Read the book: «Kristin Lavranstochter», page 2

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Isrid und Arne rissen Heidekraut und Zwergbirken aus dem Boden und warfen sie ins Feuer; es zischte, wenn das Feuer das frische Grün von den Zweigen fraß und kleine weiße Rußflocken zum klaren Himmel hochstoben. Kristin saß daneben und sah zu. Sie fand, dass das Feuer froh aussah, weil es hier draußen unbehindert spielen durfte. Es war ganz anders, wenn es zu Hause in der Feuerstätte eingesperrt war und sich damit abmühen musste, für die Menschen das Essen zu kochen und die Wohnstube zu beleuchten.

Sie lehnte sich an den Vater und legte ihm einen Arm über die Knie, er gab ihr von all den guten Dingen so viel, wie sie wollte, ließ sie nach Herzenslust Bier trinken und zwischendurch den Met kosten.

»Sie wird sich noch so betrinken, dass sie nicht mit auf die Alm gehen kann«, sagte Halvdan und lachte, doch Lavrans streichelte ihre runden Wangen.

»Aber dann sind hier genug Leute, die sie tragen können – ihr tut das nur gut – trink du auch, Arne, ihr müsst doch noch wachsen, also genießt Gottes Gaben ohne Zögern. Bier gibt süßes, rotes Blut und guten Schlaf, ohne Wahnsinn und Unverstand zu erwecken …«

Die Männer tranken nun ebenfalls eifrig; auch Isrid ließ sich nicht lange bitten, und bald verschwammen die Stimmen der Erwachsenen und das Knattern und Zischen des Feuers in Kristins Ohren zu einem fernen Lärm – ihr wurde der Kopf schwer. Sie nahm noch wahr, dass die anderen Lavrans ausfragten und hören wollten, was er auf seinen Jagdzügen an wunderlichen Dingen erlebt hatte. Aber er mochte nicht viel erzählen, und Kristin fühlte sich so wohl und geborgen – und außerdem war sie so satt.

Der Vater hielt ein Gerstenbrot in der Hand, er knetete mit den Fingern Stücke davon, bis sie aussahen wie Pferde; aus der Kruste formte er winzige Sättel, die er quer über die Gerstenpferde legte, die er dann über seine Oberschenkel in Kristins Mund hineinreiten ließ. Doch bald war sie so müde, dass sie weder den Mund aufsperren noch kauen konnte – und dann sank sie zu Boden und war eingeschlafen.

Als sie aufwachte, lag sie warm und dunkel im Arm des Vaters – er hatte sie beide in seinen Umhang gewickelt. Kristin setzte sich auf, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und band ihre Mütze ab, damit die Luft ihre feuchten Haare trocknen könnte.

Es war wohl schon spät am Tag, denn das Sonnenlicht war ziemlich golden, und die Schatten waren lang geworden und streckten sich nach Südosten. Kein Windhauch rührte sich mehr, und Mücken und Fliegen umsummten und umsurrten die schlafenden Menschen. Kristin blieb mäuschenstill sitzen, kratzte sich ihre von den Mücken zerstochenen Hände und schaute sich um – die Anhöhe über ihnen leuchtete im Sonnenschein weiß vom Moos und gelb von Flechten, und das Rüstwerk aus verwitterten Baumstämmen ragte in den Himmel wie das Gerippe eines seltsamen Tieres.

Ihr wurde jetzt ganz unheimlich zumute – es war so seltsam, die anderen alle bei helllichtem Tage schlafen zu sehen. Wenn sie nachts aufwachte, lag sie immer warm und dunkel neben der Mutter auf der einen und der an den Dachbalken befestigten Decke auf der anderen Seite. Dann wusste sie, dass die Stube über Nacht mit Schloss und Riegel abgesperrt war, und sie hörte die Schlafgeräusche der anderen, die zwischen Fellen und Kissen geborgen in tiefem Schlaf lagen. Aber all diese Gestalten hier, die da verzerrt und verkrümmt um den kleinen schwarzweißen Aschenhaufen herum auf dem Boden schliefen, hätten ja auch tot sein können – einige lagen auf dem Bauch und andere auf dem Rücken, mit hochgezogenen Knien, und die Geräusche, die von diesen Gestalten ausgingen, machten ihr Angst. Ihr Vater schnarchte laut, während Halvdan den Atem pfeifend und heulend durch die Nase einzog. Arne lag auf der Seite, das Gesicht am Arm versteckt und die glänzenden, hellbraunen Haare ausgebreitet im Heidekraut; er lag so still da, dass Kristin wirklich fürchtete, er könne tot sein. Sie musste sich vorbeugen und ihn anstupsen – und nun bewegte er sich ein wenig im Schlaf.

