frau Åshild gekommen ist.«

Kristin ließ sich lautlos auf die Bank gleiten und stellte sich schlafend. Ihr Herz hämmerte entsetzlich – sie hatte nicht viel von dem verstanden, was Sira Eirik und ihre Mutter gesagt hatten, aber es hatte ihr furchtbare Angst gemacht, und sie wusste sehr wohl, dass nichts davon für ihre Ohren bestimmt gewesen war.

Die Mutter stand auf, um die Krüge mit dem heißen Wasser zu holen, doch dann brach sie schluchzend zusammen: »Bitte trotzdem für uns, Sira Eirik.«

Kurz darauf kehrte die Mutter mit Tordis zurück. Der Priester und die Frauen kümmerten sich nun um Ulvhild, und dabei wurde Kristin entdeckt und hinausgeschickt.

Das Kind wurde vom Licht geblendet, als es auf den Hofplatz trat. Kristin hatte gedacht, der Tag wäre schon fast vergangen, während sie in der dunklen Winterstube gesessen hatte, doch die Häuser leuchteten hellgrau in der weißen Mittagssonne, und das Gras glänzte wie Seide. Hinter dem goldenen Gitter aus Erlenkätzchen glitzerte der Fluss – er füllte die Luft mit seinem munteren, einförmigen Rauschen, denn hier beim Jørundhof strömte er durch ein flaches, felsiges Bett. Die Felswände ragten in einen hellblauen Dunst hinauf, und die Bäche stürzten durch schmelzenden Schnee bergab. Der liebliche, kraftvolle Frühling ließ Kristin vor Kummer über die Hilflosigkeit weinen, die sie überall um sich herum wahrnahm.

Kein Mensch war auf dem Hofplatz zu sehen, aber aus der Gesindestube hörte sie Stimmen. Die Stelle, wo ihr Vater den Stier getötet hatte, war mit frischem Torfmull bedeckt worden. Sie wusste nicht, wohin – und deshalb verkroch sie sich hinter der Wand des neuen Hauses, die schon zwei Bretter hoch aufragte. Dahinter lagen ihre und Ulvhilds Spielsachen, sie versteckte alles in einem Loch zwischen dem unteren Brett und der Grundmauer. In letzter Zeit hatte Ulvhild immer ihre Spielsachen haben wollen, Kristin hatte das manchmal sehr verärgert. Nun dachte sie, wenn ihre Schwester nur gesund würde, würde sie ihr alles geben, was sie nur hatte. Und dieser Gedanke tröstete sie ein wenig.

Sie dachte an den Mönch in Hamar – er war so sicher gewesen, dass alle Menschen Wunder erleben konnten. Aber Sira Eirik schien das nicht so recht zu glauben, und ihre Eltern auch nicht – und auf die hörte sie ja eigentlich sonst immer. Es hatte sie furchtbar bedrückt, als sie zum ersten Mal begriffen hatte, dass die Menschen über so viele Dinge unterschiedlicher Ansicht sein konnten – nicht nur böse Menschen ohne Gottesfurcht und gute Menschen, sondern auch solche wie Bruder Edvin und Sira Eirik – oder ihre Eltern; sie spürte, dass auch Vater und Mutter über vieles ganz verschieden dachten.

Spät an diesem Tag fand Tordis die schlafende Kristin dort im Winkel und nahm sie mit sich ins Haus; das Kind hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. In dieser Nacht wachte Tordis mit Ragnfrid über Ulvhild, während Kristin in ihrem Bett schlief, zusammen mit Jon, Tordis’ Mann, und den beiden kleinen Söhnen Eivind und Orm. Der Geruch ihrer Körper, das Schnarchen des Mannes und der gleichmäßige Atem der Jungen brachten Kristin dazu, lautlos zu weinen. Erst gestern war sie, wie an jedem Abend ihres Lebens, mit ihrem Vater und ihrer Mutter und der kleinen Ulvhild schlafen gegangen – es kam ihr vor, wie an ein Nest zu denken, das zerbrochen und zerrissen war, und sie selbst war ausgestoßen vom Schutz und den Flügeln, die sich immer wärmend um sie geschlossen hatten. Am Ende weinte sie sich in den Schlaf, einsam und unglücklich zwischen den fremden Menschen.

Am nächsten Morgen erfuhr sie, dass der Onkel mit seinem Gefolge den Hof verlassen hatte – im Zorn; Trond hatte seine Schwester als boshaftes und wahnsinniges Frauenzimmer und seinen Schwager als Schwächling und Narren bezeichnet, dem es noch nie gelungen sei, seine Frau in ihre Schranken zu weisen. Kristin wurde es heiß vor Zorn, aber sie schämte sich auch – sie wusste genau, dass es ein grober Verstoß gegen alle guten Sitten war, dass ihre Mutter ihre engsten Verwandten vom Hof vertrieben hatte. Und zum ersten Mal kam ihr eine Ahnung, dass bei ihrer Mutter nicht alles so war, wie es sei sollte – dass sie anders war als andere Frauen.