Kristin fragte sich plötzlich, ob sie vielleicht eine Nacht überschlafen hatten und das hier nun der nächste Tag sei – und darüber erschrak sie so sehr, dass sie den Vater rüttelte, doch der grunzte nur und schlief weiter. Kristin selbst hatte noch immer einen schweren Kopf, aber sie wagte nicht, sich hinzulegen und weiter zu schlafen. Deshalb kroch sie zur Feuerstelle und stocherte mit einem Stöckchen darin herum – tief unten schwelte es noch ein wenig. Sie legte Heidekraut und kleine Zweige, die sie um sich herum von den Bäumen riss, auf das Feuer, aber sie traute sich nicht, den Ring aus Schlafenden zu verlassen, um sich große Äste zu holen.

Plötzlich hörte sie von der nahe gelegenen Wiese her ein Dröhnen – Kristins Herz tat einen Sprung, und ihr wurde kalt vor Angst. Dann sah sie etwas Rotes zwischen den Bäumen, und Gullsvein brach zwischen den kleinen Birken hervor, blieb stehen und sah sie aus seinen klaren, hellen Augen an. Sie war so froh, dass sie aufsprang und auf den Hengst zurannte. Hinter Gullsvein sah sie dann auch das braune Pferd, auf dem Arne geritten war, und das Saumtier. Nun fühlte sie sich wohl und geborgen; sie ging hinüber und streichelte allen dreien die Flanken, und Gullsvein senkte den Kopf so tief, dass sie seine Wangen liebkosen und seine gelbweiße Mähne zausen konnte, während er mit seinem weichen Maul an ihren Händen schnupperte.

Die Pferde fraßen sich langsam den mit Birken bestandenen Hang hinab, und Kristin ging mit ihnen, denn sie rechnete mit keiner Gefahr, wenn sie in Gullsveins Nähe wäre – der war schon früher mit Bären fertiggeworden. Und hier wuchsen die Blaubeeren so dicht, und das Kind hatte solchen Durst und einen so scheußlichen Geschmack im Mund; auf Bier hätte sie jetzt keine Lust gehabt, aber die süßen, saftigen Beeren schmeckten ihr so gut wie Wein. In einer Geröllhalde sah sie auch Himbeeren – da fasste sie nach Gullsveins Mähne und sagte, er solle brav mit ihr kommen, und der Hengst ging gehorsam neben dem kleinen Mädchen her. Sie wanderte immer weiter den Hang hinab, und er kam mit, wenn sie ihn rief, und die beiden anderen Pferde trotteten hinter her.

Irgendwo in der Nähe hörte sie einen Bach glucksen und plätschern; sie folgte dem Geräusch nach, bis sie den Bach gefunden hatte, dann legte sie sich auf eine breite Steinplatte und wusch sich ihr schweißnasses, von Mücken zerstochenes Gesicht und die Hände. Unter einem Felsvorsprung bildete das Wasser einen stillen, schwarzen Kolk; ihr gegenüber ragte eine Felswand mit einigen kleinen Birken und Weidengestrüpp auf – es war ein wunderbarer Spiegel, und Kristin beugte sich vor und sah sich selbst im Wasser, denn sie wollte wissen, ob Isrid recht hatte und sie ihrem Vater ähnlich sah. Sie lächelte und nickte und beugte sich vor, bis ihre Haare die blonden Haare um das runde, großäugige Kindergesicht streiften, das sie im Bach sah.

Um sie herum wuchsen zahllose der schönen, hellroten Blütendolden, die Baldrian genannt wurden – die hier am Gebirgsbach waren viel schöner und röter als die zu Hause am Fluss. Kristin fing an zu pflücken und mit Grashalmen zu binden, bis sie einen wunderschönen, dichten, hellroten Kranz fertig hatte. Den drückte sich das Kind auf die Haare und lief dann zum Kolk, um sich anzusehen, jetzt, wo sie geschmückt war wie eine junge Frau, die zum Tanz geht.

Sie beugte sich über das Wasser und sah ihr eigenes dunkles Bild vom Boden her aufsteigen und klarer werden, als es auf sie zukam – und nun bemerkte sie im Spiegel des Baches, dass zwischen den Birken auf dem anderen Ufer ein Mensch stand und sich ihr entgegen neigte. Kristin richtete sich auf den Knien auf und schaute hinüber. Zuerst glaubte sie, nur die Felswand und die Bäume zu sehen, die sich an deren Fuß anklammerten. Aber plötzlich tauchte zwischen den Blättern ein Gesicht auf – dort stand eine Dame mit weißem Gesicht und üppiger, flachsgelber Mähne – die großen, hellgrauen Augen und die geblähten, blassroten Nasenlöcher erinnerten an die von Gullsvein. Die Dame trug ein funkelndes, laubgrünes Gewand, und Zweige und Blätter verdeckten ihren Körper bis hoch zu den breiten Brüsten, auf denen Spangen und glitzernde Ketten prangten.

Kristin starrte die Erscheinung an – nun hob die Dame eine Hand, zeigte ihr einen Kranz aus gelben Blüten und winkte damit. Hinter sich hörte Kristin Gullsvein laut und angstvoll wiehern – sie schaute sich um – der Hengst bäumte sich auf, schrie, dass es von der Felswand widerhallte, warf sich herum und sprengte den Hang hinauf, wobei die Erde nur so dröhnte. Die anderen Pferde liefen hinterher – sie jagten in die Geröllhalde, und Steine prasselten nach unten, Zweige und Wurzeln wurden gebrochen und knackten.

Nun schrie Kristin aus Leibeskräften. »Vater«, schrie sie, »Vater!« Sie sprang auf, rannte den Pferden hinterher und wagte nicht, sich umzublicken, sie kletterte durch die Geröllhalde, trat auf ihren Rocksaum, rutschte ein Stück weit abwärts, kletterte wieder hoch und hielt sich mit blutenden Händen fest, kroch auf wunden, zerschrammten Knien, rief nach Gullsvein, wenn sie nicht nach dem Vater schrie – und ihr brach am ganzen Leib der Schweiß aus, und ihr Herz hämmerte, als ob es aus ihrem Brustkorb ausbrechen wollte; das verängstigte Weinen schnürte ihr die Kehle zusammen.

»Ach Vater, ach Vater!«

Schließlich hörte sie irgendwo über sich seine Stimme. Sie sah, wie er in langen Sprüngen die Geröllhalde herabgerannt kam – die helle, sonnenweiße Geröllhalde; die kleinen Birken und Espen standen bewegungslos da und ließen kleine Silbertropfen auf ihren Blättern glitzern – der Hang war so still und so hell, aber der Vater kam heruntergerannt und rief ihren Namen, und Kristin sank in sich zusammen und wusste, dass sie gerettet war.

»Sancta Maria!« Lavrans fiel neben seiner Tochter auf die Knie und zog sie an sich – er war bleich und hatte den Mund so seltsam verzogen, und das machte Kristin noch größere Angst; erst in seinem Gesicht schien sie zu sehen, in welch großer Gefahr sie geschwebt hatte.

»Kind, Kind«, er hob ihre blutenden Hände hoch, sah sie an, sah den Kranz auf ihren bloßen Haaren und berührte ihn. »Was ist das – woher kommt das, Kristin, meine Kleine …«

»Ich bin mit Gullsvein hingegangen«, schluchzte sie an seiner Brust. »Ich hatte solche Angst, weil ihr alle geschlafen habt, aber dann kam Gullsvein – und dann hat mir da unten im Fluss jemand zugewinkt, und …«

»Wer hat gewinkt – war das ein Mann?«

»Nein, das war eine Dame – sie hat mit einem Kranz aus Gold gewinkt – ich glaube, es war die Zwergenkönigin, Vater.«

»Jesus Christus«, sagte Lavrans langsam und schlug über dem Kind und sich selbst ein Kreuz.

Er half ihr beim Klettern, bis sie eine Wiese erreicht hatten, dann hob er sie hoch. Sie hing an seinem Hals und weinte verzweifelt – konnte nicht aufhören, so sehr er auch versuchte, sie zu beruhigen.

Nach einiger Zeit stießen sie auf die Männer und Isrid. Isrid schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie hörte, was geschehen war:

»Ja, das war bestimmt die Zwergenkönigin – sie wollte dieses schöne Kind in den Berg locken, das ist doch klar.«

»Sei still«, gebot Lavrans ihr mit barscher Stimme. »Wir dürften über diese Dinge nicht so reden, wie wir es hier im Wald getan haben; man weiß doch nicht, wer unter den Steinen sitzt und jedes Wort hört.«

Er zog die goldene Kette unter seinem Hemd hervor und hängte sie und das Reliquienkreuz Kristin um den Hals, schob sie auf die nackte Brust des Kindes.