Während sie über all das nachdachte, kam eine Magd und sagte, sie solle zu ihrem Vater auf den Dachboden gehen. Doch dort oben vergaß Kristin, nach ihrem Vater Ausschau zu halten, denn der offenen Tür gegenüber saß so, dass ihr das Licht ins Gesicht fiel, eine Frau, bei der es sich doch um die Zauberin handeln musste. Obwohl Kristin sich eine Zauberin ganz anders vorgestellt hatte. Die Frau kam ihr klein und schmächtig vor wie ein Kind, denn sie saß in dem großen Lehnstuhl, der für sie nach oben getragen worden war. Vor ihr stand auch ein Tisch mit der schönsten Spitzendecke der Mutter. In einer silbernen Schüssel gab es Speck und Geflügel, ein Gefäß aus geflammtem Birkenholz enthielt Wein, und die Frau durfte aus dem Silberbecher des Vaters trinken. Sie hatte ihre Mahlzeit nun beendet und wischte ihre schmalen, kleinen Hände an einem der besten Handtücher der Mutter ab. Ragnfrid selbst stand vor ihr und hielt ihr ein Messingbecken voller Wasser hin.

Frau Åshild ließ das Handtuch auf ihren Schoß sinken, lächelte dem Kind zu und sagte mit klarer, wohlklingender Stimme:

»Komm ruhig her zu mir! Schöne Kinder hast du, Ragnfrid.«

Sie hatte ein von unzähligen Falten durchzogenes Gesicht, aber ihre Haut war so weiß und rosenrot wie die eines Kindes, und sie würde sich sicher auch ebenso weich anfühlen. Ihr Mund war rot und frisch wie der einer jungen Frau, und ihre großen, gelblichen Augen leuchteten. Ein vornehmes weißes Leinentuch umschloss ihr Gesicht ganz eng und war unter dem Kinn mit einer Goldschnalle befestigt; über dem Tuch trug sie einen Schleier aus weicher, dunkelblauer Wolle, der ihr bis auf die Schultern des dunklen, gutsitzenden Kleides hinunterfiel. Sie hielt sich kerzengerade, und Kristin war sicher, ohne dass sie es bewusst gedacht hätte, dass sie noch nie eine so schöne und vornehme Frau gesehen hatte wie diese alte Zauberin, mit der die reichen Leute aus der Gegend nichts zu tun haben wollten.

Frau Åshild nahm Kristins Hand in ihre alte weiche und sprach freundlich und neckend mit ihr, aber Kristin brachte kein Wort heraus. Da fragte Frau Åshild mit einem kurzen Lachen:

»Hast du vielleicht Angst vor mir?«

»Nein, nein«, wehrte Kristin viel zu laut ab. Frau Åshild lachte und sagte zur Mutter:

»Deine Tochter hat kluge Augen und gute, starke Hände, ich sehe schon, auch sie ist keine Freundin der Faulheit. Du wirst jetzt Hilfe bei Ulvhilds Pflege brauchen, wenn ich nicht hier bin. Deshalb solltest du zulassen, dass Kristin mir zur Hand geht, solange ich auf dem Hof bleibe – dazu ist sie doch sicher alt genug, elf Jahre?«

Mit diesen Worten verließ Frau Åshild den Raum, und Kristin wollte hinterherlaufen, aber Lavrans, der auf dem Bett lag, rief nach ihr. Er lag flach auf dem Rücken, und die Kopfkissen waren ihm unter die hochgezogenen Knie gestopft worden. Frau Åshild hatte es so angeordnet, dann würden die Verletzungen in seiner Brust schneller verheilen.

»Dann seid Ihr wohl bald wieder gesund, Vater?«, fragte Kristin. Lavrans sah sie an – nie zuvor hatte ihn das Kind mit Ihr angeredet. Mit ernster Miene antwortete er:

»Bei mir ist es nicht so gefährlich, schlimmer steht es um deine Schwester.«

»Ja«, sagte Kristin und seufzte.

Sie blieb eine Weile vor dem Bett stehen. Der Vater schwieg, und Kristin wusste nicht, was sie sagen sollte. Und als Lavrans sie nach einer Weile zur Mutter und zu Frau Åshild nach unten schickte, lief Kristin hinaus und rannte über den Hofplatz zur Winterstube.