»Aber ihr alle«, sagte er dann, »müsst jetzt eure Zunge hüten, denn Ragnfrid darf niemals erfahren, dass das Kind in einer solchen Gefahr geschwebt hat.«

Sie fingen die Pferde ein, die in den Wald gelaufen waren, und gingen dann zur Koppel bei der Almhütte, wo die restlichen Pferde standen. Alle saßen auf, und sie ritten zur Alm des Jørundhofes; es war jetzt nicht mehr weit. Die Sonne ging gerade unter, als sie dort ankamen; das Vieh stand schon im Pferch, und Tordis und die Hirten hatten mit dem Melken begonnen. In der Almhütte stand die fertiggekochte Grütze, denn die Almleute hatten die Gäste früher an diesem Tag oben beim Holzhaufen gesehen und sie schon erwartet. Erst jetzt hörte Kristin auf zu weinen. Sie saß auf dem Schoß ihres Vaters und ließ sich von ihm mit Grütze und Sauerrahm füttern.

Am nächsten Tag wollte Lavrans zu einem tiefer im Gebirge gelegenen See reiten, wo einige seiner eigenen Senner die Stiere hingetrieben hatten. Eigentlich hätte Kristin ihn begleiten sollen, nun aber wollte er sie in der Almhütte lassen: »Und ihr passt auf sie auf, Tordis und Isrid, haltet die Tür verschlossen und legt den Riegel vor, bis wir wieder da sind, für Kristin und das kleine Ungetaufte dort in der Wiege.«

Tordis ängstigte sich jetzt so sehr, dass sie nicht länger mit ihrem kleinen Kind hier oben bleiben wollte. Zu allem Überfluss war sie auch noch nicht ausgesegnet worden; am liebsten wäre sie sofort ins Dorf gegangen. Lavrans sagte, er könne sie verstehen, sie könne am nächsten Abend mit ihm und seinen Leuten hinabreiten, er könne sicher eine ältere Witwe, die auf Jørundhof in Diensten stand, an ihrer Stelle hinaufschicken.

Tordis hatte süßes, frisches Berggras unter die Felle auf der Bank gelegt; es duftete so wunderbar und würzig, und Kristin wäre fast eingeschlafen, während der Vater für sie das Vaterunser und das Gegrüßet seist du Maria betete.

»Ja, so bald nehme ich dich nicht wieder mit ins Gebirge«, sagte Lavrans und streichelte ihre Wange.

Kristin fuhr aus dem Halbschlaf auf:

»Vater, darf ich dann auch im Herbst nicht mit dir in den Süden reisen? Das hast du doch versprochen.«

»Das werden wir noch sehen«, sagte Lavrans, und gleich darauf lag Kristin in süßem Schlummer zwischen den Schaffellen.

II

Jeden Sommer ritt Lavrans Bjørgulfssohn in den Süden, um nach seinem Hof in Follo zu sehen. Diese Reisen ihres Vaters waren wie Jahresringe in Kristins Leben – die langsamen Wochen, in denen er abwesend war, und die gewaltige Freude, wenn er mit schönen Geschenken nach Hause kam; mit ausländischen Stoffen für ihre Brauttruhe, mit Feigen, Rosinen und Honigbrot aus Oslo – und mit vielen seltsamen Dingen, die er zu erzählen hatte.

Aber in diesem Jahr begriff Kristin, dass etwas an der Reise des Vaters anders war als sonst. Sein Aufbruch wurde wieder und wieder verschoben, die Alten vom Loptshof kamen oft zu Besuch, saßen mit Kristins Eltern zusammen und sprachen über Erbteilung und Familienbesitz und Ablöserecht und die Schwierigkeit, von hier aus einen so weit entfernt liegenden Hof zu betreiben, und über den Bischofssitz und den Königshof in Oslo, die von den Bauernhöfen der Umgebung so viel Arbeitskraft einforderten. Die Eltern hatten fast keine Zeit, mit ihr zu spielen, und sie wurde zu den Mägden ins Kochhaus geschickt. Ihr Onkel, Trond Ivarssohn auf Sundbu, tauchte häufiger bei ihnen auf als sonst – aber er hatte sich nie besonders um Kristin gekümmert.

Nach und nach konnte sie sich eine Vorstellung davon machen, worum es ging. Ihr Vater hatte, seit er nach Sil gekommen war, versucht, im Dorf möglichst viel Landbesitz an sich zu bringen, und nun hatte der Ritter Andres Gudmundssohn vorgeschlagen, den Hof Formo, den Herr Andres von seiner Mutter geerbt hatte, gegen Skog einzutauschen, das für ihn günstiger gelegen war, da er der königlichen Schutzgarde angehörte und deshalb nur selten ins Tal kam. Lavrans wollte sich nur ungern von seinem Erbhof Skog trennen – dieser Hof war als Geschenk des Königs in seine Sippe gekommen; andererseits wäre der Tausch für ihn in vieler Hinsicht von großem Vorteil. Aber auch Lavrans’ Bruder, Åsmund Bjørgulfssohn, hatte Interesse an Skog – er wohnte jetzt in Hadeland, hatte dort auf einen Hof eingeheiratet, und es war nicht sicher, ob er auf sein Erbrecht verzichten würde.

Eines Tages sagte Lavrans zu Ragnfrid, in diesem Jahr wolle er Kristin nach Skog mitnehmen – sie sollte doch den Hof sehen, auf dem sie geboren war und auf dem seine Eltern gelebt hatten, falls sie ihn nun doch veräußerten. Ragnfrid konnte diesen Wunsch verstehen, auch wenn es ihr etwas Angst machte, ein so kleines Kind auf eine so weite Reise zu schicken und es selbst nicht begleiten zu können.

In der ersten Zeit, nachdem Kristin der Zwergenkönigin begegnet war, war sie so verängstigt gewesen, dass sie lieber bei der Mutter im Haus geblieben war – sie hatte sich schon gefürchtet, wenn sie nur einen der Männer gesehen hatte, die an jenem Tag im Gebirge dabei gewesen waren und wussten, was sie erlebt hatte. Sie war sehr froh darüber gewesen, dass der Vater verboten hatte, dieses Erlebnis zu erwähnen. Aber nach einiger Zeit hatte sie eigentlich doch Lust, darüber zu sprechen. In Gedanken erzählte sie es jemanden – sie wusste nicht, wem –, und das Seltsame war, je mehr Zeit verging, desto deutlicher glaubte sie, sich daran zu erinnern, und desto klarer wurde auch die Erinnerung an die schöne Dame. Das Allerseltsamste war jedoch, dass sie immer, wenn sie an die Zwergenkönigin gedacht hatte, ganz besonders große Sehnsucht nach der Reise nach Skog bekam, und immer größer wurde ihre Angst, dass der Vater sie doch nicht mitnehmen würde.

Schließlich erwachte sie eines Morgens auf dem Dachboden des Vorratshaues und sah, dass die alte Gunhild und die Mutter auf der Türschwelle saßen und Lavrans’ Bündel mit Eichhörnchenfellen durchsahen. Gunhild war eine Witwe, die von Hof zu Hof ging und Fellfutter für Umhänge und andere Kleidungsstücke nähte. Kristin konnte dem Gespräch der beiden entnehmen, dass jetzt sie einen neuen Umhang bekommen sollte, der mit Eichhörnchenfell gefüttert und mit Marderfell besetzt war. Da wusste sie, dass sie den Vater begleiten durfte, und mit einem Freudenschrei sprang sie aus dem Bett. Die Mutter kam zu ihr und streichelte ihr über die Haare und die Wange:

»Freust du dich denn so sehr darüber, meine Tochter, dass du so weit von mir fortreisen wirst?«

An dem Morgen, an dem sie aufbrachen, fragte Ragnfrid das noch einmal. Sie waren in aller Frühe aufgestanden, draußen war es noch dunkel, und dichter Nebel hing zwischen den Häusern, als Kristin aus der Tür lugte und sehen wollte, wie das Wetter war – der Nebel wogte wie Rauch um die Fackeln und vor den offenen Türen. Das Gesinde eilte zwischen Ställen und Vorratshäusern hin und her, und die Frauen brachten dampfende Grützkessel und Schüsseln voller gekochtem Fleisch und Speck – sie sollten sich ordentlich stärken, ehe sie in die morgendliche Kälte hinausritten. Im Haus wurden die ledernen Reisesäcke noch einmal aufgeschnallt und mit Dingen gefüllt, die fast vergessen worden wären. Ragnfrid erinnerte ihren Mann an alles, was er für sie erledigen sollte, und erwähnte Freunde und Verwandte, die entlang der Reiseroute wohnten – er solle diesen grüßen und nicht vergessen, sich nach jener zu erkundigen. Kristin lief aus und ein, verabschiedete sich viele Male von allen im Haus und konnte einfach nirgendwo stillstehen.

»Freust du dich denn, Kristin, mich jetzt für so lange Zeit zu verlassen?«, fragte die Mutter. Kristin wurde traurig und mutlos und wünschte, sie hätte das nicht gefragt. Aber sie gab die beste Antwort, die ihr einfiel:

»Nein, liebe Mutter, aber ich freue mich, weil ich meinen Vater begleiten darf.«

»Ja, das kann ich mir denken«, sagte Ragnfrid und seufzte. Dann küsste sie ihr Kind und zog die Kleider der Kleinen gerade.

Schließlich saß die gesamte Reisegesellschaft im Sattel. Kristin ritt auf Morvin, der früher das Reitpferd des Vaters gewesen war; er war alt, klug und zuverlässig. Ragnfrid reichte ihrem Gatten den Silberbecher mit der letzten Stärkung hinauf, legte ihrer Tochter eine Hand aufs Knie und bat sie, sich an alles zu erinnern, was die Mutter ihr eingeschärft hatte.

In der Morgendämmerung ritten sie vom Hof. Der Nebel lag milchweiß über dem Dorf. Aber nach einer Weile begann er sich nach und nach zu lichten, und schließlich sickerte Sonnenschein hindurch, und von Tau triefendnasse grüne Wiesen und weiße Stoppelfelder und gelbe Bäume und Ebereschen mit glitzernden, roten Beeren leuchteten durch das helle Nebelmeer. Die Berghänge schimmerten blau und lösten sich aus Dunst und Dampf – und dann riss der Nebel auf und trieb in Schwaden durch das Tal, und sie ritten im herrlichsten Sonnenschein bergab, Kristin ganz vorn in der Schar, an der Seite ihres Vaters.

Sie trafen an einem düsteren, regnerischen Abend in Hamar ein. Kristin saß vorn auf dem Sattel ihres Vaters, denn sie war so müde, und vor ihren Augen verschwamm alles – der See, der rechts von ihnen bleich schimmerte, und die dunklen Bäume, von denen es auf sie herabtropfte, wenn sie darunter hindurch ritten, und die schwarzen, undeutlichen Häusergruppen an den farblosen, nassen Feldern am Wegesrand.

Sie zählte inzwischen die Tage nicht mehr – sie hatte das Gefühl, schon seit einer Ewigkeit unterwegs zu sein. Auf dem Weg durch das Tal hatten sie Freunde und Verwandte besucht; sie hatte Kinder auf großen Höfen kennengelernt und in fremden Stuben, Scheunen und auf Hofplätzen gespielt, und oftmals hatte sie das rote Seidenkleid mit den Seidenärmeln getragen. Tagsüber hatten sie am Wegesrand Rast gemacht, wenn das Wetter schön gewesen war; Arne hatte für sie Nüsse gepflückt, und nach dem Essen hatte sie auf den Ledersäcken schlafen dürfen, die ihre Kleider enthielten. Auf einem Hof hatten sie in einem Bett mit Kissenbezügen aus Seide geschlafen, eine andere Nacht hatten sie in einer Herberge verbracht, und dort hatte in einem der anderen Betten eine Frau leise und jammervoll geweint, wann immer Kristin wach geworden war. Doch jede Nacht hatte sie sicher und geborgen hinter dem breiten, warmen Rücken ihres Vaters gelegen.

Kristin fuhr aus dem Schlaf hoch – sie wusste nicht, wo sie war, aber das seltsam klingende und dröhnende Geräusch, das sie im Traum gehört hatte, hielt an. Sie lag allein in einem Bett, und in dem Raum, in dem dieses Bett stand, brannte ein Feuer in der Herdstätte. Sie rief nach ihrem Vater, und er erhob sich von dem Feuer, an dem er gesessen hatte, und kam zusammen mit einer dicken Frau zum Bett.

»Wo sind wir?«, fragte sie, und Lavrans lachte und sagte:

»Wir sind jetzt in Hamar, und das hier ist Margret, die Frau von Fartein Sutare – sag ihr jetzt höflich guten Tag, du hast ja geschlafen, als wir hier eingetroffen sind. Und jetzt wird Margret dir beim Anziehen helfen.«

»Ist denn schon Morgen?«, fragte Kristin. »Ich dachte, du wolltest ins Bett kommen. Ach, bitte, hilf du mir doch«, bat sie, aber Lavrans sagte in strengem Ton, sie solle sich lieber bei Margret bedanken, weil die ihr helfen wolle. »Und sieh mal, was sie dir schenken will!«

Es war ein Paar roter Schuhe mit Seidenriemen. Die Frau lächelte über Kristins glückliches Gesicht und zog ihr im Bett Hemd und Strümpfe an, damit sie nicht barfuß auf den Lehmboden treten müsste.

»Was klingt denn da so?«, fragte Kristin. »Wie eine Kirchenglocke, nur eben wie viele?«

»Ja, das sind unsere Glocken«, lachte Margret. »Hast du nicht von dem großen Münster hier in der Stadt gehört? Dahin gehst du ja gleich. Da wird mit der großen Glocke geläutet. Und außerdem hörst du die Glocken des Klosters und der Kreuzkirche.«

Margret bestrich ein Stück Brot dick mit Butter und gab ihr Honig in die Milch, weil das schneller satt machte – sie hatten ja kaum Zeit zum Essen.

Draußen war es noch dunkel, und es hatte gefroren. Der Nebel war so kalt, dass er Kristin in die Haut schnitt. Die Spuren von Volk und Vieh und Hufschlägen waren wie in Eisen gegossen, und einmal trat sie durch die Eiskruste mitten in der Gasse in eine Pfütze, und ihre Füße wurden nass und kalt. Da nahm Lavrans sie auf den Rücken und trug sie. Sie kniff in der Dunkelheit die Augen zusammen, aber sie konnte deshalb kaum mehr von der Stadt sehen – sie ahnte schwarze Hausgiebel und Bäume vor der grauen Luft. Dann erreichten sie eine kleine Wiese, die vor Reif leuchtete, und auf der anderen Seite dieser Wiese entdeckte Kristin ein blassgraues Gebäude, so groß wie ein Berg. Es war von hohen Steinhäusern umgeben, und hier und dort leuchteten Fenster im Mauerwerk. Die Glocken, die eine Weile verstummt waren, läuteten wieder los, und nun war ihr Geläute so klangvoll, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief.

Kristin kam sich vor wie in einem verwunschenen Berg, als sie die Vorhalle der Kirche betraten; kalt und dunkel war es dort. Sie gingen durch eine Tür und wurden empfangen von einem alten, kalten Geruch nach Weihrauch und Wachskerzen. Kristin befand sich einem finsteren und ungeheuer hohen Raum. Sie konnte weder über noch neben sich das Ende der Dunkelheit erkennen, aber weit vorn brannten Kerzen auf einem Altar. Dort stand ein Priester, und der Widerhall seiner Stimme schwebte auf seltsame Weise durch den Raum, wie Flüstern und leiser Atemhauch. Lavrans bekreuzigte sich und das Kind mit Weihwasser, dann gingen sie weiter; obwohl er vorsichtig auftrat, klirrten seine Sporen laut auf dem Steinboden. Sie gingen vorbei an riesigen Steinsäulen, und zwischen den Säulen glaubte sie in kohlschwarze Höhlen zu blicken.

Vor dem Altar beugte der Vater das Knie, und Kristin kniete neben ihm nieder. Inzwischen konnte sie im Dunkeln Einiges erkennen – zwischen den Säulen am Altar funkelten Silber und Gold, aber gerade vor ihnen strahlten die Kerzen in ihren vergoldeten Haltern, und dort leuchteten die heiligen Gefäße und das große, prachtvolle Bild dahinter. Wieder musste Kristin an den verwunschenen Berg denken – so hatte sie es sich dort vorgestellt, solche Pracht, aber vielleicht noch mehr Lichterglanz. Und sie sah das Gesicht der Zwergenkönigin vor sich – aber dann hob sie den Blick und erblickte an der Wand über dem Altarbild Christus selbst, groß und streng, hoch oben am Kreuz. Sie bekam es mit der Angst zu tun – er sah nicht mild und traurig aus, wie zu Hause in ihrer eigenen traulichen, holzbraunen Kirche, wo er mit durchbohrten Füßen und Händen schwer an seinen Armen hing und den blutbespritzten Kopf unter der Dornenkrone senkte. Hier stand er auf einem Trittbrett, mit starr ausgestreckten Armen und hocherhobenem Haupt, seine Haare glänzten golden, und er trug eine Goldkrone, hob sein Antlitz und hatte einen abweisenden Blick.

Nun versuchte sie, den Worten des Priesters zu folgen, während er betete und sang, aber er sprach so undeutlich und schnell. Zu Hause konnte sie immer jedes Wort verstehen, denn Sira Eirik hatte eine klare Aussprache, und er hatte ihr erklärt, was die heiligen Worte auf Norwegisch bedeuteten, damit sie in der Kirche ihre Gedanken besser bei Gott behalten könnte. Hier gelang ihr das nicht, denn immer wieder entdeckte sie in der Dunkelheit etwas Neues. Hoch oben in der Wand saßen Fenster, und das Licht dahinter wurde jetzt heller. Und dort, wo sie knieten, war in der Nähe ein seltsames Gerüst aus hölzernen Stangen errichtet worden, dahinter sah sie helle Steinblöcke und Tröge, und Werkzeug stand und lag umher – und nun hörte sie, dass drüben Menschen hin und her liefen. Doch dann fiel ihr Blick wieder auf den strengen Herrn Christus an der Wand, und sie versuchte, an nichts anderes zu denken als an den Gottesdienst. Die Eiseskälte des Steinbodens ließ ihre Beine bis zu den Hüften erstarren, und ihre Knie schmerzten. Am Ende aber drehte sich alles vor ihren Augen, so müde war sie.

Nun erhob sich der Vater, die Messe war beendet. Der Priester kam zu ihnen und begrüßte Lavrans. Während die beiden miteinander sprachen, setzte Kristin sich auf eine Stufe, denn das hatte auch der Messdiener getan. Er gähnte – und nun musste sie ebenfalls gähnen. Als er merkte, dass sie ihn ansah, bohrte er die Zunge in die Wange und verdrehte die Augen. Danach zog er einen Beutel unter seinen Kleidern hervor und schüttelte alles, was darin war, auf die Steine – Angelhaken, Bleiklumpen, Lederriemen und zwei Würfel, und die ganze Zeit schnitt er für Kristin Grimassen. Sie staunte sehr darüber.

Schließlich schauten der Priester und der Vater zu den Kindern hinüber. Der Priester lachte und sagte dem Jungen, er solle zurück zur Schule gehen, Lavrans aber runzelte die Stirn und nahm Kristin an die Hand.

In der Kirche wurde es jetzt heller. Kristin hing schlaftrunken an der Hand ihres Vaters, während Lavrans und der Priester unter das hölzerne Gerüst traten und über Bischof Ingjalds Baupläne sprachen. Sie wanderten durch die ganze Kirche, und am Ende betraten sie die Vorhalle. Von dort führte eine Steintreppe hinaus in den westlichen Turm. Kristin schleppte sich müde die Stufen hinauf. Der Priester öffnete eine Tür zu einer wunderschönen Kapelle, aber dann sagte Lavrans, Kristin solle sich draußen auf die Treppe setzen und warten, während er drinnen die Beichte ablegte, danach dürfe sie hereinkommen und den Schrein des Heiligen Thomas küssen.

In diesem Moment kam ein Mönch in einer aschgrauen Kutte aus der Kapelle. Er blieb einen Moment lang stehen, lächelte dem Kind zu und zog dann einige Säcke und Friestücher aus einem Loch in der Mauer, die er auf dem Treppenabsatz ausbreitete:

»Setz dich darauf, dann frierst du nicht so«, sagte er und stapfte auf seinen nackten Füßen die Treppe hinunter.

Kristin schlief, als Herr Martein, wie der Priester hieß, herauskam und ihr die Hand auf die Schulter legte. Aus der Kirche unten erklang wunderschöner Gesang, und in der Kapelle brannten Kerzen auf einem Altar. Der Priester winkte ihr, neben dem Vater niederzuknien, dann nahm er einen kleinen, goldenen Schrein vom Altartisch und flüsterte ihr zu, darin liege ein Stück des blutigen Gewandes von Sankt Thomas von Kanterborg. Er wies auf die Gestalt des Heiligen, damit Kristin ihre Lippen auf dessen Füße pressen konnte.

Die wunderschönen Klänge strömten aus der Kirche, als sie nach unten kamen; Herr Martein sagte, der Orgelmeister übe, und der Knabenchor singe; aber sie hatten jetzt keine Zeit, ihnen zuzuhören, denn Lavrans war hungrig; er hatte vor der Beichte gefastet. Nun würden sie in die Gaststube der Domherren gehen und dort etwas zu essen bekommen.